Das Ungeheuer von Loch Ness oder: Ein "Marshallplan für Afrika"
Die Ereignisse in Nordafrika und die Debatte über die Gestaltung der künftigen Entwicklungskooperation mit den sich dramatisch wandelnden Ländern dieser Region liessen ein aus Vorzeiten der Diskssion um Entwicklung und Entwicklungskooperation stammendes, daraus nie ganz verschwundenes Thema wieder als ein angeblich aktuelles auftauchen: die Wunderwaffe zur Lösung der Entwicklungsproblematik, der "Marshallplan für Afrika". Dennoch, weder Anciennität noch Aktualität verleihen diesem Thema einen real-rationalen Charakter, geschweige denn den der Anwendbarkeit und Wirksamkeit in den meisten Regionen Afrikas. Die Behandlung des Themas ist nach wie vor eine verbogene, dient allenfalls dazu, der - falschen - Entwicklungsmaxime "Geld = Entwicklung" und "Mehr Geld = mehr Entwicklung" ein politisch genehmes Mäntelchen umzuhängen. Dazu ist das Instrument "Marshallplan" sehr geeignet, allerdings nur unter unzulässiger Analogie zur historischen, geopolitischen Konstellation im zerstörten, aber infrastrukturell und personell empfangs- und umsetzungsbereiten Europa. Afrika weist diese Konstellation in der Regel noch nicht auf.
Der Ruf "Ein Marshall-Plan für Afrika!" ist traditionell gängige politrethorische Pflichtübung, gepflegt in grosser Nord-Süd-Eintracht, auch in denjenigen Milieus, die wissen müssten: Die Devise "Marshallplan für Afrika" nährt nichts als einen verbalen Mythos, der Original-Marshallplan ist auf die Länder Afrikas nicht übertragbar, mangels Vorhandenseins der zu seiner Wirkung erforderlichen Rahmenbedingungen. Die Forderung nach diesem Mythos von afrikanischer Seite ist verständlich, ihre Unterstützung von westlichen, höchst informierten Instanzen eine unverantwortliche Augenwischerei, wider besseres Wissen.
Getreu der alten, doch in der Diskussion über Entwicklung und Entwicklungskooperation meist vernachlässigten Weisheit, dass vieles Richtige schon einmal erkannt und gesagt worden ist, aber in die aktuelle Debatte nicht einfliesst, da inopportun, lohn t es sich, auf eine fast ein Vierteljahrhundert alte Analyse zurückzugreifen, die unverändert gültig ist. So schreibt Jürgen Jeske in einem Artikel "Mehr als Geld - Zum Mythos Marshallplan" in der FAZ vom 04.07.1987:
"Die bittere Wahrheit ist, dass sich der Erfolg des Marshallplans nicht wiederholen lässt, wenn man damit lediglich ein grosses Kreditprogramm ins Auge fasst. Marshall selbst hat später erklärt, es sei ihm darum gegangen, die latente ökonomische Macht Europas wieder zu wecken und sie zu bündeln. Das sei mehr wert gewesen als jede Subvention, obwohl die Amerikaner von 1948 bis 1952 in einer unglaublich grosszügigen Geste dem zerstörten Westeuropa, darunter auch dem besiegten Deutschland, rund 13 Milliarden Dollar Kaufkraft zur Verfügung stellten, weitgehend als Geschenk. Dass die Marshallplan-Hilfe so schnell und nachhaltig wirkte, war jedoch den Europäern selbst zu danken, den Millionen ausgebildeter Menschen, die nur darauf warteten, die Ärmel aufzukrempeln und sich aus den Trümmern wieder nach oben zu arbeiten. Sie besassen die für eine Industriegesellschaft notwendigen wirtschaftlich-technischen Erfahrungen und Begabungen, Kräfte, die nach dem Krieg nur wieder angestossen werden mussten. ... Hinzu kam aber noch etwas anderes, das zugleich den grösseren Erfolg des Marshallplans in der Bundesrepublik erklärt: die Einführung einer marktwirtschaftlichen Ordnung und eine auf Geldwertstabilität bedachte Notenbankpolitik. Der Liberale Wilhelm Röpke merkte dazu 1953 in einem Aufsatz in dieser Zeitung an, dass die Hilfe im Falle Deutschlands nur deshalb so wirken konnte, weil hier die 'Bluttransfusion' des Marshallplans mit einer wirksamen Therapie verbunden wurde. Röpke meinte damit Erhards liberale Wirtschaftspolitik, die übrigens den weitgehend keynesianischen Vorstellungen der alliierten Berater zuwiderlief.
