Bonner Aufruf
 
 
 
  
 

Entwicklungshemmende afrikanische Werte?

Rainer Gruszczynski hat im Blog von "der Freitag" am 14.7.17 einen Artikel zu diesem Thema geschrieben (siehe unten oder auch unter
http://www.bonner-aufruf.eu/index.php?seite=neues&ref=2529#neues_2529)

Ist seine Darstellung zutreffend? Welche Folgerungen der EZ müssten daraus gezogen werden?
Sie können Ihre Meinung weiter unten eintragen, am Ende des Artikels.


Werte, Leadership, Entwicklung in Afrika

Entwicklungshilfe scheitert, weil afrikanische Werte kaum berücksichtigt werden. Das geht nur mit integren Führern, die sich von Entwicklungshilfe unabhängig machen.

Ein Blog-Beitrag von Freitag-Community-Mitglied COTRANGA

Erfolge der seit den 1960er Jahren geleisteten Entwicklungshilfe in und für Afrika sind bis heute sehr überschaubar geblieben. Darin sind sich die Fachleute ebenso einig wie bei der Feststellung, dass dafür insbesondere Korruption und Betrug der dortigen Eliten verantwortlich sind. Einige Kritiker der Entwicklungshilfe aber – darunter in Deutschland die Entwicklungspraktiker Danner (2012) und Haushalter (2010) - geben darüber hinaus noch zu bedenken, dass die Afrika gewährten Leistungen dort deshalb nur wenig fruchten, weil sie auf Konzepten beruhen, mit denen überwiegend westliche Werte in die afrikanische Kultur transportiert werden und die afrikanisches Denken nur unzureichend berücksichtigen. Ganz in diesem Sinne äußern sich auch afrikanische Fachleute, gegenwärtig z.B. der senegalesische Wirtschaftswissenschaftler Felwine Sarr. Es könne nicht angehen, dass Afrika die Geschichte des Westens nur „reproduziert“. Stattdessen müssten die Afrikaner ihre Kultur „neu erfinden“, und zwar unter deutlicher Berücksichtigung ihrer präkolonialen Werte. Darüber hinaus lehnt er in seinem Buch Afrotopia (2016) sogar den westlichen Begriff „Entwicklung“ für Afrika ab, weil er die afrikanische Kultur diskriminiere.

Die traditionellen afrikanischen Werte wurden einer breiten Öffentlichkeit in der jüngeren Vergangenheit vor allem unter dem Begriff Ubuntu bekannt gemacht. Die Bezeichnung Ubuntu stammt aus dem südafrikanischen Sprachenraum, und sie steht für eine Philosophie des Teilens, des Gemeinsinns, der praktizierten Menschlichkeit, aber auch des Vorrangs des Spirituellen vor dem Materiellen und des Respekts vor der Natur. In der Bewegung der Anti-Apartheid in Südafrika und später dann in der Politik der nationalen Einheit fand Ubuntu vor allem in Nelson Mandela und Desmond Tutu prominente Fürsprecher. Sie verbanden damit die Hoffnung, das Land am Kap befrieden zu können, ja, eine „Regenbogennation“ entstehen zu lassen.

Hervorzuheben ist aber, dass die von Ubuntu verkörperten Werte, Haltungen und Einstellungen keineswegs nur in Südafrika beheimatet sind, sondern, wie z.B. Etounga-Manguelle (2000) unterstreicht, in ganz Subsahara und in vielerlei Hinsicht ebenfalls im Norden Afrikas. Sie beruhen auf einem über Jahrhunderte tradierten gemeinsamen geistigen Fundament. Darauf bezog sich in den 1990er Jahren auch Thabo Mbeki, der Nachfolger von Mandela im Amt des südafrikanischen Präsidenten, als er die Forderung nach einer afrikanischen Renaissance an die Eliten des Kontinents richtete, im Zuge derer traditionellen afrikanischen Werten in allen Ländern Afrikas auch wieder mehr Geltung zukommen müsse. - Seitdem wünschen sich viele Afrikaner, dass der humanistisch-ökologische Ansatz ihrer aus präkolonialen Zeiten tradierten Ethik den Weg bereitet für eine Entwicklung auf ihrem Kontinent, die seine Bürger zu Gestaltern ihres Schicksals macht, statt sie als Opfer ihrer Geschichte und eines „humanitären Kolonialismus“ (Perry, 2015) erscheinen zu lassen.

