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Beitrag vom 02.05.2023

NZZ

Der Sahel versinkt im blutigen Chaos – und Deutschland zieht sich zurück

In der afrikanischen Schlüsselregion schwindet der Einfluss Europas, das spielt auch Russland in die Karten

Rewert Hoffer, Berlin

Ausgebombte Häuser, die Strassen von Schutt übersät, Menschen, die spärlich gefüllte Taschen und leere Wasserkanister durch die unbefestigten Strassen tragen. Dieser Tage kommen nur wenige Bilder aus der sudanesischen Hauptstadt Khartum. Doch sie dokumentieren das Elend der Zivilbevölkerung, das rücksichtslose Vorgehen der verfeindeten Streitkräfte und einen Zusammenbruch staatlicher Ordnung.

Aus guten Gründen hat die deutsche Regierung daher 190 Staatsbürger in einer gross angelegten Aktion aus dem Land geholt. Fürs Erste sind sie sicher. Doch für die langfristige Sicherheit Deutschlands ist der drohende Bürgerkrieg im Sudan ein schlechtes Zeichen.

Der Sudan grenzt an den Sahel, der seit über zehn Jahren von schleichendem Staatszerfall, Aufständen und Terrorismus heimgesucht wird. Die Länder gehören zu den am wenigsten entwickelten der Welt. Gleichzeitig verlieren Deutschland und Europa an Einfluss in der Region, die eine der hauptsächlichen Transitrouten für die illegale Migration ausmacht. Das Vakuum nutzt unter anderem Russland.

Abzug aus Mali

Im kommenden Jahr zieht die Bundeswehr aus Mali ab, vor drei Wochen wurde der deutsche Botschafter in Tschad ausgewiesen, und nun droht der Sudan im Bürgerkrieg zu versinken. Voraussichtlich werden sich noch mehr verzweifelte Menschen auf den Weg nach Europa machen. Im Auswärtigen Amt ist man sich der heiklen Lage bewusst. Aus deutschen Diplomatenkreisen heisst es: «Wenn der Konflikt im Sudan nicht politisch gelöst wird, ist eine regionale Ausweitung eine reale Gefahr.»

Die Sahelzone erstreckt sich über 7000 Kilometer von der Atlantikküste im Westen bis zum Roten Meer im Osten. Politisch werden meist die Länder Mauretanien, Mali, Niger, Burkina Faso und Tschad dazugerechnet.

Alle Parteien der Mitte in Deutschland haben zugesagt, sich stärker im Sahel zu engagieren. So steht es etwa im Koalitionsvertrag der «Ampel». Und auch die zuvor regierenden Christlichdemokraten hielten vor drei Jahren in einem Positionspapier fest: «Der Sahel ist für die langfristige Sicherheit Europas von zentraler Bedeutung.» Die Region sei der «Schlüssel» für ganz Nord- und Westafrika.

In ihrem Papier forderte die CDU/CSU-Fraktion daher ein «intensiviertes Engagement» Deutschlands in der Region. Geschehen ist seitdem das Gegenteil. «Insgesamt schwindet der Einfluss von Europa und Deutschland im Sahel», sagt Ulf Laessing, Leiter des Regionalprogramms für den Sahel der Konrad-Adenauer-Stiftung. Laessing lebt in der malischen Hauptstadt Bamako. Er hat vor Ort beobachtet, wie die Politik Europas und Deutschlands scheitert.

Vor zwei Wochen reisten Verteidigungsminister Boris Pistorius und Entwicklungsministerin Svenja Schulze nach Mali. Sie wollten das westafrikanische Land noch einmal besuchen, bevor der letzte grosse Auslandseinsatz der Bundeswehr endet. Im Mai 2024 werden die etwa 1100 Soldaten aus dem Norden des Landes abziehen.

Seit sich in Mali 2020 eine Militärregierung an die Macht geputscht hat, ergibt die deutsche Beteiligung an der Uno-Mission Minusma keinen Sinn mehr. Denn die Putschisten erlauben der Bundeswehr keine Drohnenflüge mehr – und genau das war der Auftrag der Deutschen. Militärhilfe bezieht die Regierung jetzt aus Russland. Für Laessing kommt das nicht überraschend. Denn die Europäer verfolgten in Mali immer einen zurückhaltenden Ansatz. «Die malischen Soldaten wurden mit Holzgewehren und Ästen trainiert, man wollte bewusst keine richtigen Waffen einsetzen», sagt der Sahel-Experte. «Das hat Russland ausgenutzt und Waffen geliefert. Die Russen werden hier in Mali dadurch sehr viel ernster genommen.»

