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Beitrag vom 21.02.2012

Neue Zuercher Zeitung

Die Hilfswerke richten es schon

Burkina Faso - seit mehr als fünfzig Jahren unabhängig, aber bei weitem noch nicht selbständig

Zweifellos hat das 1960 unabhängig gewordene Burkina Faso in den letzten Jahrzehnten in vielen Lebensbereichen Fortschritte erzielt. Aber diese haben auch Schattenseiten - und die Abhängigkeit von der Auslandshilfe ist geblieben.

Jean-Paul Rüttimann, Ouagadougou

Statt wie in den sechziger Jahren bloss 100 000 Einwohner leben heute in Ouagadougou, der Hauptstadt Burkina Fasos, über 2 Millionen Menschen. Der Flughafen, der 1962 am Rand eines Aussenquartiers lag, befindet sich jetzt mitten in der Stadt. Auf hell erleuchteten, mehrspurigen Strassen, auf denen auch abends noch ein reger Verkehr herrscht, führt die Fahrt in eines der über 50 Hotels - vor fünfzig Jahren waren es nur 3. Überhaupt fällt die Vielzahl von Restaurants, Bars und «Maquis» (einfache Gaststätten) auf, die in den letzten Jahrzehnten aus dem Boden geschossen sind.

Sichdurchwursteln als Devise
Nicht mehr Velos, sondern Motorräder und Autos beleben die Strassen und führen in der Innenstadt zu einem Verkehrschaos. Eine dichte, sicht- und riechbare Abgaswolke liegt über diesen Strassen. Manche tragen eine Atemmaske. Dessen ungeachtet säumen aber noch immer Händler alle Strassen der Innenstadt. Sie verkaufen alles, was ein Burkinaber benötigen könnte, von Reisbesen über neue und gebrauchte Kleider bis zu Matratzen. Neu dazugekommen sind jetzt Parabolantennen, Flachbildschirme und Solarzellen.

Unklar bleibt, wer das alles kaufen soll. Der Minimallohn entspricht einem Gegenwert von weniger als 60 Schweizerfranken - und wer eine Arbeitsstelle hat, ist privilegiert. Die grosse Mehrheit der Stadtbewohner arbeitet im informellen Sektor und schlägt sich mit Gelegenheitsarbeiten durch. «On se débrouille» (man wurstelt sich durch), antworten die Leute auf die Frage nach ihrem Lebensunterhalt. Aber immer mehr Personen gelingt dies nicht mehr. Heute werde er nicht nur mit Armut, sondern mit echter Not konfrontiert, hat der Erzbischof von Ouagadougou zum Jahresanfang erklärt.

Anders als vor fünfzig Jahren protzt aber heute eine kleine Oberschicht mit ihrem Reichtum. Im neuen Stadtteil Ouagadougou 2000 kann man Prachtsvillen bestaunen. In Luxusrestaurants geben einheimische Gäste viel Geld aus. Der Graben zwischen den wenigen ganz Reichen und den vielen Notleidenden hat sich in den letzten Jahrzehnten in stossender Weise vertieft. Entsprechend lauter wird das Grollen gegen «die da oben» - auch in der dünnen Mittelschicht. Gewaltausbrüche wütender Schüler und meuternder Soldaten wie jene vom Frühjahr 2011 seien jederzeit wieder möglich, meinen praktisch alle Gesprächspartner.

Die Pest der Korruption
Die Korruption - in den sechziger Jahren eine marginale Erscheinung - ist zu einer Pest geworden. Resigniert haben sich die Leute daran gewöhnt, mit kleinen Geldscheinen die Dienstleistungen von Beamten zu erkaufen und den Bussen durch Polizisten zu entgehen. Sie stossen sich stärker an der grossen Korruption, mit der sich hochgestellte Personen Einkünfte in Millionenhöhe ergattern. Periodisch wird diese Erscheinung in der Presse an den Pranger gestellt, werden Kommissionen eingesetzt und Untersuchungen angekündigt - ohne erkennbare Folgen. Wie eine Bombe hat deshalb am Neujahrstag 2012 die Nachricht von der Verhaftung des mächtigen Generaldirektors der Zollbehörde eingeschlagen. Die Kommentatoren fragen sich, ob dies eine neue Ära ankündigt oder ob auch dieser Fall allmählich versanden wird.