Einen überragenden Einfluss auf die Entwicklung des afrikanischen Kontinents hat dort der Wert „Gemeinschaft“. Anders als im Westen, wo die Förderung und Entfaltung des Individuums im Mittelpunkt seiner Sozialisation stehen, hat im Denken und Handeln von Afrikanern der Einzelne weniger als Person Bedeutung denn als Mitglied von Familie, Dorf, Clan oder Ethnie. Diesen Systemen ist er ein Leben lang durch Treuepflichten verbunden, weil sie – gemäß traditioneller Auffassung - erst einen vollwertigen Menschen aus ihm gemacht haben. Im Gegenzug fühlt der Einzelne sich daher verpflichtet, seine individuellen Rechte den kollektiven Rechten ein Leben lang unterzuordnen. Solche systemischen Konstellationen haben sich in der afrikanischen Geschichte durchaus bewährt, weil die dem Individuum übergeordneten Gruppen – Familie, Clan, Dorf – sein Überleben erleichtert haben. Und sie tun dies noch immer. Aber auch in umgekehrter Richtung funktioniert das System. Denn afrikanische Migranten, selbst wenn sie im Ausland nur auf Sozialhilfeniveau leben, schicken beispielsweise in einer Größenordnung, die den Umfang der Entwicklungshilfe für ganz Afrika übertrifft, regelmäßig Geld an ihre Verwandten oder an ihr Heimatdorf. Und sie tun das nicht nur, um ihnen dafür zu danken, dass diese ihnen z.B. die Flucht finanziert haben, sondern weil sie sich weiterhin als Teil ihrer Ursprungsgemeinschaft fühlen, von der sie erwarten, dass diese sie – unter Mithilfe der gemeinsamen Ahnen! - auch in Zukunft schützt. Und von der sie, über den Tod hinaus, ein Teil bleiben wollen.

Dieses Gefühl der Verbundenheit, der Verpflichtung und Dankbarkeit des Einzelnen gegenüber einer höherwertigen Gemeinschaft, ist zwar ein wertvoller Teil der humanistischen DNA in Subsahara. So zu denken, zu empfinden und zu handeln birgt aber auch gravierende Nachteile. Denn dadurch wird es fast unmöglich für Afrikaner, die in Wirtschaft, Politik oder Verwaltung ihres Heimatlandes Einkommen erzielen, sich den Forderungen von Mitgliedern ihrer Großfamilie oder ihres Dorfes nach Unterstützung zu entziehen. Diese bitten den materiell bessergestellten „Nächsten“ immer wieder nachdrücklich darum, seinen „Reichtum“ mit ihnen zu teilen (Distributionspflicht). Oder sie verlangen von ihm, wenn dieser als Unternehmer tätig ist, Angehörige seiner erweiterten Familie einzustellen. Einstellungskriterium ist dabei aber nicht etwa die Qualifikation des Bewerbers, sondern dessen Beziehung zum Chef. In dieser Vetternwirtschaft können Unternehmer einmal eingestellte Angehörige nicht oder nur unter großen Schwierigkeiten entlassen, selbst wenn diese sich als unfähig oder sogar als unwillig erwiesen haben, die ihnen übertragenen Aufgaben zu erledigen. Der Druck ihrer Herkunftsgemeinschaft, der sich Einzelne, selbst wenn sie rational handelnde Unternehmer sind, ein Leben lang verbunden fühlen, ist gewaltig. Und sie fühlen sich oft außerstande, ihm standzuhalten. Auf diese Weise wird es afrikanischen Existenzgründern sehr erschwert, das für Sicherung oder gar Wachstum seines Unternehmens erforderliche Kapital anzusammeln. Viele Unternehmensgründer sehen sich daher gezwungen, ihre Heimatregion zu verlassen, um dem Druck und dem wirtschaftlichen Misserfolg zu entkommen. Bartholomäus Grill (2005) bezeichnete diese Art von Wachstumsbremse als „afrikanische Krankheit“.

Verschärft wird dieses Problem noch dadurch, dass oft Neid von Mitgliedern der Großfamilie auf den erfolgreichen „Nächsten“ dessen Erfolg – und damit auch die Entstehung einer Mittelklasse! – bremst. Wer nicht abgibt, dem droht Verhexung. Die Angst davor ist weit verbreitet. Selbst bei erfolgreichen gebildeten Menschen, die in den Städten leben. Daher ist, wie Danner hervorhebt, die in der „Ökonomie der Witchcraft“ verbreitete Redensart: „Man köpft, was zu schnell wächst“ durchaus ernst zu nehmen.

