1. Mikrokredit - nützlich als Kern-Idee, pervertiert als Massenpraxis
Nachstehend zwei Passagen aus neueren Presseveröffentlichungen, die aktuell, kurz und treffend den Stand des Abstiegs der Mikrofinanzbewegung charakterisieren :
Mikrokredit, Wunderwaffe gegen Armut :
"Der globale Siegeszug des Mikrokredits hat mehrere Ursachen. Pionier Muhammad Yunus verbindet Charisma, rhetorisches Geschick, Authentizität und persönliche Integrität. Einen besseren Promoter hätte sich die Bewegung gar nicht wünschen können. Doch wichtiger ist, dass das Mikrokreditwesen wunderbar zu den Wünschen der Entwicklungshilfe-Organisationen passt, ihr Geld loszuwerden.
Heute gibt es sage und schreibe 70.000 Mikrofinanzierungs-Institutionen, ………. quasi jedes Entwicklungshilfeprojekt, das irgendwo auf den Wege gebracht wird, hat eine Mikrofinanzierungs-Komponente. Aber was bringt es wirklich? Die Frage nur zu stellen, grenzt an Häresie.
Das Problem ist der Anspruch, mit dem das Mikrokreditwesen gelabelt und verkauft wird : eine Wunderwaffe gegen die Armut."
(s. Winand von Petersdorff : "Die Propaganda des Muhammad Yunus - Der bengalische Nobelpreisträger ist der Superstar der Entwicklungspolitik. Seine Mikrokredit-Idee hat sich auf der ganzen Welt ausgebreitet. Doch der Erfolg ist zweifelhaft." in : "Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung" vom 26. September 2010)
Mikrokredit, Pervertierung und Korrumpierung der Idee durch Aufstieg zum globalen Massengeschäft :
"Ungefähr zur Zeit der Friedensnobelpreisverleihung an Muhammad Yunus in 2006 begann der weltweite Boom der Branche, der eBay-Gründer Pierre Moidyar förderte mit einer 100-Millionen-Dollar-Spende den Aufbau eines kommerziellen Mikrokreditwesens in armen Ländern. Die Stiftungen von Bill Gates und dem Computerhersteller Dell sprangen mit noch grösseren Summen ein. Bald überholten Finanzriesen wie die Deutsche Bank und Morgan Stanley die Philantropen und legten Investmentfonds für Mikrokredite auf. Die indischen Grossbanken waren ihnen bereits vorausgeeilt. Auf diese Weise entstand in Indien innerhalb weniger Jahre der grösste Mikrokreditmarkt der Welt". Die Folge : "Die Branche hat ihr soziales Prestige mittlerweile eingebüsst". Das Wort von "der Mikrofinanzmafia" macht die Runde.
(s. Georg Blume : "Mikrokredite - Selbstmord einer grossen Idee", in : "Die Zeit" vom 18.11.2010)
Die oben zitierte Entwicklung von Idee und Praxis des Mikrofinanzgeschäfts mit seinen für die Grossverleiher - bisher - traumhaften Wachstums- und Renditechancen ist auch für afrikanische Länder zu beobachten. Allerdings sind dabei die folgenden Besonderheiten und Durchführungs-modalitäten zu beobachten :
ï‚— An die Stelle der privaten Finanzriesen tritt die internationale Kooperation in ihrer vielfachen bi- und multilateralen Form.
ï‚— Die Finanzströme laufen über staatliche oder parastaatliche Strukturen (wozu die meisten der nationalen ONG de facto zu rechnen sind), es sei denn, die Förderung des Mikrofinanzwesens ist Teil eines Projekts oder Programms der Entwicklungszusammenarbeit. An der Spitze dieses Verteilungsapparats steht in der Regel ein Ministerium, in dem die Mikrofinanz-Politik und -Durchführung des Landes ressortiert.
ï‚— Wenn es für die indischen - und die anderen Kleinkredit-Grossfinanziers - zutreffend heisst, dass sie statt wie die Grameen-Bank nach gemeinnützigem Zweck heute nach Profit streben, gilt für den Mikrokreditverwaltungsbereich in afrikanischen Ländern die Feststellung : Die staatlich dominierte Strukturierung und Kontrolle der Kreditvergabe an die Endverbraucher bergen ein strukturell erhöhtes Risiko der Misswirtschaft und persönlichen Bereicherung.
2. Die zwei Richtungen der Fehlentwicklung des Mikrofinanzwesens : der "indische Weg" und die "afrikanische Ausprägung" :
Die zwei vorstehend wiedergegebenen einschlägigen Zitate erinnern an die Entwicklung der Mikrofinanzidee, ihre Institutionalisierung und Globalisierung, ihre Pervertierung weg vom Ziel der Armutsbekämpfung und wirtschaftlichen Entwicklung der Basis hin zur Nutzung als Profitmaschinerie. Das Ganze eindrucksvoll vorgeführt in Indien.
Allerdings : Den "indische" Weg in die Vermassung und Profitorientierung des Mikrokreditwesens ist Afrika (die Beobachtungen hierzu beziehen sich auf das Phänomen in mehreren Ländern Westafrikas, exemplifiziert und besonders gut zu besichtigen anhand des Beispiels der Republik Benin) noch nicht gegangen, eher wohl aus Mangel an Masse.
Der afrikanische Weg in die Mikrofinanzirre ist anders. Er läuft, wie oben angedeutet, über die Institutionalisierung und Strukturierung der Mikrofinanzströme, und zwar auf allen Ebenen der Politik, Verwaltung und letztendlichen Kreditvergabe vor Ort. Der Hic dabei : Alles läuft über staatliche, parastaatliche und ONG-Strukturen. Letztere, das ist leider der Trend, werden bisweilen nicht im Streben nach gemeinnützigem Zweck gegründet, sondern in der stillen Absicht, die Struktur zum eigenen Profit zu nutzen. Promoter solcher Initiativen sind auch im staatlichen Umfeld zu finden.
Als Konsequenz solcher Organisationspolitik stellt sich notwendigerweise die Herauslösung des Instruments "Mikrokredit" aus der individuell-lokal begrenzten und vertrauten Umgebung ein. Zunächst wird das Mikrokreditwesen auf nationaler Ebene zentralisiert. Diese Ebene ist, selbst wenn danach dezentralisiert mittels regionaler und lokaler Antennen oder Organisationen, der sozialen Kontrolle durch die lokalen Nutzer entzogen. Eine solche Kontrolle besteht etwa bei den traditionellen Spargemeinschaften ("tontines"). Die zentral dominierte Organisationsweise ist ein günstiges Biotop, besonders anfällig für die klassischen Akte der Veruntreuung und administrativen Misswirtschaft (s. dazu nachstehenden Beispielsfall), Akte, die sich vertikal, von oben nach unten, durch die das Mikrofinanzwesen bearbeitenden Strukturen ziehen. Auch die nicht minder klassische Praxis der "Kredit"-Vergabe an fiktive Kunden ist beliebt, desgleichen de-facto-Schenkungen an real existierende, verwandtschaftlich, politisch oder ähnlich verbundene Empfänger bei von Anfang an bestehendem Verzicht auf "Kredit"-Eintreibung. All das findet bei dieser Organisationsweise ein schönes Anwendungsfeld. Besonders die politisch indizierte Kredit-Vergabe ist in Vorwahlzeiten sehr geschätzt und verbreitet.