In den Ländern oder Ländergruppen, für die seither immer wieder Marshallpläne angemahnt werden, sind die meisten dieser Voraussetzungen nicht gegeben. Dies gilt selbst für jene hochverschuldeten lateinamerikanischen Staaten, die sich schon an der Schwelle zum Industrieland befinden. Aus diesem Grund haben selbst die bisher geleisteten Milliarden an Entwicklungshilfe (die ebenfalls einen gigantischen Marshallplan darstellen) nicht mehr bewirken und Krisen nicht verhindern können."
Eine ebenso sachliche wie erfahrungsgestützte Zusammenfassung der ganzen "Marshallplan für Afrika"-Problematik war seit dem Erscheinen des Jeske'schen Artikels in der seitdem geführten Entwicklungskooperationsdebatte wohl kaum noch zu finden, wenn, dann allenfalls verschämt im Verborgenen. Sie war vermutlich auch kaum mehr möglich; denn das Thema wurde zunehmend von der "modernen" Entwicklungspolitik vereinnahmt und entsprechend irreführend den afrikanischen Partnern präsentiert oder von diesen selbst gefordert, in Unkenntnis der besonderen Anwendungsbedingungen für das Instrument "Marshallplan". Eine aus Erfahrung resultierende realistische Sicht kann da nur stören. Sie erschwerte zumal die Fortführung und die - zumindest deklaratorisch - enorme Ausweitung der finanziellen Entwicklungshilfezusagen. Sie hätte einer weiteren, wider besseres Wissen und nur den politischen Schein wahrenden Praxis der "Bluttransfusion" (Wilhelm Röpke), die ohne jede - allen Akteuren wohlbekannte - Aussicht auf Entwicklungswirkung geschieht, im Wege gestanden.
In letzter Zeit jedoch wird die richtige Jeske'sche Analyse der "Marshallplan für Afrika"-Problematik zunehmend aufgegriffen, trotz in die falsche Richtung weiterlaufender offizieller Debatte, ewa im 2007 erschienenen Buch "Die Dritte Welt - Mythos und Wirklichkeit" von Gustav Adolf Sonnenhol und Rainer Barthelt. Ausführliches, weil zutreffendes hieraus:
"Die Frage liegt nahe, warum dem Marshall-Plan gelang, was ungleich grösserer späterer Hilfe in vielen Ländern der Dritten Welt versagt zu bleiben scheint. Der Kern der Antwort ist einfach. Im Zentrum allen Wirtschaftens und jeder Entwicklung steht der Mensch. Alle anderen, vor allem die quantitativen 'Take off'-Vorstellungen sind ein Irrtum. In Europa waren zwar die Produktionsstätten weitgehend zerstört und in Deutschland fast ganz. Aber nicht die Menschen. Man brauchte bloss ihre schöpferischen Kräfte freizusetzen, ihnen wieder Mut und Hoffnung, und wo nötig Starthilfe zu geben. Alles andere besorgten sie selbst. Gleiche politische und wirtschaftliche Interessen verbanden damals Europa mit den Vereinigten Staaten. Hinzu kam die geistige Übereinstimmung. Europa und Amerika dachten in denselben freiheitlichen, rationalen und technischen Vorstellungen. Europa hatte durch den Krieg sehr gelitten, die Entwicklungsbereitschaft der Bevölkerung war aber ungebrochen. Die technische Infrastruktur war zwar stark in Mitleidenschaft gezogen, konnte jedoch bald nach dem Krieg wieder hergestellt werden. Entscheidend war - und hier liegt der Unterschied zu den Entwicklungsländern -, dass eine soziale Infrastruktur, eine Unternehmerschaft und eine Arbeiterschaft vorhanden waren, denen man nur die notwendigen Werkzeuge in die Hand zu geben brauchte, um den Wirtschaftsprozess wieder in Gang zu setzen. In Europa wurde die Adam Smith-Behauptung noch einmal bestätigt, dass der grösste Reichtum der Völker die Arbeit ist."