Trotz dem Abzug will Deutschland im Land präsent bleiben. Entwicklungsministerin Schulze kündigte nach ihrer Rückkehr eine Sahel-Initiative an. Im Zentrum der Anstrengungen sollen Perspektiven für die sehr junge Bevölkerung stehen: neue Jobs, Bildung, bessere Versorgung mit Trinkwasser. In den letzten vier Jahren hat das Ministerium 420 Millionen Euro für Entwicklungszusammenarbeit in der Region bereitgestellt.

Das ist ein grosser Unterschied zu Russland, das sich auf Zusammenarbeit mit Milizen und Waffenlieferungen beschränkt. Entwicklungsprojekte fördert der Kreml nicht. «Ich vermute, dass es Moskau recht ist, wenn im Sahel Chaos herrscht. Die Flüchtlinge strömen ja nach Europa und nicht nach Russland», sagt Ulf Laessing.

Im Entwicklungsministerium hofft man noch auf eine Einsicht Malis und anderer Staaten: «Partnerschaftliche Zusammenarbeit ist für die Entwicklung der Länder viel erfolgversprechender als die sogenannte russische Sicherheitskooperation mit paramilitärischen Gruppen», sagt ein Sprecher. Ob es allerdings künftig noch Partner für eine Zusammenarbeit geben wird, ist fraglich. Bereits nach dem Abzug der französischen Armee im vergangenen Jahr konnte der Islamische Staat weitere Dörfer im Norden des Landes erobern.

Evakuierung aus dem Sudan

Während die malische Regierung den Norden fast nicht mehr kontrolliert, ist die Lage in der Hauptstadt Bamako stabil. Es ist noch nicht zu einer Situation wie in Khartum gekommen.

Am Montag trommelten Aussenministerin Annalena Baerbock und Verteidigungsminister Pistorius die deutsche Hauptstadtpresse im Auswärtigen Amt zusammen, um über die Evakuierungsmission zu informieren. Die beiden Kabinettsmitglieder verbreiteten vor allem viel Eigenlob. Doch zum Ende der Pressebegegnung fiel ein entlarvender Satz. Baerbock sagte: «Dieser Konflikt kam etwas ‹out of the blue›.»

Die Überraschung der Ministerin kann der Sudan-Experte Gerrit Kurtz nicht nachvollziehen. «Der Konflikt zwischen dem Militär und der RSF-Miliz war bekannt. Es hatten nur alle gehofft, dass er nicht in Gewalt umschlagen würde», sagt der Mitarbeiter der Berliner Denkfabrik Stiftung Wissenschaft und Politik. «Das war offensichtlich eine Fehleinschätzung. Es gab klare Anzeichen, dass sich dieser Konflikt zuspitzte – und die hätte man ernster nehmen müssen.»

Das zeigt: Entweder haben Baerbocks Diplomaten nicht genau genug hingeschaut oder die falschen Schlüsse gezogen. Beide Möglichkeiten deuten darauf hin, dass man im Auswärtigen Amt den Sahel und seine Anrainerstaaten weniger gut kennt, als es nötig wäre.

Auch die Opposition kritisiert die Aussenministerin. Der aussenpolitische Sprecher der Unionsfraktion, Jürgen Hardt, gibt zu, dass eine seriöse politische Prognose der Geschehnisse kaum möglich gewesen sei. «Ich verstehe jedoch nicht, weshalb wir viele Millionen Euro für KI-Preview-Instrumente und Big-Data-Programme in der Krisenfrüherkennung des Auswärtigen Amts ausgeben, wenn am Ende des Tages herauskommt, dass unsere Verbindungen zu den Akteuren vor Ort einfach nicht gut genug waren», sagt Hardt der NZZ.

Im Sudan wiederholt sich ein Muster, das man aus Mali kennt. Nachdem der Westen sein Botschaftspersonal ausgeflogen hat, sieht Russland eine Chance. Laut einem Bericht von CNN soll die paramilitärische Wagner-Gruppe die RSF-Miliz in ihrem Kampf gegen das sudanesische Militär mit Raketen unterstützen. Offiziell will man sich in Berlin nicht zu dem russischen Einfluss in dem Land äussern. Die Hinweise auf russische Waffenlieferungen wurden aber auch im Auswärtigen Amt registriert. Aus Diplomatenkreisen ist zu hören, dass Russland trotz seinem Status als ständiges Mitglied im Uno-Sicherheitsrat kein Interesse daran habe, den Konflikt zu beenden. Denn dieser lenke vom Krieg in der Ukraine ab.

