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Beitrag vom 04.02.2022

WELTWOCHE DAILY

Ob Corona-Politik oder Migration – die Dänen schwimmen gegen den Strom und machen alles richtig. Wie schaffen sie das?

Wolfgang Koydl

Nachdem sie Dänemark erobert hatten, wiesen die deutschen Besatzer die Juden an, sich mit einem sichtbaren Judenstern an der Kleidung erkennbar zu machen. Doch die Massnahme ging nach hinten los: Am nächsten Tag waren in den Strassen offenbar nur Juden unterwegs. Alle Dänen hatten das Symbol angelegt, angefangen bei König Christian, der den Judenstern beim täglichen Ausritt so stolz trug wie einen hohen Orden. Der Befehl wurde widerrufen.

Die Anekdote sagt viel aus über Dänemark und die Dänen. Von ihren wortkargen skandinavischen Brüdern werden sie gerne als leichtlebig und frivol verspottet, als «Sizilianer des Nordens». Doch tatsächlich eint sie ein hoher Sinn sozialer Verantwortung. Ihr Gemeinschaftsgefühl ist genauso stark ausgeprägt wie ihr Gerechtigkeitsempfinden. Als kleines Volk wissen sie, dass sie zusammenstehen müssen. Sie sind mutig, und sie sind stolz auf ihr Land. Der Dannebrog, die dänische Flagge, weht in jedem Garten.

Das erinnert an die Eidgenossenschaft, und tatsächlich werden die Dänen oft auch als «Schweizer ohne Berge» bezeichnet. Doch das stimmt nicht ganz. Im Gegensatz zu den höflichen Eidgenossen pflegen Dänen im täglichen Umgang eine derart brutale Direktheit, dass selbst die nicht für ihr Taktgefühl bekannten Deutschen davor zurückprallen. Dänen entschuldigen sich so gut wie nie, und für «bitte» haben sie noch nicht einmal ein eigenes Wort.

Diese Eigenschaft erlaubt es ihnen freilich, auch unbequemen Wahrheiten ins Gesicht zu sehen und unangenehme Taten ohne Umschweife anzupacken. Im Allgemeinen fährt man damit gut, und nirgends sieht man dies derzeit deutlicher als im Umgang der Dänen mit den zwei grössten Herausforderungen unserer Zeit: der Corona-Pandemie und der Migrantenkrise.

In beiden Fällen schwimmt die Politik in Kopenhagen gegen den europäischen Mainstream. Trotz steigender Inzidenzen wurden diese Woche alle Corona-Beschränkungen aufgehoben – was in Berlin, beim grossen Nachbarn im Süden, Fassungslosigkeit hervorgerufen hat. Und in der Migrantenfrage fährt Dänemark seit langem einen harten Kurs, härter als sogar das verteufelte Ungarn. «Null Zuwanderung» – so unmissverständlich hat Ministerpräsidentin Mette Frederiksen das Ziel formuliert.

Anders als Deutschland oder Schweden erlag Dänemark auch in der Vergangenheit nicht der Flüchtlingseuphorie. Zweifel am Sinn multikultureller Bereicherung entstanden schon Ende der neunziger Jahre mit Flüchtlingen aus den Balkankriegen. Der Terror nach den Anschlägen vom 11. September und vor allem die Grenzöffnung der deutschen Kanzlerin Angela Merkel 2015 verhärteten die Positionen zusätzlich.

Zunehmend bestimmte die einwanderungskritische Dänische Volkspartei den Kurs. Sie war zwar nicht an der Regierung beteiligt, doch im zersplitterten Folketing, dem Parlament mit seinen derzeit siebzehn Parteien, waren Regierungen immer auf ihre Unterstützung angewiesen.

Erstaunlich für Aussenstehende ist indes, dass mit Frederiksen ausgerechnet eine Sozialdemokratin die Zügel noch schärfer anzieht. Zu Beginn ihrer steilen Karriere sah die 44-Jährige das noch anders. Schliesslich stammt sie aus einer Familie, die bereits seit drei Generationen in der Arbeiterbewegung verankert ist. In ihrer Jugend war sie extrem links, engagierte sich in der Anti-Apartheid-Bewegung und für Afrika. Für sie gab es, so alte Weggefährten, nur Schwarz oder Weiss.

Verpflichtung zum Handschlag

Die Dänen entschuldigen sich so gut wie nie. Und für «bitte» haben sie noch nicht einmal ein eigenes Wort.

Das änderte sich, als sie in Partei und Politik aufstieg und bald Ministerposten in verschiedenen Regierungen übernahm. Im harten Regierungsalltag erkannte sie, dass es in der Politik viele Schattierungen gibt. Vor allem galt das in der Ausländerpolitik, zumal da – wie Frederiksen eingestand – 75 Prozent der Dänen in dieser Frage für eine harte Hand seien.

