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For a different development policy!

Beitrag vom 09.01.2022

SZ

WENN HILFE MEHR SCHADET ALS NUTZT

VON JUDITH RAUPP

Entwicklungshilfe verpufft allzu oft wirkungslos, Milliardenbudgets werden sinnlos vergeudet. Das Nachsehen haben die Spender – und vor allem die Hilfsbedürftigen. Es ist höchste Zeit, endlich umzudenken

Die Holzbänke erinnern an einen Biergarten, auch wenn die Mass und die Brezn fehlen. Dafür bietet die Gartenwirtschaft in Goma im Ostkongo ein einzigartiges Naturschauspiel: Wenn die Sonne hinter den Masisi-Bergen verschwindet, taucht sie den Kivusee in glühendes Rot. Man könnte sich im Urlaub wähnen, stünden nicht die vielen Geländewagen der Vereinten Nationen (UN) und der internationalen Hilfsorganisationen (NGOs) auf dem Parkplatz.

Zivile Angestellte und Soldaten der UN- Friedensmission tummeln sich seit mehr als zwanzig Jahren in der Demokratischen Republik Kongo. Die UN-Mission ist mit 16 000 Angehörigen und einem Jahresbudget von 1,1 Milliarden Dollar einer der teuersten UN-Einsätze der Welt. Darüber hinaus bemühen sich Hunderte internationale und nationale Hilfsorganisationen um das Wohl der Bevölkerung.

Im Ostkongo lässt sich daher gut beobachten, wie Berater, Blauhelmsoldaten, Ausbilder, humanitäre Helfer, Forscher und Friedensaktivisten arbeiten. Und wie wenig bei jenen ankommt, deren Lebensbedingungen dadurch besser werden sollen. Und, dass gut gemeinte Hilfe manchmal sogar Schaden anrichten kann.

Wer die Welt der Helfer verstehen will, muss nur in besagte Gartenwirtschaft gehen. Dort relaxen sie bei Yoga- und Tanzkursen, Livemusik und Fußballübertragungen. Und wenn Bier und Cocktails die Zunge lockern, sprudelt der Frust hervor. Die Helfer erzählen dann, wie der Zoll beispielsweise Medikamente nur gegen Bestechungsgeld freigibt, wie man Warlords im Umland entgegenkommen muss, damit sie die Hilfe zu den Bedürftigen durchlassen. Oder wie lokale Angestellte der NGO Arznei abzweigen, um sie zu verkaufen, oder gar Entführungen vortäuschen, um Lösegeld zu kassieren.

Aber nicht nur Korruption und Vertrauensbruch frustrieren manche Helfer, auch ihr Job an sich. „Mein Wissen ist hier nicht gefragt“, jammert der eine. Ein anderer sagt: „Was ich hier mache, könnte ich genauso gut von einem Büro in Berlin aus erledigen.“ Allerdings würde der Helfer dort keine satte Gefahrenzulage bekommen und nicht alle paar Wochen in Sonderurlaub fliegen können.

Die Helfer kommen und gehen, doch Armut und Gewalt bleiben

Einheimische Aktivisten werfen den hoch dotierten ausländischen Experten dagegen Versagen vor. „Die Polizei schießt auf uns, wir werden willkürlich verhaftet und gefoltert“, erzählt einer. Ein anderer berichtet, dass eine Miliz in der Nacht zuvor im Norden der Provinz schon wieder ein Dutzend Menschen umgebracht habe. Viele Kongolesen fragen sich zu Recht: „Wo sind die Blauhelme, die uns schützen sollen?“

Die Liste der Klagen ist lang. Da geht es beispielsweise um Straßen und Solaranlagen, die von Helfern errichtet werden, aber nach deren Abzug verrotten; um Kindersoldaten, die nach der vermeintlichen Reintegration doch rückfällig werden; um Ebola-Aufklärer, die der einheimischen Sprache nicht mächtig sind; aber auch um sexuelle Übergriffe von Vorgesetzten in Hilfsorganisationen.

Nach Jahrzehnten humanitärer und entwicklungspolitischer Tätigkeit ist das Verhältnis zwischen einem Teil der Bevölkerung und ausländischen NGOs zerrüttet. Die Helfer kommen und gehen, doch Armut und Gewalt bleiben.

