Skip to main content
For a different development policy!

Beitrag vom 22.01.2022

NZZ ONLINE

Dänemark

Mattias Tesfaye: «Die Hälfte der Asylbewerber in Europa ist in keiner Weise schutzbedürftig, und es sind mehrheitlich junge Männer»

Sein Vater kam als äthiopischer Flüchtling nach Dänemark, er selber war Maurer und linker Gewerkschafter. Heute vertritt der dänische Integrationsminister Mattias Tesfaye die wohl härteste Einwanderungspolitik Europas. Im Interview erklärt er, warum.

Geht es um die dänische Migrationspolitik, überbieten sich deutschsprachige Medien und Politiker mit Warnrufen und Schreckensnachrichten. Die sozialdemokratische dänische Regierung, so der Tenor, untergrabe die Prinzipien der Flüchtlingspolitik, verabschiede sich von europäischen Werten und betreibe eine grausame, rassistische Politik. Dies unter anderem, weil die Dänen Asylgesuche künftig in Drittländern prüfen lassen wollen, um illegale Migration zu unterbinden.

Verkörpert wird diese Politik ausgerechnet von einem Mann, der selber afrikanische Wurzeln hat: Mattias Tesfaye, seit 2019 Minister für Einwanderung und Integration. Einst Maurerlehrling und Aktivist einer kommunistischen Splitterpartei, wechselte er 2012 zu den Sozialdemokraten – und prägte deren migrationskritische Wende massgeblich mit. Zum Zoom-Gespräch mit der NZZ erscheint «Migrationsminister Zero» in Hemd und Krawatte, er spricht Englisch mit leichtem nordischem Akzent. «Die Schweiz kenne ich nur ein bisschen, weil ich einmal in Genf gelebt habe», sagt er, «meine Erinnerung ist, dass es extrem teuer war und viele Ausländer gab, die sich zu Konferenzen trafen.»

Herr Tesfaye, vielleicht wissen Sie es nicht, aber für viele deutschsprachige Medien und linke Politiker sind Sie das personifizierte Böse: ein Sozialdemokrat mit Migrationshintergrund, der den Islam kritisiert und schlecht integrierte Ausländer dazu zwingen will, dreckige Jobs zu machen. Wie gehen Sie damit um, dass Sie von Ihren eigenen Genossen als Verräter und Rassist beschimpft werden?

Eigentlich lese ich die deutsche Presse jeden Tag, vor allem die «Bild»-Zeitung, jedoch nur den Sportteil. Aber ernsthaft: Ich habe die dänische Migrationsgeschichte studiert. Und es ist offensichtlich für jeden, der sich dafür interessiert, dass die Linke und die Gewerkschaften die Migration in den 1960er Jahren sehr skeptisch sahen, wegen der Konkurrenz auf dem Arbeitsmarkt. Es war die politische Rechte, die damals die Grenzen für Fremdarbeiter öffnen wollte. In den 1980er und 1990er Jahren kehrte sich die Sache um: Nun war es die Linke, die die Grenzen öffnen wollte, während sie die Rechte schliessen wollte.

Warum kehrten die dänischen Sozialdemokraten ab den 2000er Jahren zu einer migrationskritischen Sicht zurück?

Wenn Sie den historischen Hintergrund betrachten, ist es völlig normal für linke Politiker wie mich, nicht gegen Migration zu sein, aber darauf zu bestehen, dass sie unter Kontrolle ist. Falls sie das nicht ist – und sie war es nicht ab den 1980er Jahren –, zahlen Schlechtverdiener und schlecht gebildete Leute den höchsten Preis für eine Integration, die nicht funktioniert. Es sind nicht die reichen Quartiere, die am meisten Kinder integrieren müssen. Vielmehr müssen Gebiete, in denen die klassischen sozialdemokratischen Wähler und Gewerkschafter leben, mit den grössten Problemen umgehen.

Was war für Sie der Wendepunkt, als Sie Migration erstmals als Problem wahrgenommen haben?

Ich bin 1981 geboren und in Aarhus aufgewachsen, einer Stadt mit sehr vielen Sozialwohnungen und vielen Ausländern aus der Türkei, dem Irak, aus Somalia oder Pakistan. Meine Freunde waren Dänen und Migranten. Als wir 18 waren, wurden einige meiner Freunde plötzlich mit Cousinen aus der Türkei verheiratet, damit ihre Verwandten nach Dänemark kommen konnten. Mit ihren dänischen Freundinnen mussten sie Schluss machen. Ich erinnere mich, dass ich das seltsam fand: Heiraten als blosses Werkzeug für Einwanderung. Ich war neugierig, warum das geschah. Aber es war noch kein persönlicher oder politischer Wendepunkt.

Aber es war das erste Mal, dass Sie Migration infrage gestellt haben?