Jedoch nicht nur in Unternehmen und auf unteren und mittleren gesellschaftlichen Ebenen findet man dieses Problem. Auch in den Spitzen von Politik und Verwaltung steht in Afrika eine durch die Tradition begünstigte fehlgeleitete Solidarität regelmäßig Pate bei dem Phänomen von Nepotismus und Klientelpolitik. Minister müssen oft einen ganzen Clan mit Wohltaten bedienen. Die Produktivität in Regierung, Verwaltung und Wirtschaft, ja, die demokratischen Institutionen eines afrikanischen Landes insgesamt, werden dadurch enorm belastet. Immer mal wieder wird auch bekannt, dass sich Minister einer Regierung gegenseitig in ihrer Arbeit allein deshalb blockieren, weil sie sich verschiedenen Ethnien zugehörig fühlen. Oder es zeigt sich, dass eine Regierung allein deswegen aufgebläht wird, damit die verschiedenen Ethnien repräsentiert und deren Interessen ausbalanciert werden können. Kürzlich hat Volker Seitz darauf hingewiesen, dass die gegenwärtige Regierung in Ghana, das immerhin als afrikanisches Musterland gilt, im Jahre 2017 z.B. 110 Minister umfasst, die nicht nur gut bezahlt werden, sondern denen auch jeweils zwei Dienstwagen sowie eine Dienstvilla mit dem dazugehörigen Personal kostenlos zur Verfügung stehen.

Noch kritischer aber ist zu bewerten, dass in afrikanischen Staaten Subsysteme wie Dörfer oder auch Ethnien, die in ihrem Inneren zwar von einer bemerkenswerten Solidarität geprägt sein mögen, sich nach außen sehr oft deutlich von fremden Gemeinschaften abgrenzen. Das diesem Verhalten zugrunde liegende verengte Verständnis von Identität kann zu Fremdenfeindlichkeit bis hin zu Stammesfehden oder Bürgerkriegen führen. Aber auch auf einem weniger aggressiven Niveau erweist sich diese Haltung als höchst problematisch, weil in Afrika – wie oben beschrieben - Loyalitäten gegenüber Freunden und Angehörigen der erweiterten Familie oder der gleichen Ethnie sehr häufig schwerer wiegen als Loyalitäten gegenüber vernunftbegründeten Erfordernissen. Noch einmal gesteigert wird dieses Entwicklungshindernis, wenn die Erfordernisse von „Fremden“ vertreten werden, von Weißen gar, die aus einer anderen Welt kommen.

Darüber hinaus begünstigt das verengte Verständnis von Identität die Praxis, Tätern nach kriminellen Handlungen Straffreiheit zu gewähren. Denn diese Haltung ist keineswegs nur der in der afrikanischen Kultur auffälligen Scheu vor Konflikten zuzuordnen. Dabei spielt vor allem eine Rolle, dass der Beschuldigte, schon weil er Mitglied einer Gemeinschaft ist, von dieser in Schutz genommen wird. Sie solidarisiert sich mit ihrem „Bruder“ (oder ihrer „Schwester“) allein deswegen, weil sie sich mit dem Beschuldigten identifiziert und sich folglich selbst ebenfalls beschuldigt sieht.

Wenn sich eine Kultur der Vergebung nach dem Ende der Apartheid in Südafrika oder in der Zeit nach dem Völkermord in Ruanda in der Arbeit von Wahrheitskommissionen ausdrückt, mag das zur Befriedung der Gesellschaft beitragen. „Trotzdem“ – so gibt der kamerunische Philosoph Achille Mbembe in einer kenntnisreichen Analyse des postkolonialen Afrika (2010) zu bedenken – „kann die Sorge um Versöhnung allein die radikale Forderung nach Gerechtigkeit nicht ersetzen.“ - Aber gilt diese Aussage unter dem Blickwinkel wirtschaftlichen Fortschritts nicht ebenso für „normale“ kriminelle Handlungen? Ist es nicht ein falsches Signal an die Täter und an die gesamte Gesellschaft, wenn Korruption und Betrug ungeahndet bleiben?