Der Kongo mag ein extremes Beispiel sein, weil die Bedingungen dort besonders hart sind. Aber dass die Entwicklungszusammenarbeit vielerorts dringend verbessert werden muss, bestätigen fast alle, die sich mit der Materie auskennen. Zahlreiche Bücher wurden darüber geschrieben. Selbst Vertreter von Staaten, UN, Hilfsorganisationen und Zivilgesellschaft treffen sich regelmäßig und verabschieden „Erklärungen“, in denen sie Besserung geloben, etwa jene von Monterrey (2002), Paris (2005) oder Accra (2008).

Sämtliche Verlautbarungen zielen darauf ab, die Hilfe solide zu finanzieren, sich besser abzusprechen, und die Bedürfnisse der Bevölkerung gemeinsam mit den Einheimischen zu definieren. Und es geht darum, Resultate zu überprüfen. Schließlich haben Steuerzahler und Spender das Recht zu wissen, ob die Hilfe in vollem Umfang bei jenen ankommt, die sie brauchen.

Insgesamt 161 Milliarden Dollar an öffentlichen Mitteln flossen im Jahr 2020 in internationale Hilfsprojekte. Diese Zahl nennt die Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung. Mit 28,4 Milliarden Dollar belegt Deutschland Rang zwei hinter den USA. Die Top Ten Empfänger waren Indien, Afghanistan, Bangladesch, Syrien, Indonesien, Jordanien, Äthiopien, Irak, Nigeria und Kenia. Hinzu kommen private Spenden. Allein die Bundesbürger überwiesen von Januar bis September 2020 laut dem Deutschen Spendenrat 1,4 Milliarden Euro für internationale Projekte.

Tatsächlich bemühen sich Hilfsorganisationen seit einiger Zeit, die Auswirkungen ihres Handelns zu bewerten. Inzwischen gibt es neben der Beurteilung einzelner Projekte Studien mit Vergleichsgruppen, ähnlich wie in der Medizin. Während eine Gruppe unterstützt wird, geht die andere leer aus, zumindest sofern das ethisch vertretbar ist. Danach wird geprüft, wie es den Menschen in beiden Gruppen geht. Die Ökonomen Esther Duflo, Abhijit Banerjee und Michael Kremer bekamen 2019 unter anderem für dieses Prinzip den Wirtschaftsnobelpreis.

Schwierig ist es aber, die langfristigen Folgen der Entwicklungszusammenarbeit einzuschätzen. Dafür müsste die Situation vor Ort nach dem Ende eines Projekts über viele Jahre beobachtet werden. Und zwar auch unter dem Gesichtspunkt, was geschehen wäre, hätten die Helfer nicht eingegriffen. Eine Frage, die niemand mit Gewissheit beantworten kann.

Die Branche bewertet die Wirkung ihres Tuns, so gut es eben geht. Das Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung etwa erteilt seinen Projekten im Schnitt die Schulnote 2,5 für Nachhaltigkeit. Jörg Faust, Direktor des Deutschen Evaluierungsinstituts der Entwicklungszusammenarbeit, sieht bei Demokratisierung, Rechtsstaat und Bildung positive Effekte, aber mit deutlich regionalen Unterschieden.

Müsste es aber nicht längst besser laufen nach so langer Erfahrung?

Eigentliche Aufgabe der Helfer wäre es, sich selbst überflüssig zu machen. Das bedeutet loszulassen, sobald es gut läuft, und dann einen neuen Job zu suchen. Solches Denken fällt jedoch vielen schwer und ist auch bei Entscheidern in den NGO- Zentralen unbeliebt. Sie wollen möglichst viel Budget in möglichst kurzer Zeit ausgeben, damit sie von den Gebern neue Mittel erhalten.

Auch Teile der Eliten in den armen Ländern profitieren von der Entwicklungshilfe, indem sie zum Beispiel ihre Häuser für horrende Beträge an die Helfer vermieten, oder indem sie schlicht Geld veruntreuen. Zudem sind NGOs und die UN für viele Einheimische beliebte Arbeitgeber. Sie zahlen deutlich besser als lokale Firmen, mit der Folge, dass qualifizierte Fachkräfte abwandern. So mancher Arzt oder Jurist arbeitet als Chauffeur oder Lagerist bei einer Hilfsorganisation. Dabei würde er in seiner Domäne gebraucht.