Solcherart organisiert, hat sich in der Republik Benin, aber auch in anderen das Mikrofinanzwesen unter Staatskontrolle ausbauenden Ländern West-Afrikas (vermutlich auch andernorts), eine blühende Institutionenlandschaft gebildet. Innerhalb dieser verteilt und refinanziert das für den Sektor zuständige Ministerium, über einen von ihm kontrollierten Nationalen Mikrokredit-Fonds, die Mikrokredite an die Endverbraucher. Diese Landschaft hat sich seit Erhebung des Mikrofinanzwesens zur Modeentwick-lungsstrategie explosionsartig vermehrt. Sie wächst weiter, wesentlich unter dem Druck der den Sektor tsunamihaft überschwemmenden bi- und multilateralen Finanzierungsangebote. In der Republik Benin existieren in diesem Rahmen derzeit 52 Mikrofinanzinstitutionen. Sie verantworten die Durchführung eines Programms "Mikrokredit für die Ärmsten" im gegenwärtigen Umfang von 39 Milliarden FCFA (Franc de la Communauté Financière Africaine ; Euro-Kurs: 650) für 728.000 Begünstigte. Viele dieser Institutionen funktionieren aufgabengerecht, vielleicht sogar in ihrer Mehrheit. Indes, sie zählen unter sich auch Altorganisationen, die bereits in der Vergangenheit katastrophales Management bewiesen haben. Ein Beispiel unter so manchen : In der Zeit vor 2008 wurden in einem als Organisation konstituierten Förderungsprojekt zur Entwicklung von Kleinunternehmen Mittel unterschlagen in Höhe von mehr als 1,5 Milliarden FCFA, keine Peanuts gemessen am Geschäftsumfang und der - ursprünglich gemeinnützigen - Zielsetzung dieser Art von Institution. Die ergiebigsten angewandten Methoden dabei waren klassisch. Allem voran : Vergabe fiktiver Kredite, dann : Zahlung von Phantasiegehältern an das Führungspersonal, Abrechnung von sachlich nicht gerechtfertigten Dienstreisen (meist ins Ausland) mit entsprechend aufgeblähten Kosten, sowie weitere ähnliche in solchen Fällen geübte Managementgymnastik. Eine Sanktion dieser Vorgänge wurde zwar formal eingeleitet, verlief aber traditionsgemäss im politisch-juristischen Sand. Heute ist die selbe Institution, nach wie vor ohne wirksame Kontrollgarantie und unverändert korruptionsanfällig, eine der emsigsten in der Kleinkreditvergabe (als eine Art "Wolf im Schafspelz", wie es in einer Glosse der lokalen Presse heisst).
Misswirtschaft wie die vorbeschriebene kommt natürlich überall, in allen Ländern und allen Managementkulturen, vor ; sie sollte nicht zu stark verallgemeinert und auf Afrika bezogen werden. Indes, in einem Land wie der Republik Benin erschöpft sie sich lange schon nicht mehr in Einzelfällen, sondern ist strukturtypisch geworden.
3. Der Fall Investment Consultancy and Computing Services (ICC-Services), ONG, oder : "Klein-Madoff" in Benin :
Der folgende Kurzabriss von Gestaltung und Ablauf eines Betrugsunternehmens in Benin à la Madoff/USA fusst auf einem FMI-Bericht vom 24. September 2010, seinen Feststellungen und Einschätzungen, seinen Zahlen. Diesen Bericht zu veranlassen, kam die Regierung nicht mehr umhin angesichts des Schadens, den ihre eigene Verwicklung in dieses Unternehmen sowohl volkswirtschaftlich wie auch bei einfachen Leuten, eigentlich Mikrokreditkandidaten, angerichtet hat. Diese Verwicklung, direkt und indirekt, jedenfalls aber massiv, hatte quasi-regierungsamtlichen Charakter. Sie geschah in zwei Formen : aktiv durch Einlagen von auf Präsidial- und Regierungsniveau engagierten Personen, sowie passiv durch Unterlassen regulativer sanktionierender Massnahmen durch die zuständigen Finanzaufsichtsbehörden. Das Ganze kann füglich die Mutter aller Skandale der Ära des derzeitigen Staatspräsidenten genannt werden. Es hat unter der Bevölkerung erheblichen Protestdruck aufgebaut, stärker als in der an Skandalen nicht armen jüngeren Vergangenheit. Und dieses ist von Bedeutung für die bevorstehende Präsidentschaftswahl.
Die Tatsachen :
Ziel der FMI-Enquête war, "zu verstehen, wie die Urheber des Betrugsunternehmens ICC-Services
ausreichend lange operieren konnten, um einen Schaden des eingetretenen Umfangs anrichten zu können". In der Tat, die fragliche Periode war kurz, aber ergiebig im Einsammeln von Kapital : vom Aktivitätenbeginn Dezember 2008 bis zum - schüchternen - Beginn, Juni 2010, des die illegalen Aktivitäten zu stoppen versuchenden Regierungshandelns. Bis dahin hatte keine der mit Finanzaufsicht und -kontrolle betrauten Regierungsstellen auch nur den kleinsten regulatorischen oder sanktionierenden Finger gerührt. Ausreichende gesetzliche Grundlagen hierzu existierten und waren operationalisierbar. Fast zwei Jahre lang wurde derart das illegale Agieren einer illegalen Finanzinstitution offiziell toleriert - und inoffiziell zum persönlichen Vorteil der ersten Grossanleger genutzt. ICC-Services hat diesen Freiraum ausgeschöpft und ein landesweites bis zur Basis reichendes Vertriebsnetz aufgebaut. In diesem Rahmen operierten Drückerkolonnen bis in Präfekturen, Gemeinden und bäuerliche Basisorganisationen hinein. Mehr noch - und das ist der Skandal im Skandal : Der Staat war nicht nur finanzaufsichtlich untätig, dem "Klein-Madoff"-Unternehmen dadurch den Anschein der Legalität vermittelnd, er hat ihm auch diejenige moralische Autorität verliehen, die letztlich Scharen von Klein- und Kleinstanlegern dazu bewegten, dem Unternehmen ihr bisschen Geld anzuvertrauen. Der Staatspräsident selbst hat die ICC-Services-Führung offiziell empfangen, das Aufhängen seines Photos in den Filialen toleriert, sein Umfeld in Präsidialamt und Ministerien von den wunderbaren Geldvermehrungsfazilitäten des Unternehmens profitieren lassen. Parlamentarier der präsidentennahen Parteien, Minister, Mitglieder der Nomenklatura, alle pflegten sie jedermann sichtbare und sichtbar von der Regierung abgesegnete Kontakte zum Unternehmen.