Die verquere "Marshallplan-für-Afrika"-Debatte ist auch unter dem terminologischen und Schlagwort-Aspekt, welcher oft die Entwicklungskooperations-Szenerie kennzeichnet, aufschlussreich. Griffige Bezeichnungen werden gefragt und gefunden, z.B. für eine der Durchführungsmassnahmen der UN-"Millennium-Erklärung" mit ihren "Millennium Development Goals": "Millennium Challenge Account", eine auf die MDG zielende US-Programminitiative. So etwas ist Moden unterworfen. Aus Gründen des entwicklungspolitischen Marketings ist das vielleicht noch zu verstehen. Moden und modische Schlagwörter wie solche des "Marshallplans für Afrika" dagegen riskieren, völlig sachfremd und inhaltlich verfälscht verwendet zu werden. Sie dienen zudem als trojanisches Pferd, um entwicklungspolitisch überholte Ideen wie, unter anderem, die der überzogenen und für die meisten afrikanischen Länder unrealistischen Planungsgläubigkeit, weiterhin zu transportieren. Das zumindest vermutet inzidenter, und sicher zu recht, die Tageszeitung "Le Figaro", Paris, die in einem Artikel "Pourquoi le plan Marshall fascine les Français", erschienen anlässlich des 60. Jahrestags der Verabschiedung des Marshallplans am 26. März 2007, feststellt (mit Sicht auf die Situation in Frankreich; für die Lage in Afrika aber, mit entsprechender Vorsicht, wohl auch erlaubt):
"... So haben, am Folgetag des eklatanten Misserfolgs von Lionel Jospin bei der Präsidentenwahl, die Führer der sozialistischen Linken einen 'Plan Marshall pour les banlieues (die Vorstädte)' vorgeschlagen. Die Rechte, durch Thierry Breton, hat einen ebensolchen für die Universtätsausbildung und die Forschungszentren empfohlen. Für unsere politischen Führer handelt es sich natürlich nicht darum, an amerikanische Hilfe zu appelieren. Vielmehr hat dieser Terminus eine Art 'paradigmatische' Bedeutung angenommen, eine Art Modellwirkung für Frankreich. Was wollen all diejenigen wirklich beweisen, die auf dieses Instrument Rekurs nehmen zwecks Lösung aller unserer Übel? Warum diese amerikanische Referenz, zumal unsere politischen Führer nie auf die Verträge von Rom oder Maastricht zurückkommen? ... Für die Vertreter in Paris des ‘German Marshall Fund', gegründet 1972 auf Initiative des Bundeskanzlers Willy Brandt, steht der Plan von 1947 zugleich für massive Investitionen, Gefahrenabwehr sowie den Ausdruck von Solidarität. ….. Voilà qui est mobilisateur. Wie dem auch sei, der Terminus 'Plan Marshall' hat ein glänzendes Come back erlebt in der amerikanischen Debatte, Herbst 2005, zur Mobilisierung gemeinschaftlicher Anstrengung zum Wiederaufbau von Nouvelle Orléans nach dem Wirbelsturm Katrina. Könnte es sein, dass in Frankreich die Magie dieser beiden damit zusammenhängt, nach der Devise, dass on aime les 'plans', bien plus que la main invisible du marché?"