Trotz der Landflucht leben noch immer etwa 80 Prozent der 16 Millionen Burkinaber (5 Millionen im Jahr 1962) auf dem Land. Dort hat sich in den letzten Jahren zu wenig verändert. Positiv fällt auf, dass heute die Leute auch in den Dörfern gut angezogen sind. Auch essen die Familien auf dem Land jetzt Gemüse, das früher als Nahrung der Weissen galt. Verschwunden sind die Kolonnen von Frauen, die früher kilometerweit das Wasser in Krügen auf dem Kopf, mühevoll, aber mit Eleganz, in die Dörfer brachten. Heute hat jedes Dorf Brunnen, oft mit Motorpumpen. Die Kehrseite der Medaille: Man holt jetzt derart viel Wasser heraus, dass der Grundwasserspiegel stark gesunken ist und in manchen Gegenden die Brunnen schon zu Beginn der heissen Trockenzeit im Februar/März versiegen.

Und ohne Wasser geben die kargen Böden wenig her. 2011 hat die Regenzeit viel zu früh geendet, so dass die Getreideernte zu gering ausgefallen ist. Die Regierung schätzt, dass dieses Jahr 40 Prozent der Gemeinden unter einem Nahrungsmitteldefizit leiden werden. Sie hat Notmassnahmen - auch mit internationaler Unterstützung - angekündigt. Aber zu oft hat die Regierung ihre Versprechen nicht gehalten, so dass die betroffenen Dorfbewohner aus ihrer brennenden Sorge am Jahresbeginn kein Hehl machen. Immerhin ist die Organisation allfälliger Hilfstransporte einfacher, da in den letzten Jahren das Strassennetz gross ausgebaut wurde. Geteerte Strassen führen in jede Landesgegend. Zu Beginn der sechziger Jahre hatte es nur im Zentrum der zwei wichtigsten Städte einige geteerte Strassen gegeben.

Gold und Mobiltelefone
Drastisch verbessert haben sich die Telefonverbindungen. Trotz der Unterstützung der Schweizer PTT in den siebziger und achtziger Jahren war der Bau von Telefonleitungen nur schleppend vorangekommen. Heute machen die 3 bis 4 Millionen Mobiltelefone das Festnetz fast überflüssig. Sie tragen auch zur Wirtschaftsentwicklung bei. Seit einigen Jahren wächst das Bruttoinlandprodukt zwischen 3 und 6 Prozent pro Jahr. Ein eigentlicher Boom hat Burkina Faso zu einem der grössten Goldexporteure Afrikas gemacht. Trotzdem klafft auch 2012 im Staatsbudget ein Defizit von umgerechnet 370 Millionen Franken - etwa 15 Prozent der Einnahmen.

Am Anfang der sechziger Jahre galt das Land als Domäne Frankreichs und erhielt von anderen Staaten nur wenig Unterstützung. Jetzt ist Burkina Faso zu einem eigentlichen Eldorado für die Entwicklungszusammenarbeit geworden. Neben fast allen westeuropäischen Staaten sind die USA und Taiwan stark präsent - und seit der Dürrekatastrophe in den siebziger Jahren betreiben hier über tausend Nichtregierungsorganisationen ihre kleinen und grösseren Projekte. Sichtbar wird dies bei der Fahrt durchs Land, wo fast in jedem Dorf meistens gleich mehrere Tafeln mit Wappen oder Logo von der «Grosszügigkeit» eines Staates oder eines Hilfswerks künden.

In den sechziger Jahren hatte man mit einem Zeitraum von vielleicht zwanzig Jahren gerechnet, da das Land Unterstützung von aussen brauchen würde. Offensichtlich ist heute nicht mehr viel vom Geist des revolutionären Thomas Sankara, der von 1983 bis 1987 Staatschef war, übrig. Er verlangte, die Burkinaber müssten auf die eigenen Kräfte vertrauen. Es hat heute vielleicht etwas weniger ausländische Experten, aber die Empfängermentalität ist in den Ministerien wie in den Dörfern weiter verbreitet denn je. Und offensichtlich «verkaufen» sich die Burkinaber ganz gut. So meint etwa die Verantwortliche einer Schweizer Nichtregierungsorganisation, die Burkinaber seien derart arbeitsam (was mindestens für die Frauen zutrifft) und so herzlich, dass man nicht anders könne, als zu helfen beziehungsweise «partnerschaftlich zusammenzuarbeiten».

Jean-Paul Rüttimann arbeitete von 1962 bis 1967 in Côte d'Ivoire und in Obervolta, dem heutigen Burkina Faso, als Erwachsenenbildner und Korrespondent. 2012 hat er sich an Ort und Stelle wieder umgesehen.