Das Geschehen um das Phänomen von ICC-Services verlangt, was die Rolle der Regierung angeht, der Korrektheit halber den Hinweis darauf, dass dieser "Dienst" seinen Ursprung hat in der grössten Freikirche Benins, den sog. Chrétiens Célestes. Ein Profiteur in der Sache, selbst Mitglied dieser Kirche und Beauftragter des Innenministeriums für religiöse Fragen, hat im Juli 2010 in der lokalen Presse sein gewundenes mea culpa gemacht : "ICC-Services ist Mitglied des 'Christianisme Céleste' und hat viel Gutes für unsere Brüder getan." und : "Der Verantwortliche von ICC-Services hat sein Betrugsmaschinerie auf regierungsnahe Persönlichkeiten gestützt zwecks Kontakterleichterung mit der Bevölkerung." Diese Genese des ICC-Services-Phänomens im kirchlichen Bereich enthebt die Regierung jedoch in keiner Weise ihrer Verantwortlichkeit für das ganze Desaster. Sie wird allenfalls noch erweitert durch die nicht wahrgenommene, dem Innenminister obliegende verwaltungsrechtliche Aufsicht über die kirchlichen Institutionen. Der Ressortchef, selbst einer der kapitalstärksten persönlichen Nutzniesser des Systems, ist derzeit inhaftiert, eben deswegen. Immerhin.
Die Ergebnisse der "Geschäftstätigkeit" von ICC-Services :
Die Geschäftsidee ist klassisch, einfach und weltweit "bewährt". Der FMI-Bericht erinnert daran als eine sogenannte "Ponzi"-Struktur, ein Kapitalsammelsystem, das auch der Affaire Madoff/USA zur kurzzeitigen Blüte, wenn auch in anderen Dimensionen, verholfen hat. Auf diesem - durchaus nicht neuen - System basiert das in Benin konsequent durchgezogen Szenario mit seinen folgenden Phasen :
ï‚— Zusage einer Zinszahlung von 100 bis 300% ;
ï‚— effektive Zinszahlung in der versprochenen Höhe an die ersten Wellen der (meist Gross-)Anleger (Madoff, der echte, lässt grüssen) ;
ï‚— Marketingkampagne zur Glaubwürdigkeitspflege, u.a.: öffentliche Publizität zur Bestätigung der effektiv erfolgten Zinszahlungen an die ersten Anleger, darunter auch solche aus dem staatsnahen Umfeld ; Benefizkampagnen unter Beteiligung von Regierungsvertretern sowie andere "vertrauensbildende" Aktionen ; der dadurch erzeugte Effekt war :
ï‚— Massenmotivation der einfachen Leute (oft schon selbst Mikrokreditnehmer) zu Klein- und Kleinstanlagen ;
ï‚— Einstellung der Zinszahlungen bei nachlassendem Kapitalzufluss ;
ï‚— Einstellung der Rückzahlung des angelegten Kapitals ;
ï‚— Einstellung der "Geschäftstätigkeit", im Falle Benins von der Verwaltung nur zögernd und lediglich in Gestalt einiger konservierender Massnahmen erzwungen, ausserdem zu spät. Schlimmer noch : Kurz vor Schliessung und in Kenntnis des gesamten Sachverhalts gewährte das Innenministerium der Betrügerführungscrew noch Personenschutz und Waffenbesitzerlaubnis.
Während dieser Zeit erreichte die Höhe des bis zum 03. September 2010 illegal eingesammelten Kapitals den Betrag von 155,6 Milliarden FCFA (der FMI-Bericht vermutet einen weit höheren Betrag, da etliche Anleger sich nicht als Geschädigte geouted haben). Zahl der registrierten Anleger : 150.000. Der Betrag des illegal eingesammelten Kapitals beläuft sich auf 13,2% der Höhe der legalen Depots bei beninischen Banken im gleichen Zeitraum.
Der eingetretene Schaden :
Der durch Nichtrückzahlung des angelegten Kapitals für die Betroffenen eingetretene Schaden beträgt 5% des BNP. Die Regierung hält solches offenbar nur für die Folge einer Moralkrise und allgemeiner Geldgier und tut die ganze Affäre als "épiphénomène" ab (s. Protokoll des Ministerrats vom 03. August 2010). Die Zahl der betrogenen Gläubiger beläuft sich auf 1,7 bis 3,4% der Bevölkerung Benins.
Die Geschädigten lassen sich - unter moralischen Aspekten - in zwei Kategorien einteilen :
(i) Die Kategorie der grossen Anleger der Eingangsphase. Von diesen heisst es im FMI-Bericht
zutreffend : "Diejenigen, die in die illegalen Kapitalsammelstellen eingezahlt haben, tragen eigene Verantwortung für die erlittenen Verluste. Schon der gesunde Menschenverstand legt nahe, dass keine legale wirtschaftliche Tätigkeit es erlaubt, Zinsen bis zu 300% zu erzielen. Ein Teil der Anleger, diejenigen mit den grössten Beträgen, sollten mehr als Komplizen der Betrüger angesehen werden denn als ihre Opfer. Ausserdem konnten diejenigen Anleger, welche ihre Fonds in den illegalen Kapitalsammelstellen während der ersten Monate der Entwicklung des Betrugssystems platziert haben, die überhöhten Zinsen effektiv erzielen, was für manche sogar ihr Anfangskapital überstieg." Zudem gilt für diese Gruppe : "Es ist klar, dass manche Grossanleger wahrscheinlich selbst in die Betrugsmanöver verwickelt waren : Sie haben ihr Kapital just vor Beginn der staatlichen Unterbindungsmassnahmen im Juli 2010 abgezogen." Zur gleichen Kategorie sind auch die Anleger zu rechnen, die öffentliche Gelder zu privatem Zinsgewinn eingezahlt haben. Einer der tollsten Fälle hierbei betrifft die für Studien-stipendien vorgesehenen Mittel des aus dem Staatsbudget alimentierten Studentenwerks (Information entnommen der beninischen Presse sowie einer zuverlässigen Quelle). Der zuständige Minister hat natürlich dementiert, der langjährigen Beobachtung öffentlichen Finanzgebarens zufolge erscheint der Vorgang jedoch wahrscheinlich.
(ii) Die Kategorie der privaten Kleinanleger sowie der Organisationen des informellen, die Wirtschaft wesentlichen finanzierenden Sektors ("tontines", Familie, Gemeinschaften, etc.). Alles Anleger, die "aufgrund der moralischen Kaution, welche präsidentennahe Persönlichkeiten sowie der Name der Präsidentengattin ("Première Dame") dem Betrugsunternehmen verliehen haben, an eine 'gute Operation' glaubten" (Pressezitat aus beninischer Tageszeitung) - und ihr Kapital zu ICC-Services trugen.