Der Vorwurf der "Trojanisches-Pferd"-Funktion des Etiketts "Marshallplan" mag etwas hart sein, zutreffend bleibt er allemal. Dennoch soll nicht unterschlagen werden, dass es Versuche gibt, dieses Etikett auch Ideale, vielleicht gar Werte transportieren zu lassen. So etwa den Wert "Solidarität", deren Förderung sich die "Global Marshall Initiative", proklamiert vom Gründer der Stiftung "Solidarität in Partnerschaft", Peter Hesse, zum Ziel gesetzt hat (unter anderem durch Herausgabe des Buches "Solidarität, die ankommt - Zieleffiziente Mittelverwendung in der Entwicklungszusammenarbeit", Hamburg, 2006). Unzweifelhaft unterlag dem Original-Marshallplan auch die Idee der Solidarität. Der vorzitierte Artikel in "Le Figaro" erinnert daran. Dennoch, es bleibt dabei : Dieser Nutzung des Etiketts "Marshallplan" im Rahmen der Entwicklungskooperation haftet, um es milde zu sagen, ein Geruch der Leichtfertigkeit an. Begründung: (1) Die Solidarität, welche ein Marshallplan zum Ausdruck bringen soll, bleibt eine illusionäre, wenn die übrigen Wirkungsvoraussetzungen fehlen, an welche die vorstehenden Zitate erinnern. (2) Ausserdem und vor allem: Entscheidend ist die Wahrnehmung des Begriffs durch die Partner. Und die verbinden damit eindeutig und ausschliesslich die Vorstellung eines - zusätzlichen - Hilfsfonds, aus dem Finanzmittel bereitgestellt werden, im Namen keines Prinzips oder Wertes und ohne jede weitere (Wirkungs-) Voraussetzungen im Nehmerland. Die inflationäre und sachlich irreführende Verwendung des Etiketts "Marshallplan" befördert diese Wahrnehmung. Sie konterkariert die Bereitschaft der Hilfe-Empfänger zu Entwicklungseigenanstrengungen.
03.03.2011
Dr. Martin Schneiderfritz,
Natitingou, Bénin
Sat, 12 Mar 2011 - 13:38
Das Ungeheuer von Loch Ness oder: Ein "Marshallplan für Afrika"
Die Ereignisse in Nordafrika und die Debatte über die Gestaltung der künftigen Entwicklungskooperation mit den sich dramatisch wandelnden Ländern dieser Region liessen ein aus Vorzeiten der Diskssion um Entwicklung und Entwicklungskooperation stammendes, daraus nie ganz verschwundenes Thema wieder als ein angeblich aktuelles auftauchen: die Wunderwaffe zur Lösung der Entwicklungsproblematik, der "Marshallplan für Afrika". Dennoch, weder Anciennität noch Aktualität verleihen diesem Thema einen real-rationalen Charakter, geschweige denn den der Anwendbarkeit und Wirksamkeit in den meisten Regionen Afrikas. Die Behandlung des Themas ist nach wie vor eine verbogene, dient allenfalls dazu, der - falschen - Entwicklungsmaxime "Geld = Entwicklung" und "Mehr Geld = mehr Entwicklung" ein politisch genehmes Mäntelchen umzuhängen. Dazu ist das Instrument "Marshallplan" sehr geeignet, allerdings nur unter unzulässiger Analogie zur historischen, geopolitischen Konstellation im zerstörten, aber infrastrukturell und personell empfangs- und umsetzungsbereiten Europa. Afrika weist diese Konstellation in der Regel noch nicht auf.
Der Ruf "Ein Marshall-Plan für Afrika!" ist traditionell gängige politrethorische Pflichtübung, gepflegt in grosser Nord-Süd-Eintracht, auch in denjenigen Milieus, die wissen müssten: Die Devise "Marshallplan für Afrika" nährt nichts als einen verbalen Mythos, der Original-Marshallplan ist auf die Länder Afrikas nicht übertragbar, mangels Vorhandenseins der zu seiner Wirkung erforderlichen Rahmenbedingungen. Die Forderung nach diesem Mythos von afrikanischer Seite ist verständlich, ihre Unterstützung von westlichen, höchst informierten Instanzen eine unverantwortliche Augenwischerei, wider besseres Wissen.