Die internationalen und nationalen NGO-Angestellten sowie ein Teil der Elite in den armen Ländern bilden ein Interessenkartell, das den Status quo zementiert. Der Veränderungsdruck von außen ist gering. Denn jene Menschen, die Unterstützung brauchen, kennen die Budgets nicht, die für sie gedacht sind. Außerdem haben sie kaum Gelegenheit, ihre Bedürfnisse direkt den Geldgebern in der westlichen Welt mitzuteilen. Und die meisten Steuerzahler oder Spender wissen zu wenig über die Situation vor Ort, um die Wirkung ihrer Gabe beurteilen zu können.

Um das zu ändern, müssen Geldgeber, Politiker, NGOs und Einheimische endlich eine transparente Debatte über Fehler in der Entwicklungszusammenarbeit führen, und sie müssen willens sein, gemeinsam Lernprozesse anzustoßen. Dabei gibt es keine Patentlösung, aber zumindest die Möglichkeit, es anders zu versuchen.

Dazu gehört etwa, dass unabhängige Gutachter die Projekte evaluieren. Denn oft finanzieren jene die Gutachten, die die Projekte ausführen, oder ihnen zumindest nahestehen. Entsprechend geschönt fällt so mancher Bericht aus.

NGOs sollten zudem falsche Anreize stoppen. Darunter fällt zum Beispiel das weitverbreitete Geschäft mit sogenannten Fortbildungsseminaren. Einheimische prügeln sich darum, teilnehmen zu dürfen, weil sie teilweise an einem Tag dank überzogener Sitzungsgelder mehr einnehmen, als sie sonst im ganzen Monat verdienen würden. Ob das Gelernte danach umgesetzt wird, interessiert kaum jemanden. So finden Tausende Workshops statt, ohne dass sie die Lage der Bevölkerung wesentlich verbessern.

Die Vergabe von Mitteln muss transparent sein für Geber und Empfänger

Auch sollten NGOs nur nach Rücksprache mit den Einheimischen Helfer entsenden. Diese sollten nützliches Wissen, Sprachkenntnisse und interkulturelle Kompetenz mitbringen. Ansonsten verpuffen die Ausgaben für den Experten nahezu wirkungslos. Es würde sich auch lohnen, über ein anderes Gehaltssystem für Ausländer und Einheimische nachzudenken, das sich am nachhaltigen Erfolg eines Projekts orientieren sollte.

Ein weiteres Hindernis für eine solide Zusammenarbeit zwischen Nord und Süd ist die zwanghafte Neigung der NGOs, das Budget in jedem Fall ganz auszugeben. Statt die Mittel bis zum Jahresende sinnlos zu „verbraten“, könnten diese beispielsweise in einen Fonds fließen, um den sich Einheimische mit kreativen Projekten bewerben könnten. Mehr Flexibilität in der Mittelverwendung wäre ohnehin angebracht. Weshalb sollte eine NGO eine Budgetlinie nicht anders verwenden dürfen, wenn sie während des Projekts dazulernt?

„Partnerschaft auf Augenhöhe“ ist ein Muss in der Entwicklungszusammenarbeit. Das bedeutet, die Menschen ernst zu nehmen, statt Geldgeschenke zu verteilen, sich mit der jeweiligen Kultur und den Gegebenheiten vor Ort auseinanderzusetzen und jene Partner zu suchen, die Verantwortung übernehmen wollen. So lässt sich deren Eigenständigkeit in allen Bereichen fördern. Das ist mühsam und zeitaufwendig, aber möglich. Dafür gibt es Beispiele: etwa jenen Unternehmer, der nach Abzug der NGO die Trinkwasserversorgung übernimmt, die Informatiker, die nach einer Ausbildung Universitäten digitalisieren, oder Firmen, die aus Plastikmüll Pflastersteine herstellen.

Für einen Kurswechsel ist es höchste Zeit. 2015 hat die UN-Generalversammlung die Agenda 2030 verabschiedet. Darin verpflichten sich die Staaten auf 17 Ziele, darunter weltweiten Zugang zu einem adäquaten Gesundheitssystem. Wenn die Agenda scheitert, trifft das auch die Industrienationen. Dafür bietet die Corona-Pandemie ein anschauliches Beispiel. Solange das Virus in armen Ländern grassiert, weil Impfstoffe und Intensivbetten fehlen, werden sich die reichen Staaten vermutlich mit weiteren Virus-Mutationen herumschlagen müssen.