Die Anleger der zweiten Kategorie gehören ganz überwiegend zur Zielgruppe der Mikrokreditanbieter, mehr noch, sie hatten bereits einen solchen Kredit. Der FMI-Bericht vermutet lakonisch, dass die bei den illegalen Kapitalsammelstellen eingezahlten Beträge massive Transfers von Guthaben darstellen, die aus Konten des formellen Bankensektors, aber auch der Mikrofinanz stammen. Für die in der Zeit von Dezember 2008 bis Juni 2010 bei Mikrofinanzinstituten deponierten Anlagen nennt der Bericht den Betrag von 52,1 Milliarden FCFA. Ein vermutlich erheblicher Teil dieser Anlagen wurde aus Krediten finanziert, die bereits von Banken oder Institutionen des Mikrokredits gewährt worden waren - und mittels Depot bei ICC-Services ihrem ursprünglichen Kreditzweck entzogen wurden. Eine Zahl nennt der Bericht nicht, befürchtet aber "künftig schwierige Situationen für manche Mikrokreditinstitutionen". Im Klartext : Tausende der ausgegebenen Mikrokredite, zu ICC-Services verschoben und dort verloren, werden nicht mehr bedient. Der Schaden, wenn auch schwer bezifferbar, ist immens, denn : "Das von den illegalen Strukturen eingesammelte Kapital stammt zum grössten Teil aus dem informellen Sektor", hier wieder überwiegend aus der Mikrofinanz. "Die Minderung an Liquidität in diesem für die Wirtschaft essentiellen Sektor, sowie die von einem Grossteil der Bevölkerung erlittenen Verluste könnten eine Verringerung des Binnenverbrauchs provozieren", meint der FMI-Bericht. Der Staatspräsident selbst kam denn auch nicht umhin zu konstatieren : "Die Konsequenzen dieser Betrügerei sind für das nationale Sparaufkommen katastrophal", um dann fortzufahren, unter Verdrängung der Verwicklungen seiner eigenen Regierung in die Sache : "… katastrophal vor allem für unsere durch die Händler von Illusionen missbrauchten Mitbürger" (Zitat aus der Neujahrsbotschaft des Präsidenten an die Nation vom 31. Dezember 2010).
An traurigen Einzelfallbeispielen für die Folgen der ICC-Services-Affäre mangelt es nicht. Sie konnten beispielsweise vom in der Provinz des Landes lebenden Verfasser dieses Vermerks in situ und Echtzeit beobachtet werden : Da ist die Marktfrau, die ihren Stand verkauft ; das Bäuerchen, das sein Land verscherbelt ; das Hirsebierbrau-Kollektiv von Frauen, das seinen Barbestand plündert ; das sprich-wörtliche Mütterchen, das einen 30.000-FCFA-Mikrokredit aufnimmt, um ihn flugs zu ICC-Services zu tragen ; die Muslime, die auf ihren Hammel zum Tabaskifest verzichten mussten, und ungezählte andere Fälle mehr : Alles wurde bei "Klein-Madoff" deponiert und alles ist verloren. Die von der Regierung eingeleitete Registrierungsaktion geschädigter Anleger im Hinblick auf eine Rückzahlung der Einlagen nährt allenfalls Illusionen.
Statt einer Konklusion des Ganzen halte man sich an die lokale Presse, die hierzu bemerkt hat :
"In Wahrheit waren ICC-Services und Konsorten (es gab neben dieser kriminellen Grossorganisation noch vier kleinere Trittbrettfahrerinitiativen dieser Art in Benin, Anm.des Verf.) die eigentlichen Nutzniesser des Mikrokreditprogramms für die Ärmsten, denn diese, gefangen im Netz der Illusionen, sind auch die durch das Betrugssystem am empfindlichsten abgezockten Einzahler."
4. ICC-Services und die internationale Kooperation :
"….. Doch wichtiger ist, dass das Mikrokreditwesen wunderbar zu den Wünschen der Entwicklungshilfe-Organisationen passt, ihr Geld loszuwerden."
Diese schon in den Eingangszitaten enthaltene Erkenntnis sagt mehr aus, als jede - seriöse oder tendenziöse - Studie über Sinn oder Unsinn, Segen oder Schaden der Entwicklungsfinanzierung an Erkenntnissen zu bringen vermag. Es ist der simple Hinweis auf den gegenseitigen Ergänzungszusammenhang zwischen Mittelabflussdruck auf der Geberseite und der Möglichkeit unkontrollierbarer Mittelverwendung auf der Nehmerseite. Und das speziell für diese Wirkungen geschaffene Kind hat einen Namen : Budgethilfe. Und es hat ein günstiges zur umfänglichen Anwendung geeignetes Terrain : den Mikrofinanzsektor. Hier findet eine überbordende Modeerscheinung statt, im Gleichschritt mit der diesen Sektor überflutenden bi- und multilateralen Finanzierung. Ohne Budgethilfe, ob nun als solche deklariert oder Teil einer allgemeinen Entwicklungsfinanzierung, wäre ein Phänomen wie das für Benin geschilderte in dem erlebten Ausmass nicht möglich gewesen, zumindest nicht in der Form der Vergeudung der eigentlich einem Programm "Mikrokredit für die Ärmsten" zugedachten Mittel.
5. Etwas Versöhnliches zum Schluss :
Obiger Vermerk stützt sich auschliesslich (bis auf einen Fall) auf veröffentlichte Quellen, überwiegend auf die Presse, beninische und internationale. In ersterer wurde auch der instruktive FMI-Rapport vom September 2010, der sonst kaum zur allgemeinen Kenntnis gelangt wäre, veröffentlicht. Die solcherart geschaffene Öffentlichkeit und weitgehende Meinungsfreiheit waren im vordemokratischen Benin nicht selbstverständlich, ja sie waren unmöglich, auch gefährlich, wenn versucht. Seit der demokratischen Öffnung ab 1990 hat sich das ziemlich dramatisch geändert, in Richtung Pressefreiheit und -vielfalt sowie bunter Diskussionskultur, oft regierungskritischen und polemischen Inhalts. Zwar bieten Qualität und Professionalität des Journalismus im Lande noch Lücken, besonders in der Sparte des Investigationsjournalismus, der noch recht inkonsequent betrieben wird. Auch ist die Presse stark durchpolitisiert und neigt zu jeweiliger Parteiennähe. Doch allein das breite Spektrum von Tages- und Wochenzeitungen bietet dem Pressekonsumenten den Vorteil einer freien, ziemlich lehrreichen Berichterstattung wie derjenigen über die Affäre ICC-Services. Diese Entwicklung verdient, bei aller inzwischen aufgeblühten Skandalkultur im Lande, hervorgehoben und gewürdigt zu werden.