Getreu der alten, doch in der Diskussion über Entwicklung und Entwicklungskooperation meist vernachlässigten Weisheit, dass vieles Richtige schon einmal erkannt und gesagt worden ist, aber in die aktuelle Debatte nicht einfliesst, da inopportun, lohn t es sich, auf eine fast ein Vierteljahrhundert alte Analyse zurückzugreifen, die unverändert gültig ist. So schreibt Jürgen Jeske in einem Artikel "Mehr als Geld - Zum Mythos Marshallplan" in der FAZ vom 04.07.1987:
"Die bittere Wahrheit ist, dass sich der Erfolg des Marshallplans nicht wiederholen lässt, wenn man damit lediglich ein grosses Kreditprogramm ins Auge fasst. Marshall selbst hat später erklärt, es sei ihm darum gegangen, die latente ökonomische Macht Europas wieder zu wecken und sie zu bündeln. Das sei mehr wert gewesen als jede Subvention, obwohl die Amerikaner von 1948 bis 1952 in einer unglaublich grosszügigen Geste dem zerstörten Westeuropa, darunter auch dem besiegten Deutschland, rund 13 Milliarden Dollar Kaufkraft zur Verfügung stellten, weitgehend als Geschenk. Dass die Marshallplan-Hilfe so schnell und nachhaltig wirkte, war jedoch den Europäern selbst zu danken, den Millionen ausgebildeter Menschen, die nur darauf warteten, die Ärmel aufzukrempeln und sich aus den Trümmern wieder nach oben zu arbeiten. Sie besassen die für eine Industriegesellschaft notwendigen wirtschaftlich-technischen Erfahrungen und Begabungen, Kräfte, die nach dem Krieg nur wieder angestossen werden mussten. ... Hinzu kam aber noch etwas anderes, das zugleich den grösseren Erfolg des Marshallplans in der Bundesrepublik erklärt: die Einführung einer marktwirtschaftlichen Ordnung und eine auf Geldwertstabilität bedachte Notenbankpolitik. Der Liberale Wilhelm Röpke merkte dazu 1953 in einem Aufsatz in dieser Zeitung an, dass die Hilfe im Falle Deutschlands nur deshalb so wirken konnte, weil hier die 'Bluttransfusion' des Marshallplans mit einer wirksamen Therapie verbunden wurde. Röpke meinte damit Erhards liberale Wirtschaftspolitik, die übrigens den weitgehend keynesianischen Vorstellungen der alliierten Berater zuwiderlief.
In den Ländern oder Ländergruppen, für die seither immer wieder Marshallpläne angemahnt werden, sind die meisten dieser Voraussetzungen nicht gegeben. Dies gilt selbst für jene hochverschuldeten lateinamerikanischen Staaten, die sich schon an der Schwelle zum Industrieland befinden. Aus diesem Grund haben selbst die bisher geleisteten Milliarden an Entwicklungshilfe (die ebenfalls einen gigantischen Marshallplan darstellen) nicht mehr bewirken und Krisen nicht verhindern können."
Eine ebenso sachliche wie erfahrungsgestützte Zusammenfassung der ganzen "Marshallplan für Afrika"-Problematik war seit dem Erscheinen des Jeske'schen Artikels in der seitdem geführten Entwicklungskooperationsdebatte wohl kaum noch zu finden, wenn, dann allenfalls verschämt im Verborgenen. Sie war vermutlich auch kaum mehr möglich; denn das Thema wurde zunehmend von der "modernen" Entwicklungspolitik vereinnahmt und entsprechend irreführend den afrikanischen Partnern präsentiert oder von diesen selbst gefordert, in Unkenntnis der besonderen Anwendungsbedingungen für das Instrument "Marshallplan". Eine aus Erfahrung resultierende realistische Sicht kann da nur stören. Sie erschwerte zumal die Fortführung und die - zumindest deklaratorisch - enorme Ausweitung der finanziellen Entwicklungshilfezusagen. Sie hätte einer weiteren, wider besseres Wissen und nur den politischen Schein wahrenden Praxis der "Bluttransfusion" (Wilhelm Röpke), die ohne jede - allen Akteuren wohlbekannte - Aussicht auf Entwicklungswirkung geschieht, im Wege gestanden.