Rauswurf aus Tschad

Dass der sich fortsetzende Konflikt eine destabilisierende Wirkung auf die umliegende Region haben kann, glaubt man nicht nur unter deutschen Diplomaten. Auch die Regierung des Nachbarlandes Tschad sorgt sich darum und schloss zu Beginn des Konflikts die Grenzen. Viele der RSF-Kämpfer stammen aus dem Tschad. Und auch ihr Anführer, General Mohammed Hamdan Daglo, genannt Hemeti, gehört einer ethnischen Gruppe an, die die Bevölkerungsmehrheit in Tschad stellt. Sollte sich der Konflikt im Sudan ausbreiten, dann wahrscheinlich hierhin. Deutschland hat nur wenig Einfluss auf das Geschehen in dem von Armut und Korruption geprägten Land. Im vergangenen Jahr kam es zu Demonstrationen der Opposition, die blutig niedergeschlagen wurden. Viele Diplomaten im Land hatten die Gewalt scharf kritisiert. Einer von ihnen war der deutsche Botschafter, Gordon Kricke. Er musste vor etwa drei Wochen überstürzt das Land verlassen. Die tschadische Militärregierung gab ihm 48 Stunden Zeit, um auszureisen. Als Reaktion wies Deutschland kurz darauf die tschadische Botschafterin aus.

Der Sahel-Experte Ulf Laessing weist auf einen möglichen Strategiewechsel Deutschlands hin, der die Ausweisung Krickes erklären könnte. Die Bundesrepublik habe sich lange an der französischen Position orientiert, die stark auf Stabilität ausgerichtet gewesen sei. Immerhin befindet sich in Tschads Hauptstadt Ndjamena die zweitgrösste Militärbasis Frankreichs in Afrika. Paris arbeitete immer mit allen autoritären Herrschern des Landes eng zusammen.

«Nachdem die Demonstrationen blutig niedergeschlagen worden war, war Deutschland besorgt, dass die massive Unterdrückung der Opposition zu Instabilität führen könnte», sagt Laessing. Die Deutschen hätten daher ihre Kritik weitaus forscher vorgetragen als die westlichen Verbündeten. Der Botschafter Kricke stand für ein Gespräch mit der NZZ nicht zur Verfügung.

Lehren könne man aus dem Rauswurf des Botschafters nicht ziehen, auch Fehler seien keine begangen worden, meint Laessing. «In der tschadischen Bevölkerung wurde die Kritik an der Regierung vonseiten des deutschen Botschafters geschätzt.» Doch die Willkür der autoritären Regierung setzt dem deutschen Gestaltungsspielraum Grenzen.

Hoffnung in Niger

Die Entwicklungen in den Ländern des Sahels geben wenig Anlass zur Hoffnung. Nur in Niger könnte der deutsche und europäische Einfluss momentan noch Früchte tragen. Dort beteiligt sich die Bundeswehr künftig mit bis zu sechzig Soldaten an einer EU-Mission, die Regierung ist prowestlich eingestellt und ist zum wichtigsten Partner Deutschlands in der Region geworden. Am Freitag stimmte der Bundestag dem Auslandseinsatz zu.

Die EU-Mission verfolgt einen anderen Ansatz als etwa jene der Uno in Mali. Die nigrischen Streitkräfte werden durch Spezialkräfte mit richtigen Waffen ausgebildet. Auch soll Niger Waffen aus dem Westen erhalten, damit Russland nicht wieder in die Lücke stösst. Die Regierung verfolgt zudem konkrete Vorhaben, wie sie die Probleme des Landes lösen will. Sie setzt sich beispielsweise dafür ein, dass Mädchen bis zum 18. Lebensjahr zur Schule gehen. So soll die welthöchste Geburtenrate von durchschnittlich knapp sieben Kindern pro Frau gedrückt werden.

Auch der CDU-Aussenpolitiker Jürgen Hardt ist der Ansicht, dass sich Deutschlands Engagement im Sahel zurzeit auf Mauretanien und vor allem Niger beschränken sollte. «Diese beiden Staaten nicht nur zu stabilisieren, sondern ihnen auch zu wirtschaftlichem Erfolg zu verhelfen, sollte der Nukleus deutscher und europäischer Sahel-Politik sein.» Ulf Laessing warnt allerdings davor, dass Niger überfordert werden könnte. «Da kommt jetzt sehr viel Geld in ein sehr armes Land, in dem es kaum staatliche oder nichtstaatliche Strukturen gibt, die das sinnvoll verwenden können.»

Es bleibt zu hoffen, dass diese Strukturen sich bald bilden. Denn aufgrund der sich verschlechternden Sicherheitslage und der demografischen Entwicklung werden die Probleme des Sahels immer mehr zu den Problemen Europas.