15.01.2011
Dr. Martin Schneiderfritz
Natitingou, Republik Benin
Wed, 12 Jan 2011 - 09:55
Mikrokredit und "Klein-Madoff" in Benin
1. Mikrokredit - nützlich als Kern-Idee, pervertiert als Massenpraxis
Nachstehend zwei Passagen aus neueren Presseveröffentlichungen, die aktuell, kurz und treffend den Stand des Abstiegs der Mikrofinanzbewegung charakterisieren :
Mikrokredit, Wunderwaffe gegen Armut :
"Der globale Siegeszug des Mikrokredits hat mehrere Ursachen. Pionier Muhammad Yunus verbindet Charisma, rhetorisches Geschick, Authentizität und persönliche Integrität. Einen besseren Promoter hätte sich die Bewegung gar nicht wünschen können. Doch wichtiger ist, dass das Mikrokreditwesen wunderbar zu den Wünschen der Entwicklungshilfe-Organisationen passt, ihr Geld loszuwerden.
Heute gibt es sage und schreibe 70.000 Mikrofinanzierungs-Institutionen, ………. quasi jedes Entwicklungshilfeprojekt, das irgendwo auf den Wege gebracht wird, hat eine Mikrofinanzierungs-Komponente. Aber was bringt es wirklich? Die Frage nur zu stellen, grenzt an Häresie.
Das Problem ist der Anspruch, mit dem das Mikrokreditwesen gelabelt und verkauft wird : eine Wunderwaffe gegen die Armut."
(s. Winand von Petersdorff : "Die Propaganda des Muhammad Yunus - Der bengalische Nobelpreisträger ist der Superstar der Entwicklungspolitik. Seine Mikrokredit-Idee hat sich auf der ganzen Welt ausgebreitet. Doch der Erfolg ist zweifelhaft." in : "Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung" vom 26. September 2010)
Mikrokredit, Pervertierung und Korrumpierung der Idee durch Aufstieg zum globalen Massengeschäft :
"Ungefähr zur Zeit der Friedensnobelpreisverleihung an Muhammad Yunus in 2006 begann der weltweite Boom der Branche, der eBay-Gründer Pierre Moidyar förderte mit einer 100-Millionen-Dollar-Spende den Aufbau eines kommerziellen Mikrokreditwesens in armen Ländern. Die Stiftungen von Bill Gates und dem Computerhersteller Dell sprangen mit noch grösseren Summen ein. Bald überholten Finanzriesen wie die Deutsche Bank und Morgan Stanley die Philantropen und legten Investmentfonds für Mikrokredite auf. Die indischen Grossbanken waren ihnen bereits vorausgeeilt. Auf diese Weise entstand in Indien innerhalb weniger Jahre der grösste Mikrokreditmarkt der Welt". Die Folge : "Die Branche hat ihr soziales Prestige mittlerweile eingebüsst". Das Wort von "der Mikrofinanzmafia" macht die Runde.
(s. Georg Blume : "Mikrokredite - Selbstmord einer grossen Idee", in : "Die Zeit" vom 18.11.2010)
Die oben zitierte Entwicklung von Idee und Praxis des Mikrofinanzgeschäfts mit seinen für die Grossverleiher - bisher - traumhaften Wachstums- und Renditechancen ist auch für afrikanische Länder zu beobachten. Allerdings sind dabei die folgenden Besonderheiten und Durchführungs-modalitäten zu beobachten :
ï‚— An die Stelle der privaten Finanzriesen tritt die internationale Kooperation in ihrer vielfachen bi- und multilateralen Form.
ï‚— Die Finanzströme laufen über staatliche oder parastaatliche Strukturen (wozu die meisten der nationalen ONG de facto zu rechnen sind), es sei denn, die Förderung des Mikrofinanzwesens ist Teil eines Projekts oder Programms der Entwicklungszusammenarbeit. An der Spitze dieses Verteilungsapparats steht in der Regel ein Ministerium, in dem die Mikrofinanz-Politik und -Durchführung des Landes ressortiert.
ï‚— Wenn es für die indischen - und die anderen Kleinkredit-Grossfinanziers - zutreffend heisst, dass sie statt wie die Grameen-Bank nach gemeinnützigem Zweck heute nach Profit streben, gilt für den Mikrokreditverwaltungsbereich in afrikanischen Ländern die Feststellung : Die staatlich dominierte Strukturierung und Kontrolle der Kreditvergabe an die Endverbraucher bergen ein strukturell erhöhtes Risiko der Misswirtschaft und persönlichen Bereicherung.
2. Die zwei Richtungen der Fehlentwicklung des Mikrofinanzwesens : der "indische Weg" und die "afrikanische Ausprägung" :
Die zwei vorstehend wiedergegebenen einschlägigen Zitate erinnern an die Entwicklung der Mikrofinanzidee, ihre Institutionalisierung und Globalisierung, ihre Pervertierung weg vom Ziel der Armutsbekämpfung und wirtschaftlichen Entwicklung der Basis hin zur Nutzung als Profitmaschinerie. Das Ganze eindrucksvoll vorgeführt in Indien.
Allerdings : Den "indische" Weg in die Vermassung und Profitorientierung des Mikrokreditwesens ist Afrika (die Beobachtungen hierzu beziehen sich auf das Phänomen in mehreren Ländern Westafrikas, exemplifiziert und besonders gut zu besichtigen anhand des Beispiels der Republik Benin) noch nicht gegangen, eher wohl aus Mangel an Masse.
Der afrikanische Weg in die Mikrofinanzirre ist anders. Er läuft, wie oben angedeutet, über die Institutionalisierung und Strukturierung der Mikrofinanzströme, und zwar auf allen Ebenen der Politik, Verwaltung und letztendlichen Kreditvergabe vor Ort. Der Hic dabei : Alles läuft über staatliche, parastaatliche und ONG-Strukturen. Letztere, das ist leider der Trend, werden bisweilen nicht im Streben nach gemeinnützigem Zweck gegründet, sondern in der stillen Absicht, die Struktur zum eigenen Profit zu nutzen. Promoter solcher Initiativen sind auch im staatlichen Umfeld zu finden.
Als Konsequenz solcher Organisationspolitik stellt sich notwendigerweise die Herauslösung des Instruments "Mikrokredit" aus der individuell-lokal begrenzten und vertrauten Umgebung ein. Zunächst wird das Mikrokreditwesen auf nationaler Ebene zentralisiert. Diese Ebene ist, selbst wenn danach dezentralisiert mittels regionaler und lokaler Antennen oder Organisationen, der sozialen Kontrolle durch die lokalen Nutzer entzogen. Eine solche Kontrolle besteht etwa bei den traditionellen Spargemeinschaften ("tontines"). Die zentral dominierte Organisationsweise ist ein günstiges Biotop, besonders anfällig für die klassischen Akte der Veruntreuung und administrativen Misswirtschaft (s. dazu nachstehenden Beispielsfall), Akte, die sich vertikal, von oben nach unten, durch die das Mikrofinanzwesen bearbeitenden Strukturen ziehen. Auch die nicht minder klassische Praxis der "Kredit"-Vergabe an fiktive Kunden ist beliebt, desgleichen de-facto-Schenkungen an real existierende, verwandtschaftlich, politisch oder ähnlich verbundene Empfänger bei von Anfang an bestehendem Verzicht auf "Kredit"-Eintreibung. All das findet bei dieser Organisationsweise ein schönes Anwendungsfeld. Besonders die politisch indizierte Kredit-Vergabe ist in Vorwahlzeiten sehr geschätzt und verbreitet.