Fragen dieser Art stellen sich insbesondere dann, wenn die Täter Politiker oder Angehörige anderer Eliten sind, denen Betrug und Korruption in großem Stil nachgewiesen worden ist. Der gegenwärtige Präsident von Südafrika, Jacob Zuma, der vor Kurzem noch, als ihm Korruption vorgeworfen wurde, öffentlich darauf hingewiesen hat, dass diese Praxis Teil der afrikanischen Kultur sei, konnte bisher jedenfalls persönlich von dieser Einstellung ungestraft profitieren. Und auch andere afrikanische Politiker – darunter Kleptokraten und Diktatoren vom Schlage eines Mugabe – haben von ihren Kollegen in der Afrikanischen Union nichts für sie Nachteiliges zu erwarten, denn: „Dein Bruder ist dein Bruder, selbst wenn er stinkt“ (zit. nach Danner, 2012).

Leider tolerieren inzwischen auch viele westliche Geberorganisationen die Praxis der Straffreiheit: So wurde z.B. vor einigen Jahren der Fall bekannt, dass sich ein tansanischer Bischof des Betrugs schuldig gemacht hatte, indem er von der schweizerischen Kirche empfangene Hilfsgelder in einem erheblichen Umfang für private Zwecke verwendet hatte. Die Schweizer Kirche verzichtete auf eine Strafverfolgung mit der Begründung, dass der Bischof viele Bittsteller aus dem Kreis seiner Großfamilie zu versorgen hätte. Ähnlich verhalten sich auch große und kleine „humanitäre“ Organisationen in den Geberländern und stützen auf diese Weise ein Entwicklung konterkarierendes Verhalten bei den Empfängern.

Auch wenn die vorgenannten Probleme ihren Ursprung haben im traditionellen afrikanischen Denken, berechtigt ihre Schilderung nicht dazu, die ihm zugrunde liegende Philosophie insgesamt in Frage zu stellen. Allenfalls einer „Romantisierung“ (Fröchtling, 2012) traditioneller afrikanischer Wertesysteme - Ubuntu und afrikanische Renaissance eingeschlossen - wie sie heute sogar im Westen betrieben wird, soll mit den Hinweisen auf ihre Schattenseiten entgegengetreten werden. Unbedingt zu fragen ist allerdings, ob die tradierten Werte und Verhaltensweisen kompatibel sind mit einer Entwicklung, wie sie vom Westen für Afrika propagiert und als „Modell“ vorgelebt wird, bzw. ob eine Entwicklung nach westlichem Vorbild für afrikanische Bevölkerungen überhaupt deren Wünschen entspricht. Und auch wenn Afrikaner die Entwicklung ihrer Länder in die eigenen Hände nähmen, müssten sie klären, welche Rolle ihre Traditionen dabei spielen könnten und welchen Preis sie ggf. zu zahlen bereit wären, wenn sie denn einen westlichen Entwicklungsstandard erreichen wollten.

Den Antworten auf solche Fragen müsste in Afrika ein Diskurs in Gesellschaft, Politik und Wirtschaft des jeweiligen Landes vorausgehen, in dem die Alternativen mit ihren Konsequenzen für die Betroffenen aufgezeigt werden. Zumal es um die Infragestellung oder Relativierung von in Afrika allgemein anerkannten Werten geht. Wenn man die Bevölkerung dabei mitnehmen wollte – und das ist unerlässlich, wenn man politische und gesellschaftliche Veränderungen umsetzen will - müsste darum öffentlich gerungen werden. Auch unter dem Palaverbaum, wie es bereits im demokratischen Botswana von der Politik nicht nur gewünscht, sondern in den Dörfern sogar schon praktiziert wird.

An dieser Stelle wird deutlich, dass Entwicklung eben nicht nur ein technisch-wirtschaftliches Problem ist, wie es westliche „Experten“ oft glauben machen wollen, sondern ein gesellschaftspolitisches Projekt. Dabei muss allen Beteiligten klar sein: Entwicklung ohne Kollateralschäden gibt es nicht! Auch in den reichen Ländern haben Industrialisierung und kapitalistische Wirtschaftsweise ihren Preis gefordert. Denn auch dort haben sie einen Wertewandel beschleunigt und das Leben der Bürger in den Familien und anderen sozialen Systemen - in Beruf und Freizeit, in Politik und Wirtschaft - grundlegend verändert und zu teilweise schmerzlichen Verwerfungen geführt. Man denke einmal - um nur einige Beispiele aus dem europäischen Kontext zu nennen - an die Emanzipation der Frau und die damit verbundene Veränderung der Rollen von Männern in Familie und Öffentlichkeit, an die Verlagerung oder den Abbau von Autoritäten, an die Anonymität in den Städten, an die ökologischen Probleme, an die Stärkung individueller oder demokratisch gewählter Entscheider zu Lasten von Familien und Obrigkeit, an die Vergesellschaftung individueller Pflichten gegenüber Alten und Kranken, an die Zunahme von Kriminalität, wenn traditionelle gesellschaftliche, verhaltensregulierende Strukturen – Dörfer, Gemeinschaften - geschwächt werden, an den Stress am Arbeitsplatz, an die Veränderung der Erziehung in Familien und Institutionen undundund…

