Beitrag vom 08.08.2022
FAZ
WAHL IN KENIA
Schrubbende Politiker und fehlende Geldscheine
Die Präsidentenwahl in Kenia wird historische Bedeutung haben. Kurz vor der Abstimmung liegen die beiden Kandidaten in Umfragen Kopf an Kopf.
Von Claudia Bröll
Margaret Nganyi steht schon seit fünf Uhr morgens im Kasarani-Stadion in Nairobi bereit. Ganz in Orange hat sie sich gekleidet, von der Kappe bis zum langen Rock. Eine Kette aus Orangen hängt um ihren Hals – die Früchte sind das Symbol der Partei von Oppositionsveteran Raila Odinga, der am Samstag in dem Stadion seine letzte Kundgebung vor den Präsidentenwahlen am Dienstag abgehalten hat. Es wird ein enges Rennen zwischen ihm und dem Vizepräsidenten William Ruto erwartet. Der amtierende Präsident Uhuru Kenyatta tritt nach zwei Amtszeiten nicht mehr an.
Für „Mama Chungwa“, also „Mama Orange“, wie sich die ältere Dame nennt, ist es ein großer Tag. Seit 1990 ist sie eine leidenschaftliche Anhängerin Odingas. Viermal hat der heute 77 Jahre alte Politiker vergeblich versucht, das höchste Amt in dem afrikanischen Staat zu erlangen. Aus Nganyis Sicht wurden ihm die Siege jedes Mal gestohlen. „Ich bin so glücklich und so darauf erpicht, Raila Odinga zu unterstützen“, sagt sie. „Ich will, dass dieses Land sicher in seinen Händen ist, für meine Kinder und Enkelkinder.“
Die 60 000-Zuschauer-Arena ist für ein großes Spektakel hergerichtet. Hunderte Luftballons hängen in Netzen an den Tribünen. Eine Bühne wurde aufgebaut wie für ein Rockkonzert. Der Slogan „Baba 5th“ prangt überall: Bei einem Sieg wäre Odinga der fünfte Präsident Kenias, „Baba“ bedeutet „Vater“. In Scharen strömen seine Anhänger in das Stadion, erzeugen mit ihren Vuvuzelas und Trillerpfeifen einen Höllenlärm.
Etwa 17 Kilometer südwestlich laufen gleichzeitig die letzten Vorbereitungen im Nyayo-Stadion für den Auftritt seines Gegners Ruto. Schon die Gehwege dorthin sind mit gelb-grünen Wahlplakaten bedeckt, niemand scheint sich daran zu stören, auf das Porträt des Vizepräsidenten zu treten. Drinnen haben die Anhänger die Ränge in eine gelb-grüne Farbkulisse verwandelt. Kleinhändler nutzen ihre Chance im Trubel, verkaufen Schals, Hüte, Fahnen und hartgekochte Eier.
Die Auftritte sind die Schlusspunkte eines turbulenten Wahlkampfs. Mit allen Mitteln rangen Ruto und Odinga bis zuletzt um den Einzug ins Harambee House, den Präsidentenpalast. Um Inhalte ging es am Ende nicht mehr, die beiden Männer zankten sich um einen Auftritt im Nyayo-Stadion, das wohl doppelt gebucht worden war. Sie beschimpften einander als Lügner, bezichtigten sich gegenseitig der Korruption. Vor einem Fernsehduell sagte Odinga kurzfristig seine Teilnahme ab: Er könne nicht mit einem Mann diskutieren, der „keine Ethik, keine Moral und kein Schamgefühl“ habe. Der Vizepräsident konterte: „Mein Konkurrent ist ein Feigling, er kann sich mir nicht stellen, weil er keine Agenda hat.“ Wie in früheren Wahlen mehrten sich Fake News in den sozialen Medien gegen Ende des Wahlkampfs. Aus unerfindlichen Gründen wurden plötzlich 200-Schilling-Banknoten knapp, jede hat einen Wert von umgerechnet 1,60 Euro. Der Innenminister beschuldigte Stimmeneintreiber der Parteien, die Scheine als Wahlgeschenke zu horten.