Solcherart organisiert, hat sich in der Republik Benin, aber auch in anderen das Mikrofinanzwesen unter Staatskontrolle ausbauenden Ländern West-Afrikas (vermutlich auch andernorts), eine blühende Institutionenlandschaft gebildet. Innerhalb dieser verteilt und refinanziert das für den Sektor zuständige Ministerium, über einen von ihm kontrollierten Nationalen Mikrokredit-Fonds, die Mikrokredite an die Endverbraucher. Diese Landschaft hat sich seit Erhebung des Mikrofinanzwesens zur Modeentwick-lungsstrategie explosionsartig vermehrt. Sie wächst weiter, wesentlich unter dem Druck der den Sektor tsunamihaft überschwemmenden bi- und multilateralen Finanzierungsangebote. In der Republik Benin existieren in diesem Rahmen derzeit 52 Mikrofinanzinstitutionen. Sie verantworten die Durchführung eines Programms "Mikrokredit für die Ärmsten" im gegenwärtigen Umfang von 39 Milliarden FCFA (Franc de la Communauté Financière Africaine ; Euro-Kurs: 650) für 728.000 Begünstigte. Viele dieser Institutionen funktionieren aufgabengerecht, vielleicht sogar in ihrer Mehrheit. Indes, sie zählen unter sich auch Altorganisationen, die bereits in der Vergangenheit katastrophales Management bewiesen haben. Ein Beispiel unter so manchen : In der Zeit vor 2008 wurden in einem als Organisation konstituierten Förderungsprojekt zur Entwicklung von Kleinunternehmen Mittel unterschlagen in Höhe von mehr als 1,5 Milliarden FCFA, keine Peanuts gemessen am Geschäftsumfang und der - ursprünglich gemeinnützigen - Zielsetzung dieser Art von Institution. Die ergiebigsten angewandten Methoden dabei waren klassisch. Allem voran : Vergabe fiktiver Kredite, dann : Zahlung von Phantasiegehältern an das Führungspersonal, Abrechnung von sachlich nicht gerechtfertigten Dienstreisen (meist ins Ausland) mit entsprechend aufgeblähten Kosten, sowie weitere ähnliche in solchen Fällen geübte Managementgymnastik. Eine Sanktion dieser Vorgänge wurde zwar formal eingeleitet, verlief aber traditionsgemäss im politisch-juristischen Sand. Heute ist die selbe Institution, nach wie vor ohne wirksame Kontrollgarantie und unverändert korruptionsanfällig, eine der emsigsten in der Kleinkreditvergabe (als eine Art "Wolf im Schafspelz", wie es in einer Glosse der lokalen Presse heisst).
Misswirtschaft wie die vorbeschriebene kommt natürlich überall, in allen Ländern und allen Managementkulturen, vor ; sie sollte nicht zu stark verallgemeinert und auf Afrika bezogen werden. Indes, in einem Land wie der Republik Benin erschöpft sie sich lange schon nicht mehr in Einzelfällen, sondern ist strukturtypisch geworden.
3. Der Fall Investment Consultancy and Computing Services (ICC-Services), ONG, oder : "Klein-Madoff" in Benin :
Der folgende Kurzabriss von Gestaltung und Ablauf eines Betrugsunternehmens in Benin à la Madoff/USA fusst auf einem FMI-Bericht vom 24. September 2010, seinen Feststellungen und Einschätzungen, seinen Zahlen. Diesen Bericht zu veranlassen, kam die Regierung nicht mehr umhin angesichts des Schadens, den ihre eigene Verwicklung in dieses Unternehmen sowohl volkswirtschaftlich wie auch bei einfachen Leuten, eigentlich Mikrokreditkandidaten, angerichtet hat. Diese Verwicklung, direkt und indirekt, jedenfalls aber massiv, hatte quasi-regierungsamtlichen Charakter. Sie geschah in zwei Formen : aktiv durch Einlagen von auf Präsidial- und Regierungsniveau engagierten Personen, sowie passiv durch Unterlassen regulativer sanktionierender Massnahmen durch die zuständigen Finanzaufsichtsbehörden. Das Ganze kann füglich die Mutter aller Skandale der Ära des derzeitigen Staatspräsidenten genannt werden. Es hat unter der Bevölkerung erheblichen Protestdruck aufgebaut, stärker als in der an Skandalen nicht armen jüngeren Vergangenheit. Und dieses ist von Bedeutung für die bevorstehende Präsidentschaftswahl.
Die Tatsachen :
Ziel der FMI-Enquête war, "zu verstehen, wie die Urheber des Betrugsunternehmens ICC-Services
ausreichend lange operieren konnten, um einen Schaden des eingetretenen Umfangs anrichten zu können". In der Tat, die fragliche Periode war kurz, aber ergiebig im Einsammeln von Kapital : vom Aktivitätenbeginn Dezember 2008 bis zum - schüchternen - Beginn, Juni 2010, des die illegalen Aktivitäten zu stoppen versuchenden Regierungshandelns. Bis dahin hatte keine der mit Finanzaufsicht und -kontrolle betrauten Regierungsstellen auch nur den kleinsten regulatorischen oder sanktionierenden Finger gerührt. Ausreichende gesetzliche Grundlagen hierzu existierten und waren operationalisierbar. Fast zwei Jahre lang wurde derart das illegale Agieren einer illegalen Finanzinstitution offiziell toleriert - und inoffiziell zum persönlichen Vorteil der ersten Grossanleger genutzt. ICC-Services hat diesen Freiraum ausgeschöpft und ein landesweites bis zur Basis reichendes Vertriebsnetz aufgebaut. In diesem Rahmen operierten Drückerkolonnen bis in Präfekturen, Gemeinden und bäuerliche Basisorganisationen hinein. Mehr noch - und das ist der Skandal im Skandal : Der Staat war nicht nur finanzaufsichtlich untätig, dem "Klein-Madoff"-Unternehmen dadurch den Anschein der Legalität vermittelnd, er hat ihm auch diejenige moralische Autorität verliehen, die letztlich Scharen von Klein- und Kleinstanlegern dazu bewegten, dem Unternehmen ihr bisschen Geld anzuvertrauen. Der Staatspräsident selbst hat die ICC-Services-Führung offiziell empfangen, das Aufhängen seines Photos in den Filialen toleriert, sein Umfeld in Präsidialamt und Ministerien von den wunderbaren Geldvermehrungsfazilitäten des Unternehmens profitieren lassen. Parlamentarier der präsidentennahen Parteien, Minister, Mitglieder der Nomenklatura, alle pflegten sie jedermann sichtbare und sichtbar von der Regierung abgesegnete Kontakte zum Unternehmen.