Ja. Etwa zur gleichen Zeit entschied der Bürgermeister meiner Stadt, dass die Schulklassen stärker durchmischt werden sollten. Sprich, es sollte weder Schulen mit migrantischer Mehrheit geben noch Schulen ohne Migranten. Ich war damals in der extremen Linken aktiv, und ich ging an eine Demonstration gegen den Bürgermeister. Es war am 9. November, dem Jahrestag der Reichspogromnacht, und wir beschimpften den Bürgermeister als Rassisten. Gleichzeitig wusste ich, dass seine Politik in meiner Schule funktionierte – etwa für meinen Kollegen Mustafa und andere Kinder. Diese waren aus einem armen Quartier zu uns gekommen, sie fanden neue Freunde und lernten sehr schnell Dänisch. Ich hatte also schizophrene Gefühle. Erst 2015, als ich Parlamentarier wurde, war ich gezwungen, diese Gefühle zu materialisieren. Ich war geschockt über die vielen Asylbewerber, die nach Dänemark, Schweden, Deutschland oder Österreich kamen.

Ihre Regierung hat das Ziel, dass null Asylbewerber nach Dänemark kommen. Ist ein solches Ziel nicht zynisch, wenn Sie sehen, wie viele Menschen weltweit auf der Flucht sind?

Sehen Sie, vor zehn Jahren gab es gemäss den Vereinten Nationen weltweit rund 40 Millionen Flüchtlinge. Jetzt sind es mehr als 80 Millionen. Es gibt keinen Zusammenhang zwischen den Asylbewerberzahlen in Europa und den schutzbedürftigen Flüchtlingen auf der Welt. Wenn wir Flüchtlingen helfen wollen, müssen wir sie im Rahmen von Uno-Programmen in Europa und in Dänemark ansiedeln, und wir müssen sehr viel mehr Geld ininternationale Programme investieren. Das heutige Asylsystem ist Teil des Problems, nicht der Lösung.

Warum?

Die Hälfte der Asylbewerber in Europa ist in keiner Weise schutzbedürftig, und es sind mehrheitlich junge Männer. Wenn sie abgelehnt werden, verursacht das einen Haufen Probleme und Kosten. Jedes Mal, wenn jemand das Asylrecht beantragt, ist das Teil des Problems. Flüchtlinge sollten nach humanitären Kriterien ausgewählt werden. In Dänemark nehmen wir derzeit Leute aus Kongo und aus Burundi auf. Sie kommen aus Auffanglagern in Rwanda, es sind sexuelle Minderheiten oder Frauen mit Kindern.

Die dänische Politik wird in Europa harsch kritisiert. Welche Rückmeldungen erhalten Sie von anderen Ministern und Kollegen?

Sehr unterschiedliche. Einige sind gegen unsere Politik, andere sagen: «Wenn wir könnten, würden wir dasselbe tun.»

Sagen sie das öffentlich?

Nein, weil Dänemark einige Punkte der europäischen Gesetzgebung ausgeklammert hat. Das macht es möglich für uns, Asylgesuche in Drittstaaten zu prüfen. In Deutschland, Schweden und anderen Ländern ist das nicht möglich, weil sie diese Klauseln nicht haben. Deshalb versuche ich meinen europäischen Kollegen nahezulegen, dass sie die Gesetzgebung ändern und dasselbe tun sollten.

Sie haben Schweden erwähnt, das Dänemark geografisch und kulturell nahe ist. Schweden hat erhebliche Probleme mit Migration. Wie erklären Sie sich die Tatsache, dass die Leute in Dänemark sensibler für das Thema sind, obwohl es weniger Migranten gibt?

Es gibt vor allem Unterschiede in der Gesetzgebung. Aber in den letzten Jahren sind diese zunehmend kleiner geworden. Zum Beispiel hat früher in Schweden jeder Flüchtling eine unbefristete Aufenthaltsbewilligung bekommen. Jetzt gibt es nur noch eine temporäre. Manchmal werden Unterschiede grösser gemacht, als sie sind. Vielleicht, weil es dafür auf beiden Seiten ein politisches Interesse gibt. Wenn Sie die Zahlen in Dänemark anschauen, nimmt die Kriminalitätsrate ab, der Bildungs- und der Beschäftigungsgrad dagegen steigen. Die Zahl der Gebiete, die als «Ghettos» eingestuft werden, sinkt dramatisch. Ich bin absolut sicher, dass wir dieselben Integrationsprobleme hätten, wenn wir die gleichen Einwanderungszahlen wie unsere Nachbarn verzeichneten.

2020 kamen nur 1500 Asylsuchende nach Dänemark. Kann man da wirklich von einem Problem sprechen?