Odinga, Kenyatta, Ruto. Es sind die gleichen Namen, die seit Jahren in Wahlen in Kenia auftauchen. Trotzdem wird diese Stimmabgabe anders sein. Das liegt am „Handshake“: Im Jahr 2018 hatte Präsident Kenyatta überraschend mitgeteilt, nicht seinen Stellvertreter Ruto zu unterstützen, sondern seinen vorigen Erzrivalen Odinga. Schon ihre Väter waren erbitterte Feinde, nachdem sie erst gemeinsam gegen die britische Kolonialmacht gekämpft hatten. Odinga und Kenyatta preisen den Handschlag als Akt der Versöhnung und Beitrag zum Frieden. Skeptiker indes vermuten, Kenyatta wolle die Fäden weiter in der Hand behalten.
Ruto wiederum stand Odinga in den Wahlen 2007 zur Seite, jetzt tritt er gegen ihn an. Die offiziell verkündete Wahlniederlage damals löste schwere Unruhen aus. Ruto wurde wegen Anstachelung zur Gewalt vor dem Internationalen Gerichtshof angeklagt, die Klage wurde später aber aus Mangel an Beweisen fallen gelassen.
Politische Seitenwechsel sind in Kenia nicht ungewöhnlich. „Für die politische Elite gibt es keine permanenten Freunde oder Feinde, nur permanente Interessen“, sagt Karuti Kanyinga, Professor an der Universität Nairobi. Der Handschlag hat jetzt zu einer Konstellation geführt, die der Politikwissenschaftler als „historisch“ bezeichnet: Erstmals seit 1963 ziehen die zwei Volksgruppen, die sich 2007 bekriegt und das Land ins Chaos gestürzt hatten, an einem Strang. Kenyatta gehört zur größten Volksgruppe in Kenia, den Kikuyu; Odinga ist ein Luo, das ist die drittgrößte Gruppe.
Der Wahlkampf war daher nicht von der Hetze gegen Ethnien geprägt. Auch das ist neu in Kenia. Stattdessen hatte Ruto einen Klassenkampf unter dem Motto „Hustler gegen Dynastien“ ausgerufen. „Hustler“, damit sind hart arbeitende arme Menschen gemeint; „Dynastien“ spielt auf die Odingas und Kenyattas an. Immer wieder erzählt Ruto, selbst den Aufstieg von ganz unten geschafft zu haben: vom Jungen, der Hühnchen auf der Straße verkaufte, zum Geschäftsmann, Großgrundbesitzer und zu einem der größten Maisbauern des Landes.
Die Strategie half auch dabei, von zahlreichen Korruptionsvorwürfen gegen ihn abzulenken. Gleichzeitig entfachte sie einen regelrechten Hustler-Rausch. Kandidaten, die für Sitze im Parlament oder auf lokaler Ebene antreten, schrubbten Toiletten, hackten Gemüse, kochten Tee. Mit der Realität freilich hatte das nichts zu tun. Der Einstieg in die Politik ist in Kenia sehr kostspielig. Für einen Sitz im Parlament bringt so mancher Kandidat Hunderttausende Dollar für die Zulassung und den Wahlkampf auf. Wer kein eigenes Geld hat, braucht zahlungskräftige Spender.