Das Geschehen um das Phänomen von ICC-Services verlangt, was die Rolle der Regierung angeht, der Korrektheit halber den Hinweis darauf, dass dieser "Dienst" seinen Ursprung hat in der grössten Freikirche Benins, den sog. Chrétiens Célestes. Ein Profiteur in der Sache, selbst Mitglied dieser Kirche und Beauftragter des Innenministeriums für religiöse Fragen, hat im Juli 2010 in der lokalen Presse sein gewundenes mea culpa gemacht : "ICC-Services ist Mitglied des 'Christianisme Céleste' und hat viel Gutes für unsere Brüder getan." und : "Der Verantwortliche von ICC-Services hat sein Betrugsmaschinerie auf regierungsnahe Persönlichkeiten gestützt zwecks Kontakterleichterung mit der Bevölkerung." Diese Genese des ICC-Services-Phänomens im kirchlichen Bereich enthebt die Regierung jedoch in keiner Weise ihrer Verantwortlichkeit für das ganze Desaster. Sie wird allenfalls noch erweitert durch die nicht wahrgenommene, dem Innenminister obliegende verwaltungsrechtliche Aufsicht über die kirchlichen Institutionen. Der Ressortchef, selbst einer der kapitalstärksten persönlichen Nutzniesser des Systems, ist derzeit inhaftiert, eben deswegen. Immerhin.
Die Ergebnisse der "Geschäftstätigkeit" von ICC-Services :
Die Geschäftsidee ist klassisch, einfach und weltweit "bewährt". Der FMI-Bericht erinnert daran als eine sogenannte "Ponzi"-Struktur, ein Kapitalsammelsystem, das auch der Affaire Madoff/USA zur kurzzeitigen Blüte, wenn auch in anderen Dimensionen, verholfen hat. Auf diesem - durchaus nicht neuen - System basiert das in Benin konsequent durchgezogen Szenario mit seinen folgenden Phasen :
ï‚— Zusage einer Zinszahlung von 100 bis 300% ;
ï‚— effektive Zinszahlung in der versprochenen Höhe an die ersten Wellen der (meist Gross-)Anleger (Madoff, der echte, lässt grüssen) ;
ï‚— Marketingkampagne zur Glaubwürdigkeitspflege, u.a.: öffentliche Publizität zur Bestätigung der effektiv erfolgten Zinszahlungen an die ersten Anleger, darunter auch solche aus dem staatsnahen Umfeld ; Benefizkampagnen unter Beteiligung von Regierungsvertretern sowie andere "vertrauensbildende" Aktionen ; der dadurch erzeugte Effekt war :
ï‚— Massenmotivation der einfachen Leute (oft schon selbst Mikrokreditnehmer) zu Klein- und Kleinstanlagen ;
ï‚— Einstellung der Zinszahlungen bei nachlassendem Kapitalzufluss ;
ï‚— Einstellung der Rückzahlung des angelegten Kapitals ;
ï‚— Einstellung der "Geschäftstätigkeit", im Falle Benins von der Verwaltung nur zögernd und lediglich in Gestalt einiger konservierender Massnahmen erzwungen, ausserdem zu spät. Schlimmer noch : Kurz vor Schliessung und in Kenntnis des gesamten Sachverhalts gewährte das Innenministerium der Betrügerführungscrew noch Personenschutz und Waffenbesitzerlaubnis.
Während dieser Zeit erreichte die Höhe des bis zum 03. September 2010 illegal eingesammelten Kapitals den Betrag von 155,6 Milliarden FCFA (der FMI-Bericht vermutet einen weit höheren Betrag, da etliche Anleger sich nicht als Geschädigte geouted haben). Zahl der registrierten Anleger : 150.000. Der Betrag des illegal eingesammelten Kapitals beläuft sich auf 13,2% der Höhe der legalen Depots bei beninischen Banken im gleichen Zeitraum.
Der eingetretene Schaden :
Der durch Nichtrückzahlung des angelegten Kapitals für die Betroffenen eingetretene Schaden beträgt 5% des BNP. Die Regierung hält solches offenbar nur für die Folge einer Moralkrise und allgemeiner Geldgier und tut die ganze Affäre als "épiphénomène" ab (s. Protokoll des Ministerrats vom 03. August 2010). Die Zahl der betrogenen Gläubiger beläuft sich auf 1,7 bis 3,4% der Bevölkerung Benins.
Die Geschädigten lassen sich - unter moralischen Aspekten - in zwei Kategorien einteilen :
(i) Die Kategorie der grossen Anleger der Eingangsphase. Von diesen heisst es im FMI-Bericht
zutreffend : "Diejenigen, die in die illegalen Kapitalsammelstellen eingezahlt haben, tragen eigene Verantwortung für die erlittenen Verluste. Schon der gesunde Menschenverstand legt nahe, dass keine legale wirtschaftliche Tätigkeit es erlaubt, Zinsen bis zu 300% zu erzielen. Ein Teil der Anleger, diejenigen mit den grössten Beträgen, sollten mehr als Komplizen der Betrüger angesehen werden denn als ihre Opfer. Ausserdem konnten diejenigen Anleger, welche ihre Fonds in den illegalen Kapitalsammelstellen während der ersten Monate der Entwicklung des Betrugssystems platziert haben, die überhöhten Zinsen effektiv erzielen, was für manche sogar ihr Anfangskapital überstieg." Zudem gilt für diese Gruppe : "Es ist klar, dass manche Grossanleger wahrscheinlich selbst in die Betrugsmanöver verwickelt waren : Sie haben ihr Kapital just vor Beginn der staatlichen Unterbindungsmassnahmen im Juli 2010 abgezogen." Zur gleichen Kategorie sind auch die Anleger zu rechnen, die öffentliche Gelder zu privatem Zinsgewinn eingezahlt haben. Einer der tollsten Fälle hierbei betrifft die für Studien-stipendien vorgesehenen Mittel des aus dem Staatsbudget alimentierten Studentenwerks (Information entnommen der beninischen Presse sowie einer zuverlässigen Quelle). Der zuständige Minister hat natürlich dementiert, der langjährigen Beobachtung öffentlichen Finanzgebarens zufolge erscheint der Vorgang jedoch wahrscheinlich.
(ii) Die Kategorie der privaten Kleinanleger sowie der Organisationen des informellen, die Wirtschaft wesentlichen finanzierenden Sektors ("tontines", Familie, Gemeinschaften, etc.). Alles Anleger, die "aufgrund der moralischen Kaution, welche präsidentennahe Persönlichkeiten sowie der Name der Präsidentengattin ("Première Dame") dem Betrugsunternehmen verliehen haben, an eine 'gute Operation' glaubten" (Pressezitat aus beninischer Tageszeitung) - und ihr Kapital zu ICC-Services trugen.