Um es ganz klar auszudrücken: Unser Null-Ziel betrifft Asylsuchende, nicht Flüchtlinge. Ich weiss, dass die deutsche Presse so tut, als wäre das dasselbe, aber es ist nicht dasselbe. Wir streben ein internationales Asylsystem an, in dem den Leuten in der Nähe von Konfliktgebieten geholfen wird. In Afghanistan zum Beispiel brauchen die Leute Geld, um durch den Winter zu kommen. Gleichzeitig müssen wir Flüchtlinge in Europa ansiedeln. Aber wir wollen sichergehen, dass die Leute, die in Kopenhagen landen, wirklich Flüchtlinge sind, die von der Uno ausgewählt worden sind – und nicht von Menschenschmugglern.
Dieses System funktioniert nur, wenn Sie in Afrika oder dem Nahen Osten Partner haben. Dänemark verhandelt mit mehreren Staaten, wie stehen die Chancen auf eine Einigung?

Genau, wir suchen einen Partnerstaat für ein Zentrum, in dem Asylsuchende ihre Anträge stellen können, im Rahmen internationaler Gesetze. Im Moment kann ich Ihnen nicht sagen, mit wem wir verhandeln, aber ich kann Ihnen sagen, dass es in die richtige Richtung geht.

Die Afrikanische Union hat Ihre Pläne kürzlich als «inakzeptabel» und «xenophob» bezeichnet. Das sind nicht die besten Voraussetzungen.

Eines ist sehr wichtig für mich: Wir sind ein europäisches Land, und wir haben in Europa eine rassistische und kolonisatorische Vergangenheit. Und wegen dieser Geschichte können wir unsere Probleme auch nicht einfach in ein anderes Land auslagern und dafür viel Geld zahlen. So geht das nicht.
Sondern?

Es muss eine richtige Zusammenarbeit geben mit unserem Partnerland. Migration betrifft diese Länder auch, weil sie viele junge Männer verlieren, und die Industrie der Menschenschmuggler ist ein Problem. Das müssen wir berücksichtigen. Zum Beispiel, indem unser Partnerland ein Asylzentrum betreibt, während wir es jungen Leuten erlauben, in Dänemark zu studieren. So wird die legale Migration, aber auch die Entwicklungszusammenarbeit gefördert. Wir hoffen, dass dieses Modell ein Musterbeispiel für andere Länder wird.

Sie haben einmal gesagt, es gebe in Dänemark keine Probleme mit Leuten aus Südamerika oder dem Fernen Osten, aber mit Migranten aus dem Mittleren Osten und Nordafrika. Können Sie das begründen?

Ich habe keine Probleme mit Migranten aus dem Mittleren Osten. Mir ist es egal, ob jemand aus den Philippinen oder dem Irak kommt. Ich beurteile eine Person danach, was sie ist und was sie tut. Und danach, was sie zur dänischen Gesellschaft beiträgt. Aber die dänische Gesellschaft hat Probleme mit zu viel Migration aus dem Mittleren Osten, und als Minister muss ich die Konsequenzen dieser Migration berücksichtigen. Eine davon ist, dass sie eine grosse ökonomische Herausforderung ist.

Wie meinen Sie das genau?

Wenn wir analysieren, welche Gruppen von Migranten zu einem nachhaltigen Wohlfahrtsstaat beitragen, sehen wir, dass wir keine Probleme mit Leuten aus Thailand, China oder Indien haben. Sie sind Nettozahler für die dänische Wirtschaft. Und das ist nur die ökonomische Seite der Statistik.

Spielen Sie auf die Kriminalitätsstatistik an?

Die grosse Mehrheit der Muslime ist nicht kriminell. Wichtiger ist eine mangelnde kulturelle Integration: die Bereitschaft, demokratische Werte zu leben, die Gleichberechtigung von Mann und Frau zu akzeptieren oder dass eine Religion niemals über dem Gesetz steht. Oder dass Kinder und Jugendliche das Recht haben, ihre Religion nach eigenem Gutdünken zu leben, und dass sie heiraten können, wen immer sie wollen.
2015 gab es in Dänemark islamistische Terrorakte. Ein jüdischer Wachmann wurde vor einer Synagoge getötet.

Wie gross ist das Problem des Antisemitismus heute?

Wenn Sie einen Durchschnittsdänen fragen, wird er wohl antworten, dass es keine grosse Sache ist. Aber wenn Sie die jüdischen Gemeinschaften fragen, in Kopenhagen oder auch in Aarhus, wird man Ihnen eine andere Antwort geben. Die jüdischen Schulen, aber auch die Gemeinden sind in einem Masse mit Antisemitismus konfrontiert, das es früher nicht gab. Und das ist wegen der Migration. Deshalb will die dänische Regierung einen Plan gegen Antisemitismus ausarbeiten, zum Schutz jüdischer Gemeinden, Schulen, Institutionen und Friedhöfe. Die jüdische Kultur ist ein wichtiger Teil unserer Geschichte.