In letzter Zeit jedoch wird die richtige Jeske'sche Analyse der "Marshallplan für Afrika"-Problematik zunehmend aufgegriffen, trotz in die falsche Richtung weiterlaufender offizieller Debatte, ewa im 2007 erschienenen Buch "Die Dritte Welt - Mythos und Wirklichkeit" von Gustav Adolf Sonnenhol und Rainer Barthelt. Ausführliches, weil zutreffendes hieraus:
"Die Frage liegt nahe, warum dem Marshall-Plan gelang, was ungleich grösserer späterer Hilfe in vielen Ländern der Dritten Welt versagt zu bleiben scheint. Der Kern der Antwort ist einfach. Im Zentrum allen Wirtschaftens und jeder Entwicklung steht der Mensch. Alle anderen, vor allem die quantitativen 'Take off'-Vorstellungen sind ein Irrtum. In Europa waren zwar die Produktionsstätten weitgehend zerstört und in Deutschland fast ganz. Aber nicht die Menschen. Man brauchte bloss ihre schöpferischen Kräfte freizusetzen, ihnen wieder Mut und Hoffnung, und wo nötig Starthilfe zu geben. Alles andere besorgten sie selbst. Gleiche politische und wirtschaftliche Interessen verbanden damals Europa mit den Vereinigten Staaten. Hinzu kam die geistige Übereinstimmung. Europa und Amerika dachten in denselben freiheitlichen, rationalen und technischen Vorstellungen. Europa hatte durch den Krieg sehr gelitten, die Entwicklungsbereitschaft der Bevölkerung war aber ungebrochen. Die technische Infrastruktur war zwar stark in Mitleidenschaft gezogen, konnte jedoch bald nach dem Krieg wieder hergestellt werden. Entscheidend war - und hier liegt der Unterschied zu den Entwicklungsländern -, dass eine soziale Infrastruktur, eine Unternehmerschaft und eine Arbeiterschaft vorhanden waren, denen man nur die notwendigen Werkzeuge in die Hand zu geben brauchte, um den Wirtschaftsprozess wieder in Gang zu setzen. In Europa wurde die Adam Smith-Behauptung noch einmal bestätigt, dass der grösste Reichtum der Völker die Arbeit ist."
Die verquere "Marshallplan-für-Afrika"-Debatte ist auch unter dem terminologischen und Schlagwort-Aspekt, welcher oft die Entwicklungskooperations-Szenerie kennzeichnet, aufschlussreich. Griffige Bezeichnungen werden gefragt und gefunden, z.B. für eine der Durchführungsmassnahmen der UN-"Millennium-Erklärung" mit ihren "Millennium Development Goals": "Millennium Challenge Account", eine auf die MDG zielende US-Programminitiative. So etwas ist Moden unterworfen. Aus Gründen des entwicklungspolitischen Marketings ist das vielleicht noch zu verstehen. Moden und modische Schlagwörter wie solche des "Marshallplans für Afrika" dagegen riskieren, völlig sachfremd und inhaltlich verfälscht verwendet zu werden. Sie dienen zudem als trojanisches Pferd, um entwicklungspolitisch überholte Ideen wie, unter anderem, die der überzogenen und für die meisten afrikanischen Länder unrealistischen Planungsgläubigkeit, weiterhin zu transportieren. Das zumindest vermutet inzidenter, und sicher zu recht, die Tageszeitung "Le Figaro", Paris, die in einem Artikel "Pourquoi le plan Marshall fascine les Français", erschienen anlässlich des 60. Jahrestags der Verabschiedung des Marshallplans am 26. März 2007, feststellt (mit Sicht auf die Situation in Frankreich; für die Lage in Afrika aber, mit entsprechender Vorsicht, wohl auch erlaubt):
