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Beitrag vom 12.05.2023

NZZ

An den Benin-Bronzen klebt Blut

Die Geschichte der Kunstschätze muss Teil der Restitutionsdebatte sein.

Von Brigitta Hauser-Schäublin

Weltweit befinden sich etwa 5200
Benin-Artefakte, die auf die britische
Strafexpedition gegen das Königreich
Benin von 1897 zurückgehen, in
öffentlichen Museen und Sammlungen.
Die am Museum Rietberg angesiedelte
Benin-Initiative Schweiz zählt 96
Objekte auf, die sich in acht Museumssammlungen
in der ganzen Schweiz befinden.
Davon stammen 53 Artefakte
nachgewiesenermassen oder vermutlich
aus dem Kontext der Strafexpedition
und ihrer Kriegsbeute. Nach
einem Treffen mit einer Delegation
aus Nigeria im Februar dieses Jahres
wurde in einer Erklärung festgehalten,
dass diese 53 Objekte dem «ursprünglichen
Besitzer» zurückgegeben werden
sollen.

Indessen lebt der «ursprüngliche
Besitzer» seit 1914 nicht mehr, und die
Welt hat sich seither auch in Westafrika
fundamental verändert. Im Klartext
bedeutet diese Absichtserklärung: Kulturgüter
aus Schweizer Museen sollen,
sozusagen am nigerianischen Staat vorbei,
Privateigentum eines staatsrechtlich
nicht mehr existierenden Königshauses
werden.

Mit dieser Erklärung marschiert die
Benin-Initiative Schweiz im Gleichschritt
mit der Benin-Dialog-Gruppe
und ihren tonangebenden Direktorinnen
deutscher Museen. Diese lieferten
mittels ihrer einäugigen Provenienzforschung
die Grundlage für den Entscheid
der deutschen Regierung, bedenken-
und bedingungslos die Eigentumsrechte
an sämtlichen in deutschen
Museen vorhandenen 1130 Objekten an
den nigerianischen Staat zu übertragen.
Aber der Traum platzte: Im März
machte der unmittelbar vor seinem
Amtsende stehende Staatspräsident
Muhammadu Buhari dem König von
Benin, dem Oba, ein Staatsgeschenk.
Das nationale Kulturgut, das die deutsche
Aussenministerin in rührseligen
Worten dem «nigerianischen Volk»
gewidmet hatte, wurde damit zu Privateigentum.
Der Wert der Benin-Bronzen, die
Nigeria aus Museen in aller Welt zurückfordert,
bewegt sich in einer Grössenordnung
– so die «New York Post» –
von dreissig Milliarden Dollar. Kein
Wunder, wenn hinter den Kulissen
der Politik Nigerias diese hochkarätigen
Objekte schon längst zu einem
politischen Zankapfel verschiedenster
Gruppierungen geworden waren. Welchem
Druck sich der Staatspräsident
kurz vor der Amtsübergabe mit seiner
autokratischen Handlung beugte, ist
unklar. Für Deutschland war es zweifellos
ein politisches Fiasko.

Westlich verklärte Sicht

Dafür mitverantwortlich ist eine einseitige,
aber in Deutschland offensichtlich
politisch gewollte, schablonenhaft
betriebene Form der Provenienzforschung,
die eine «Rückgabe» an die
«ursprünglichen Besitzer» zum Ziel hat.
Sie schliesst dabei sorglos Vergangenheit
und Gegenwart kurz, scheint das
Rad der Geschichte zurückdrehen zu
wollen, idealisiert und romantisiert vorkoloniale
soziopolitische Verhältnisse.

Sie geht leichtfertig darüber hinweg,
dass heute Staaten – und nicht «Königtümer
» – die rechtmässigen internationalen
Partner sind. Das gilt auch für die
Schweiz. So hofierte das Museum der
Kulturen in Basel einen Vertreter des
Königshauses Benin, «His Royal Highness
», und freute sich mit verklärtem
Blick, einen «Prinzen» im Museum begrüssen
zu dürfen. Man warte nur darauf,
dass aus Afrika Rückforderungsanträge
gestellt würden, hiess es vonseiten
der Museumsleitung.