Die Anleger der zweiten Kategorie gehören ganz überwiegend zur Zielgruppe der Mikrokreditanbieter, mehr noch, sie hatten bereits einen solchen Kredit. Der FMI-Bericht vermutet lakonisch, dass die bei den illegalen Kapitalsammelstellen eingezahlten Beträge massive Transfers von Guthaben darstellen, die aus Konten des formellen Bankensektors, aber auch der Mikrofinanz stammen. Für die in der Zeit von Dezember 2008 bis Juni 2010 bei Mikrofinanzinstituten deponierten Anlagen nennt der Bericht den Betrag von 52,1 Milliarden FCFA. Ein vermutlich erheblicher Teil dieser Anlagen wurde aus Krediten finanziert, die bereits von Banken oder Institutionen des Mikrokredits gewährt worden waren - und mittels Depot bei ICC-Services ihrem ursprünglichen Kreditzweck entzogen wurden. Eine Zahl nennt der Bericht nicht, befürchtet aber "künftig schwierige Situationen für manche Mikrokreditinstitutionen". Im Klartext : Tausende der ausgegebenen Mikrokredite, zu ICC-Services verschoben und dort verloren, werden nicht mehr bedient. Der Schaden, wenn auch schwer bezifferbar, ist immens, denn : "Das von den illegalen Strukturen eingesammelte Kapital stammt zum grössten Teil aus dem informellen Sektor", hier wieder überwiegend aus der Mikrofinanz. "Die Minderung an Liquidität in diesem für die Wirtschaft essentiellen Sektor, sowie die von einem Grossteil der Bevölkerung erlittenen Verluste könnten eine Verringerung des Binnenverbrauchs provozieren", meint der FMI-Bericht. Der Staatspräsident selbst kam denn auch nicht umhin zu konstatieren : "Die Konsequenzen dieser Betrügerei sind für das nationale Sparaufkommen katastrophal", um dann fortzufahren, unter Verdrängung der Verwicklungen seiner eigenen Regierung in die Sache : "… katastrophal vor allem für unsere durch die Händler von Illusionen missbrauchten Mitbürger" (Zitat aus der Neujahrsbotschaft des Präsidenten an die Nation vom 31. Dezember 2010).
An traurigen Einzelfallbeispielen für die Folgen der ICC-Services-Affäre mangelt es nicht. Sie konnten beispielsweise vom in der Provinz des Landes lebenden Verfasser dieses Vermerks in situ und Echtzeit beobachtet werden : Da ist die Marktfrau, die ihren Stand verkauft ; das Bäuerchen, das sein Land verscherbelt ; das Hirsebierbrau-Kollektiv von Frauen, das seinen Barbestand plündert ; das sprich-wörtliche Mütterchen, das einen 30.000-FCFA-Mikrokredit aufnimmt, um ihn flugs zu ICC-Services zu tragen ; die Muslime, die auf ihren Hammel zum Tabaskifest verzichten mussten, und ungezählte andere Fälle mehr : Alles wurde bei "Klein-Madoff" deponiert und alles ist verloren. Die von der Regierung eingeleitete Registrierungsaktion geschädigter Anleger im Hinblick auf eine Rückzahlung der Einlagen nährt allenfalls Illusionen.
Statt einer Konklusion des Ganzen halte man sich an die lokale Presse, die hierzu bemerkt hat :
"In Wahrheit waren ICC-Services und Konsorten (es gab neben dieser kriminellen Grossorganisation noch vier kleinere Trittbrettfahrerinitiativen dieser Art in Benin, Anm.des Verf.) die eigentlichen Nutzniesser des Mikrokreditprogramms für die Ärmsten, denn diese, gefangen im Netz der Illusionen, sind auch die durch das Betrugssystem am empfindlichsten abgezockten Einzahler."
4. ICC-Services und die internationale Kooperation :
"….. Doch wichtiger ist, dass das Mikrokreditwesen wunderbar zu den Wünschen der Entwicklungshilfe-Organisationen passt, ihr Geld loszuwerden."
Diese schon in den Eingangszitaten enthaltene Erkenntnis sagt mehr aus, als jede - seriöse oder tendenziöse - Studie über Sinn oder Unsinn, Segen oder Schaden der Entwicklungsfinanzierung an Erkenntnissen zu bringen vermag. Es ist der simple Hinweis auf den gegenseitigen Ergänzungszusammenhang zwischen Mittelabflussdruck auf der Geberseite und der Möglichkeit unkontrollierbarer Mittelverwendung auf der Nehmerseite. Und das speziell für diese Wirkungen geschaffene Kind hat einen Namen : Budgethilfe. Und es hat ein günstiges zur umfänglichen Anwendung geeignetes Terrain : den Mikrofinanzsektor. Hier findet eine überbordende Modeerscheinung statt, im Gleichschritt mit der diesen Sektor überflutenden bi- und multilateralen Finanzierung. Ohne Budgethilfe, ob nun als solche deklariert oder Teil einer allgemeinen Entwicklungsfinanzierung, wäre ein Phänomen wie das für Benin geschilderte in dem erlebten Ausmass nicht möglich gewesen, zumindest nicht in der Form der Vergeudung der eigentlich einem Programm "Mikrokredit für die Ärmsten" zugedachten Mittel.
5. Etwas Versöhnliches zum Schluss :
Obiger Vermerk stützt sich auschliesslich (bis auf einen Fall) auf veröffentlichte Quellen, überwiegend auf die Presse, beninische und internationale. In ersterer wurde auch der instruktive FMI-Rapport vom September 2010, der sonst kaum zur allgemeinen Kenntnis gelangt wäre, veröffentlicht. Die solcherart geschaffene Öffentlichkeit und weitgehende Meinungsfreiheit waren im vordemokratischen Benin nicht selbstverständlich, ja sie waren unmöglich, auch gefährlich, wenn versucht. Seit der demokratischen Öffnung ab 1990 hat sich das ziemlich dramatisch geändert, in Richtung Pressefreiheit und -vielfalt sowie bunter Diskussionskultur, oft regierungskritischen und polemischen Inhalts. Zwar bieten Qualität und Professionalität des Journalismus im Lande noch Lücken, besonders in der Sparte des Investigationsjournalismus, der noch recht inkonsequent betrieben wird. Auch ist die Presse stark durchpolitisiert und neigt zu jeweiliger Parteiennähe. Doch allein das breite Spektrum von Tages- und Wochenzeitungen bietet dem Pressekonsumenten den Vorteil einer freien, ziemlich lehrreichen Berichterstattung wie derjenigen über die Affäre ICC-Services. Diese Entwicklung verdient, bei aller inzwischen aufgeblühten Skandalkultur im Lande, hervorgehoben und gewürdigt zu werden.
15.01.2011
Dr. Martin Schneiderfritz
Natitingou, Republik Benin