Solche oder ähnliche, die Lebenspraxis berührenden Veränderungen können – nach Diskussion zwischen den Betroffenen - nur innerafrikanisch herbeigeführt werden. Daher lohnt es sich, daran zu erinnern, was der erste Präsident von Tansania, Julius Nyerere, schon vor einem halben Jahrhundert seinem Kontinent und den „Helfern“ Afrikas ins Stammbuch geschrieben hat: „Menschen und Länder können nicht von außen entwickelt werden. Sie können sich nur selbst entwickeln.“ Das aber bedeutet: Fachleute für die Entwicklung müssten aus den betroffenen Ländern und Regionen selbst kommen. Und sie sollten nicht nur für die Formulierung von Zielen und Maßnahmen zuständig sein. Sie müssten – das darf nicht unterschlagen werden – die Ergebnisse ihrer Bemühungen, Misserfolge eingeschlossen, vor den Menschen dort auch verantworten.

Wenn afrikanischen Regierungen diese Herausforderung denn annähmen, könnten sie viel überzeugender, als es „Experten“ aus den reichen industrialisierten Geberländern getan haben, die historisch gewachsenen Leitbilder „ihrer“ Gesellschaften in ihren Konzepten berücksichtigen – „Leitbilder, auf denen jede Entwicklung beruht“ (Danner). Falls es ihnen notwendig erscheint, könnten afrikanische Verantwortliche vor allem viel glaubwürdiger als diese „Experten“ dafür eintreten, dass überlieferte Vorstellungen „ihrer“ Gesellschaft an die Erfordernisse der Gegenwart angepasst werden. Auf diese Weise könnten sie vielleicht sogar dazu beitragen, dass die „Stallwärme“ erhalten bleibt, die Afrikaner von ihren Herkunftsgemeinschaften erwarten und die in westlichen Konzepten verloren zu gehen droht.

Voraussetzung für den Erfolg einer solchen Politik wäre allerdings, dass sie von charismatischen, aber vor allem auch integren Führern vertreten wird, die in einem engen Kontakt zur Bevölkerung ihres Landes stehen. Sie wären dann Modelle für einen grundlegenden, Reformen begünstigenden Mentalitätswechsel in Afrika, weil die Menschen in den Städten und Dörfern ihnen glauben und sich mit ihnen identifizieren könnten. Auf ein Land, das von solchen Führern repräsentiert würde, könnten dessen Bürger sogar stolz sein. Mit anderen Worten: Diese Führer verkörperten das Gegenteil von den gegenwärtig herrschenden sich bereichernden afrikanischen Eliten, denen keiner traut und denen die Armen egal sind.

Identität stiftende Führer dieses Formats waren z.B. Nelson Mandela oder Thomas Sankara, der in Burkina Faso die Korruption vehement bekämpft und selbst noch als Präsident seines Landes ein bescheidenes Leben geführt hat. Auch Julius Nyerere ist hier zu nennen. Führer dieses Formats könnten die Bevölkerungen in Afrika dazu einladen, sich einer Nation zugehörig zu fühlen, der diese sich denn auch verbunden fühlen, weil dort Familie, Dorf und Ethnie ihren geachteten Platz finden. Damit wäre nicht nur eine Erweiterung der Identität von Afrikanern möglich, sondern in der Folge auch ein Ausgleich von Partikularinteressen traditioneller Gemeinschaften zugunsten einer Fokussierung auf nationale Vorhaben erleichtert. Dies wäre auch ein Schritt zur Überwindung der beschriebenen Hemmnisse, die von Großfamilien und anderen sozialen Systemen auf den Einzelnen ausgehen, wenn er sich persönlich und wirtschaftlich entfalten will. Heute zeigt sich ein nationales Wir-Gefühl in afrikanischen Ländern allenfalls, wenn die Fußball-Nationalmannschaft spielt oder wenn dort über das in der Vergangenheit erlittene Unrecht von Sklaverei und Kolonisation gesprochen wird.