"... So haben, am Folgetag des eklatanten Misserfolgs von Lionel Jospin bei der Präsidentenwahl, die Führer der sozialistischen Linken einen 'Plan Marshall pour les banlieues (die Vorstädte)' vorgeschlagen. Die Rechte, durch Thierry Breton, hat einen ebensolchen für die Universtätsausbildung und die Forschungszentren empfohlen. Für unsere politischen Führer handelt es sich natürlich nicht darum, an amerikanische Hilfe zu appelieren. Vielmehr hat dieser Terminus eine Art 'paradigmatische' Bedeutung angenommen, eine Art Modellwirkung für Frankreich. Was wollen all diejenigen wirklich beweisen, die auf dieses Instrument Rekurs nehmen zwecks Lösung aller unserer Übel? Warum diese amerikanische Referenz, zumal unsere politischen Führer nie auf die Verträge von Rom oder Maastricht zurückkommen? ... Für die Vertreter in Paris des ‘German Marshall Fund', gegründet 1972 auf Initiative des Bundeskanzlers Willy Brandt, steht der Plan von 1947 zugleich für massive Investitionen, Gefahrenabwehr sowie den Ausdruck von Solidarität. ….. Voilà qui est mobilisateur. Wie dem auch sei, der Terminus 'Plan Marshall' hat ein glänzendes Come back erlebt in der amerikanischen Debatte, Herbst 2005, zur Mobilisierung gemeinschaftlicher Anstrengung zum Wiederaufbau von Nouvelle Orléans nach dem Wirbelsturm Katrina. Könnte es sein, dass in Frankreich die Magie dieser beiden damit zusammenhängt, nach der Devise, dass on aime les 'plans', bien plus que la main invisible du marché?"
Der Vorwurf der "Trojanisches-Pferd"-Funktion des Etiketts "Marshallplan" mag etwas hart sein, zutreffend bleibt er allemal. Dennoch soll nicht unterschlagen werden, dass es Versuche gibt, dieses Etikett auch Ideale, vielleicht gar Werte transportieren zu lassen. So etwa den Wert "Solidarität", deren Förderung sich die "Global Marshall Initiative", proklamiert vom Gründer der Stiftung "Solidarität in Partnerschaft", Peter Hesse, zum Ziel gesetzt hat (unter anderem durch Herausgabe des Buches "Solidarität, die ankommt - Zieleffiziente Mittelverwendung in der Entwicklungszusammenarbeit", Hamburg, 2006). Unzweifelhaft unterlag dem Original-Marshallplan auch die Idee der Solidarität. Der vorzitierte Artikel in "Le Figaro" erinnert daran. Dennoch, es bleibt dabei : Dieser Nutzung des Etiketts "Marshallplan" im Rahmen der Entwicklungskooperation haftet, um es milde zu sagen, ein Geruch der Leichtfertigkeit an. Begründung: (1) Die Solidarität, welche ein Marshallplan zum Ausdruck bringen soll, bleibt eine illusionäre, wenn die übrigen Wirkungsvoraussetzungen fehlen, an welche die vorstehenden Zitate erinnern. (2) Ausserdem und vor allem: Entscheidend ist die Wahrnehmung des Begriffs durch die Partner. Und die verbinden damit eindeutig und ausschliesslich die Vorstellung eines - zusätzlichen - Hilfsfonds, aus dem Finanzmittel bereitgestellt werden, im Namen keines Prinzips oder Wertes und ohne jede weitere (Wirkungs-) Voraussetzungen im Nehmerland. Die inflationäre und sachlich irreführende Verwendung des Etiketts "Marshallplan" befördert diese Wahrnehmung. Sie konterkariert die Bereitschaft der Hilfe-Empfänger zu Entwicklungseigenanstrengungen.
03.03.2011
Dr. Martin Schneiderfritz,
Natitingou, Bénin