Daher gilt in Dänemark, was eigentlich eine Selbstverständlichkeit sein sollte: Asyl wird ausschliesslich für die in der Genfer Flüchtlingskonvention angeführten Gründe gewährt: Gefahr an Leib und Leben aus religiösen, rassischen oder politischen Gründen. Wirtschaftsflüchtlinge werden sofort abgewiesen. Gemeinsam mit Grossbritannien untersucht Kopenhagen zudem Möglichkeiten, dass sich Asylbewerber für die Dauer der Bearbeitung ihrer Anträge in Ländern ausserhalb Europas aufhalten müssen. Es gibt Gespräche mit Ruanda, Ägypten und Äthiopien.

Für Empörung in der EU-Kommission sorgen aber auch andere Massnahmen: Beim Grenzübertritt müssen Migranten Geld, Schmuck und andere Wertsachen abgeben, die gegen Sozialleistungen verrechnet werden. In Schulen darf nur noch Dänisch unterrichtet werden. Bei Einbürgerungszeremonien sind Neu-Dänen zum Handschlag mit dem Beamten verpflichtet.

Im Gegensatz zu Sozialisten, Grünen und Sozialdemokraten anderswo in Europa verknüpft Frederiksen ihre Haltung mit ihren sozialdemokratischen Überzeugungen: «Es wird mir zunehmend klar, dass der Preis für unregulierte Globalisierung, Massenzuwanderung und Personenfreizügigkeit von den unteren Klassen bezahlt wird.» Mit anderen Worten: Wollen die Sozialdemokraten ihre traditionellen Wähler nicht an die Le Pens, Weidels oder Orbáns dieser Welt verlieren, dürfen sie nicht weiter deren Interessen verraten.

Unterstützt wird Frederiksen von ihrem Integrationsminister Mattias Tesfaye. Der gelernte Maurer ist Sohn einer Dänin und eines äthiopischen Migranten. Trotz seines Amtstitels befürwortet auch er das Prinzip seiner Chefin: Repatriierung statt Integration. Vor allem der Islam gilt in Dänemark als Integrationshindernis. Auch Tesfaye ist überzeugt, dass der «sozialdemokratische Wohlfahrtsstaat nur überleben [kann], wenn wir die Migration unter Kontrolle haben». Und er fügt hinzu. «Die Hälfte aller Migranten verdient keinen Schutz.»

Seitdem sorgen er und Frederiksen bei ihren europäischen Genossen für Irritationen und Verärgerung. Als erstes Land der EU erklärte Dänemark im März vergangenen Jahres Syrien für sicher. Da es keinen Grund mehr gebe, nicht in ihre Heimat zurückzukehren, verloren syrische Flüchtlinge ihren Schutzstatus. Abgeschoben werden sie zwar nicht, aber sie leben in Deportationszentren und dürfen nicht arbeiten.

Detaillierte Kosten-Nutzen-Rechnung

Andere Migranten hingegen werden nach einer neuen Bestimmung zu Arbeiten herangezogen, wenn sie seit drei Jahren staatliche Unterstützung beziehen, sich um keinen Job bemühen und immer noch nicht Dänisch sprechen. «Wir wollen eine neue Arbeitslogik einführen, bei der die Menschen die Pflicht haben, einen Beitrag zu leisten und sich nützlich zu machen», begründete Tesfaye die Massnahme. «Und wenn sie keine reguläre Arbeit finden, müssen sie für ihre Zuwendungen arbeiten.»
Dies entspricht dem tiefverwurzelten Gemeinschaftsgefühl der Dänen. Sie achten darauf, ob etwas für die Gesellschaft insgesamt nützlich ist oder nicht. In einem Land, in dem skattefar – der «Steuerpapa» – den Bürgern ziemlich tief in die Taschen greift, möchte man schon wissen, wer wie viel wofür bekommt.

In diesem Sinne veröffentlichte das Finanzministerium im Oktober letzten Jahres einen Bericht, in dem detailliert eine Kosten-Nutzen-Rechnung der Migranten erstellt wurde. Demnach kosteten Zuwanderer aus dem ausser-europäischen Ausland den Staat umgerechnet 4,3 Milliarden Franken – 1,4 Prozent des Bruttosozialprodukts. Westliche Einwanderer hingegen spülten eine Milliarde Franken in die Staatskasse. Besonders liegen die Muslime auf der Tasche: Sie stellen 50 Prozent der Migranten und verursachen 77 Prozent der Ausgaben.

Das Gefühl sozialer Verantwortung steckt auch hinter der lockeren Corona-Politik. «Heute können wir uns entspannen und unser Lächeln wiederfinden», versprach Mette Frederiksen, als sie die Aufhebung aller Einschränkungen verkündete. «Wir heissen unser Leben, wie wir es vor Covid-19 kannten, wieder willkommen.»

Voraussetzung dafür war aber der Dienst jedes Einzelnen an der Gemeinschaft: Fast jeder Däne ist geimpft. Die Gründe mögen unterschiedlich sein – aus Angst vor Ansteckung und Krankheit, aus dem Wunsch nach dem Rückgewinn persönlicher Freiheiten oder aus Rücksicht auf andere. Letztlich geschah es aus Solidarität. So wie mit dem Davidstern gegen die deutschen Besatzer.