Wenn ein integrer Präsident eines afrikanischen Landes jedoch eine glaubwürdige und effiziente Politik für sein Land durchführen wollte, wäre er darauf angewiesen, dass seine Regierungsmannschaft, die Justiz und die öffentliche Verwaltung sich ebenfalls dem Prinzip Integrität verschrieben. Der damit angestoßene Prozess würde jedoch sehr schnell danach verlangen, das Land schrittweise von Entwicklungshilfezuwendungen unabhängig zu machen. Denn ausländische Hilfszahlungen befeuern in Afrika nachweislich Korruption und Betrug in Regierung, Verwaltung, Justiz und Wirtschaft. Und ebenso nachweislich wird deren Effizienz vermindert. Erleichtert werden könnte den Ländern der Ausstieg dadurch, dass er in nur kleinen Schritten erfolgt, sodass Regierung und Verwaltung die Möglichkeit haben, sich schrittweise auf die neue Lage einzustellen. Eine solche Regierung würde den Ausstieg außerdem mit Reformen in Verwaltung, Rechtswesen und Wirtschaft begleiten und damit den Rahmen dafür schaffen, dass – mit Verzögerung zwar - vermehrt Arbeitsplätze und Einkommen schaffende Investitionen ins Land kommen. Von den bisherigen Geberländern könnte dieser Prozess dann z.B. dadurch unterstützt werden, dass sie den Reformern verstärkt technische Hilfen anbieten - wenn diese gewünscht werden – und den Aufbau arbeitsplatzschaffender Joint Ventures massiv fördern.

Dass ein schrittweiser Ausstieg aus der Entwicklungshilfe sinnvoll ist, hat der ansonsten schillernde Präsident Ruandas Paul Kagame bewiesen. Denn innerhalb von 10 Jahren hat Kagame es geschafft, Ruanda zu einer der am stärksten und sichtbar wachsenden Volkswirtschaften Afrikas zu machen. Obwohl bzw. weil er in dieser Zeit den ausländischen Beitrag zum Staatshaushalt von 85% auf 41% gesenkt hat. Breiten wachsenden Wohlstand betrachtet er im Übrigen als einen Weg, die Ruander von Hass und Neid zu befreien, und er verbindet damit die Hoffnung, dass bei Hutus und Tutsi gleichermaßen ein ruandischer Patriotismus entsteht, der die beiden Volksgruppen zum Wohle des ganzen Landes verbindet (vgl. Perry. 2015).

Bereits während der Phase des Auslaufens der Entwicklungshilfe würden Afrikaner eigene Projekte nicht nur selbst finanzieren. Sie würden sie vor allem auch in eigener Verantwortung unter Berücksichtigung ihrer traditionellen Werte vor Ort entwerfen und durchführen können. Und dann schon würden sie vor ihren Steuerzahlern Rechenschaft darüber ablegen müssen. Unter solchen Bedingungen könnte man eher als heute damit rechnen, dass mit vorhandenen Ressourcen auch vernünftig gewirtschaftet wird. In diesem Zusammenhang verdient hervorgehoben zu werden: In der Zeit, als die Zahlungen für Entwicklungshilfe stetig stiegen, verringerte sich das Wachstum in den Empfängerländern; als aber nach dem Ende des Kalten Krieges deutlich weniger Hilfsgelder nach Afrika flossen, begann die Wirtschaftsleistung dort wieder verstärkt zuzunehmen. Das haben der Oxford-Professor Paul Collier (2007) und der Armutsforscher und Nobelpreisträger Angus Deaton (2013) festgestellt. Ein Verzicht auf ausländische Hilfe würde also nicht nur verdeutlichen, dass Entwicklung etwas ist, das im Inneren afrikanischer Länder angestoßen wird. Zusätzlich könnte mit der dadurch möglich gewordenen Verminderung von Korruption und Betrug das Ansehen der Repräsentanten des Staates erhöht und nebenbei auch die Chancen verbessert werden, dass in Regierungsapparat und Justizwesen irgendwann einmal Staats“diener“ ihre Arbeit verrichten. – Das allein wäre doch schon ein Riesenerfolg!