Vor dem Nyayo-Stadion hat James Gachuhi säckeweise kleine Schubkarren aus Pappe herangeschafft. Die Schubkarre ist das Symbol der Hustler-Kampagne. Mehr als 1000 habe er gebastelt, berichtet der Künstler, der sonst Bilder und Skulpturen erstellt. Einige will er verkaufen, 20 hat er bisher verschenkt. „Ich will Ruto damit unterstützen. Ich mag ihn“, sagt er. „Dieses Land braucht einen Wandel. Die Kenyattas und Odingas haben schon viel zu lange zu viel Einfluss.“
Abseits vom Getöse sind der Anstieg der Lebenshaltungskosten, die hohe Arbeitslosigkeit und die Korruption die Themen des Wahlkampfs gewesen, wobei sich die Antworten der Hauptkandidaten nicht dramatisch voneinander unterscheiden. Odinga verspricht etwa armen Familien 6000 Schilling, umgerechnet etwa 50 Euro, im Monat. Ruto stellt Kleinunternehmern Kredite in Aussicht.
Prognosen über den Wahlsieger sind schwierig. Derzeit liegt Odinga in Umfragen mit 49 Prozent der Stimmen vorne, Ruto folgt mit 41 Prozent. Die übrigen Kenianer sind unentschlossen oder wollen gar nicht wählen. Glaubt man den Umfragen, kommt Ruto bei jüngeren Kenianern an, die von einem Aufstieg träumen. Einige Kenianer halten den 55 Jahre alten Politiker auch für dynamischer als den 22 Jahre älteren Odinga. Unter den Kikuyu wiederum misstrauen viele dem Handschlag und befürchten Nachteile unter einem Luo-Präsidenten.
Odinga indes hat eine über Jahrzehnte gewachsene, fest eingeschworene Fangemeinde. Seine Anhänger sehen in ihm den unermüdlichen Kämpfer für eine Demokratie mit Parteienvielfalt, dessen Stunde endlich gekommen ist. Dank des Schulterschlusses mit Kenyatta hat er außerdem die Rückendeckung von Wirtschaftszirkeln unter den Kikuyu. Vergünstigungen aus der Staatskasse wie jüngst die Subventionen für Maismehl könnten ihm Stimmen armer Kenianer bescheren. Zwar werfen ihm Kritiker mit Blick auf die Korruption im Land vor, seit dem Bündnis mit Kenyatta nachsichtiger geworden zu sein gegenüber der Regierung. Nützen könnte Odinga aber die Wahl seiner prominenten Mitstreiterin: Die frühere Justizministerin Martha Karuo gilt als „Eiserne Lady“ im Kampf gegen die Korruption. Bei einem Wahlsieg wäre sie die erste Vizepräsidentin.
Für George Koyoo im Kasarani-Stadion steht der Gewinner der Wahl schon lange fest. „Wir müssen nicht hoffen, dass Odinga gewinnt. Baba ist der fünfte Präsident der Republik Kenia. Wir warten nur noch auf die Bestätigung durch die Wahl“, sagt der 27 Jahre alte Student. Er ist mit dem Bus aus dem knapp 500 Kilometer entfernten Mombasa angereist, hat die vorige Nacht im Stadion übernachtet. Für die kommende Nacht hat er auch keine Unterkunft, aber darüber macht er sich keine Gedanken. „Ich weiß, dass Baba mir einen Raum stellen wird.“ Wenn möglich, will er Odinga eine Petition der Studenten überreichen. „Wir haben Studienabschlüsse, aber bekommen keine Jobs. Daran ist die Korruption schuld. Baba ist der einzige Kandidat, der sich für uns interessiert. Wenn er gewinnt, wird alles gut.“
An beiden Orten mussten die Anhänger der jeweiligen Kandidaten am Samstag viel Durchhaltevermögen aufbringen. Sowohl Odinga als auch Ruto ließen auf sich warten, während Animateure und Musiker über Stunden die ausgelassen feiernden Mengen beschallten. Als die beiden endlich die Bühnen betraten, wurden sie in ihren jeweiligen Stadien wie Heilsbringer bejubelt. Überall im Land verfolgten die Bürger derweil im Fernsehen und auf Facebook die große Show. James Gachuhi hat am Ende 200 Schubkarren verkauft, Mama Chungwa war am Abend noch glücklicher als am Morgen. Und George Koyoo musste dann doch noch einmal im Stadion übernachten.