Um den Islamismus zu bekämpfen, will Ihre Regierung Geistlichen vorschreiben, nur noch auf Dänisch zu predigen.

Das Gesetz ist in Planung, aber wir haben es dem Parlament noch nicht vorgelegt. Es ist Teil verschiedener Gesetze, mit denen wir die Unterwanderung der Demokratie verhindern wollen. Letztes Jahr haben wir ein Gesetz verabschiedet, das es religiösen Institutionen verbietet, Geld von undemokratischen Personen, Organisationen oder Regierungen anzunehmen. Schon seit einigen Jahren hindern wir antidemokratische Prediger an der Einreise. Wenn ein britischer Imam hierherkommen will, um gegen Juden oder Homosexuelle zu hetzen, können wir ihn am Flughafen zurückweisen oder dafür sorgen, dass er in Heathrow gar nicht erst ins Flugzeug steigt.

Die Schweiz hat den Bau von Minaretten in einer Volksabstimmung verboten. Verstehen Sie das, oder geht es für Sie zu weit?

Ich kann absolut verstehen, dass wir diese Diskussion in Europa führen. Wir müssen einen Weg finden, damit unsere Bürger ihre Religion leben können, auch den Islam. Aber niemand soll Religion dazu missbrauchen, um unsere Gesellschaft zu verändern. Diese Diskussionen über Minarette, Gebetsrufe, Schweinefleisch in öffentlichen Institutionen und so weiter drehen sich um die gleiche Frage: Wie können Muslime ihre Religion leben, ohne mit der umliegenden Gesellschaft in Konflikt zu geraten? Ich bin optimistisch, aber nochmals: Es wird schwierig zu bewältigen, wenn jedes Jahr eine grosse Zahl von Migranten aus dem Mittleren Osten zu uns kommt. Dann werden wir jedes Mal von vorn beginnen müssen, unsere Kultur zu erklären.

Ihr Vater kam als äthiopischer Flüchtling nach Dänemark. Haben Sie selber Rassismus erlebt?

Nein, das würde ich so nicht sagen. Natürlich habe ich einige dumme Dinge gehört. Aber ich denke, alle jungen Menschen werden manchmal mit solchen Dingen konfrontiert. Ich hatte eine gute Schule, eine gute Fussballmannschaft, eine gute Sozialwohnung und eine gute Lehre als Maurer. Das war ein guter Start in mein Leben.

Wenn Ihre gegenwärtige Politik in den 1970er Jahren umgesetzt worden wäre, hätte Ihr Vater vielleicht nie nach Dänemark kommen können. Wie leben Sie mit dem Widerspruch, dass Sie vielleicht nie geboren worden wären, wenn Ihre Asylpolitik damals gegolten hätte?

Nun, die Politik war damals anders, weil die Migration anders war. Als mein Vater in Frankfurt ankam und den Zug nach Dänemark nahm, hatte weniger als ein Prozent der dänischen Bevölkerung einen Migrationshintergrund. Jetzt sind wir bei etwa zehn Prozent. Es ist schwierig, die frühen 1970er Jahre mit dem Jahr 2022 zu vergleichen. Denn die Gesetzgebung muss Antworten auf die heutigen Herausforderungen geben. Und in den frühen 1970er Jahren war die dänische Gesellschaft nicht mit der Migration konfrontiert.

Warum ist Ihr Vater nach Dänemark gekommen?

Wegen politischer Unruhen in Äthiopien. Er war ein politischer Flüchtling.

In der Schweiz wird derzeit darüber diskutiert, ob Kinder von Migranten automatisch eingebürgert werden sollen. Finden Sie das eine gute Idee?

Das ist eine alte Diskussion. Traditionell gibt es zwei Möglichkeiten, Staatsbürger zu werden: durch Geburt, wie in den USA, oder durch Blutsverwandtschaft, wie in Europa. Aufgrund der Einwanderung müssen wir über Möglichkeiten für Migranten diskutieren, Bürger zu werden. In Dänemark ist die Philosophie, dass man Bürger wird, wenn man integriert ist. Und dann kann man darüber debattieren, was es heisst, integriert zu sein: Dänisch sprechen, keine schweren Straftaten begehen, einen Job haben, mit einer dauerhaften Aufenthaltsgenehmigung für zwei oder drei Jahre hier leben. Ich denke, das ist der richtige Weg. Aber ich weiss, dass es andere Länder gibt, die die Staatsbürgerschaft als Motivation für die Menschen nutzen wollen, sich zu integrieren. Dann ist sie nicht das Geschenk am Ende des Integrationsweges. Sie ist eine Möglichkeit, Menschen zu motivieren. Ich denke, das ist der falsche Weg. Die Staatsbürgerschaft sollte am Ende des Weges stehen, nicht am Anfang.