Wenn es solchen Führern auch noch tatsächlich gelänge, wie es Sarr fordert, ihre Bevölkerungen bei der „Neuerfindung der afrikanischen Kultur“ mitzunehmen, wären sie in der Lage, ihre Bürger zu ermutigen, sich als „verantwortliche handelnde Subjekte“ zu entdecken und anzunehmen, die für die Verbesserung der Lebensbedingungen in ihren Ländern selbst zuständig sind. Dadurch könnten sie, so Sarr, ihre Würde wiedergewinnen. Und darüber hinaus könnte dies den Menschen helfen, die während der Kolonisation erfahrene Entfremdung von sich selbst zu überwinden, die Sarr und Mbembe so eindrucksvoll beschreiben. Mehr noch: Damit könnte einem afrikanischen Entwicklungsmodell der Weg geebnet werden, das es afrikanischen Gesellschaften erlauben würde, sich von der tatsächlichen oder imaginierten kulturellen Dominanz des Westens zu lösen, wie der indische Armutsforscher und Nobelpreisträger Amartya Sen (2010) es den Staaten des Südens wünscht. Denn sie hätten die Wahl, sich für das zu entscheiden, was von den westlichen „Errungenschaften“ (Werte, Verhalten, Techniken, Institutionen…) bzw. welche traditionellen Elemente sie beibehalten oder übernehmen möchten, weil diese sich bewährt haben und man mit ihnen auch in einer „neu erfundenen“ Gesellschaft bestehen kann.

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Nachtrag: Dass afrikanische Regierungen sich wie Kagame freiwillig von Entwicklungshilfegeldern unabhängig machen, darf heute bezweifelt werden. Denn wer verzichtet schon freiwillig auf Geschenke, wenn sie ihm – wie im Falle der Entwicklungshilfe – häufig geradezu aufgedrängt werden? Eine entsprechende Initiative müsste daher von den jetzigen Geberländern ausgehen. Dabei wäre ein angekündigter schrittweiser Rückzug des Westens aus den Hilfszahlungen sicher der beste Weg. Aber eine völlige Einstellung der finanziellen Unterstützungen ist nach Deaton (2013), z.B., in absehbarer Zeit nicht zu erwarten. Denn bei ausländischen Zahlungen an afrikanische Länder spielen neben humanitären auch noch andere, entwicklungsfremde Erwägungen eine Rolle, wie z.B. politische Einflussnahme der Geberländer und Sicherung ihres Zugangs zu Rohstoffen über bilaterale Abkommen oder der fehlende Wille in den Organisationen der Entwicklungshilfeindustrie, sich selbst überflüssig zu machen. Deaton schlägt daher als Alternative zur Einstellung der Hilfszahlungen an afrikanische Entwicklungsländer ein Bündel von Maßnahmen vor, die das Ziel verfolgen, den direkten Geldfluss nach Afrika deutlich zu verringern und die dennoch bzw. deswegen die dortigen Volkswirtschaften stärken und den Bevölkerungen zugutekommen. – Interessant ist auch Mbembes Vorschlag, den Straftatbestand „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“ zu erweitern und Regierungen bei schweren Fälle von Korruption und Ausplünderung der natürlichen Ressourcen ihres Landes der internationalen Gerichtsbarkeit zu überantworten. Vielleicht könnte man damit afrikanische Regierungen tatsächlich bewegen, der Veruntreuung von Entwicklungshilfegeldern zu entsagen.

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Seit 2006 arbeitet Rainer Gruszczynski für gemeinnützige Organisationen als Initiator, Begleiter und Kontrolleur von Entwicklungshilfe-Projekten in Westafrika. Im Rahmen seiner Initiative COTRANGA (www.cotranga.de) ebenso wie als Beirat der Social-Business-Stiftung setzter sich heute vor allemfür kreditbasierte Hilfen ein. Rainer Gruszczynski ist Mitglied im BonnerAufruf, einem Zusammenschluss erfahrener Praktiker der Entwicklungshilfe in Afrika aus Wissenschaft, Wirtschaft und Politik, die für einen entschiedenen Kurswechsel in der Entwicklungspolitik eintreten. Darüber hinaus engagiert er sich im Rahmen der Society for International Development, Hamburg (SID).

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Botschafter a.D., 17 Jahre Tätigkeit in Afrika
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