Im inneren Zirkel der Benin-Initiative
wird der heutige Benin-Hof mit
dem britischen Königshaus verglichen,
was ein haarsträubender Vergleich ist.
Das Königreich Benin ist in Nigeria ein
informelles, jedoch autokratisch-staatsähnlich
agierendes Gebilde und nur
eines neben vielen anderen, zu denen
auch Sultanate gehören. Diese parastaatlichen
Institutionen gewinnen inzwischen
immer stärker an Macht. Sie
lassen ihre Muskeln spielen, wie das
«Staatsgeschenk» verdeutlicht.
Seit der Unabhängigkeit 1960 ist die
Einheit Nigerias von ethnischen und
religiösen Spannungen – Muslime im
Norden, wo die Scharia gilt, und Christen
im Süden –, von der sich immer
weiter öffnenden Schere zwischen
extremer Armut und exorbitantem
Reichtum dank den riesigen Öl- und
Gasvorkommen, sowie von Terrororganisationen
und kriminellen Banden wie
Boko Haram und Black Axe bedroht.
Rückgaben von Sammlungen monarchischer
Herrschaftsinsignien, wie dies
bei den Benin-Bronzen der Fall ist, an
Nachkommen ehemaliger Despoten
untergraben Autorität und Stabilität
der noch immer um Demokratie und
Rechtsstaatlichkeit ringenden Länder.
Die ethnologische Provenienzforschung
sucht ausschliesslich nach
Zeugnissen kolonialer Greuel, identifiziert
Täter und Opfer nach einem
Schwarz-Weiss-Muster, verwendet vorbelastete
Begriffe und bewertet selbstgerecht
nach Massstäben des 21. Jahrhunderts.
Einer differenzierten Betrachtung
der Lebensgeschichte von
Objekten seit ihrer Entstehung fühlt
sie sich nicht verpflichtet.
Diese Art der Provenienzforschung
ist vor dem Hintergrund der deutschen
Geschichte zu verstehen: Das
Nazi-Trauma im Nacken, von Schuldgefühlen
geplagt und vom Bemühen
um Wiedergutmachung beseelt, verwendet
die Provenienzforschung die
Schablone, wie sie der Identifizierung
von «NS-Raubkunst» (womit in
Deutschland verfolgungsbedingt entzogene
Kulturgüter, also ein «Raub an
den jüdischen Mitbürgern» gemeint
ist) dient. Als «Raubkunst» bezeichnet
auch die Benin-Initiative Schweiz vorschnell
die Benin-Bronzen. Der Begriff
ist irreführend. Zwar handelte es sich
bei dem, was die Briten konfiszierten,
um Kriegsbeute, aber im damaligen
Rechtsverständnis war dies weder eine
Plünderung noch ein Raub. Nach heutigen
Massstäben sieht es anders aus.
Bei der Suche nach NS-Raubkunst
steht die Identifizierung von enteignetem
Besitz in Form von künstlerischen
Wertgegenständen, die auf dem
Kunstmarkt hoch gehandelt werden,
im Vordergrund. Den dahinterstehenden
Eigentumsbegriff auf ethnologische
Sammlungen zu übertragen, ist
eurozentrisch, denn er geht von einem
Menschen (Eigentümer) aus, der über
ein (unbelebtes) Objekt, genauer: eine
Ware verfügen kann, die er rechtmässig
erworben hat.

Die Benin-Bronzen waren nie
Objekte und schon gar nicht Waren, die
einer Privatperson gehörten. Sie waren
belebte Wesen, Sitz von machtvollen
Ahnen, mit denen die Herrscher kommunizieren
und denen sie opferten –
Tiere, aber auch Menschen, mit deren
Blut sie die Bronze-Köpfe besprenkelten.
Der Oba war nicht ihr Eigentümer,
sondern ihr Gegenüber und Diener. Sie
dienten der Legitimation seiner Herrschaft;
er war auf deren Unterstützung
angewiesen. Einen monetären Wert besassen
diese Ahnensitze damals nicht,
auch nicht für europäische Händler,
die Handelspartner des Königs. Einen
monetären Wert erhielten sie erst, als
sie auf den Kunstmarkt gelangten, wobei
sie von ihrer bluttriefenden Geschichte
gesäubert, mit rein ästhetischem
Wert versehen in die Kategorie
Kunst erhoben und zur käuflichen
Ware (als Privateigentum) wurden.
Der sich in Tausenden von Objekten
manifestierende Reichtum der Benin-
Herrscher basiert auf den während
Jahrhunderten geführten Angriffskriegen.
Sie überfielen, plünderten und zerstörten
Städte und Dörfer, versklavten
zehntausendfach Menschen und verkauften
einen Grossteil an arabische
und europäische Sklavenhändler. Als
Bezahlung verlangten sie Messingund
Kupferringe (sogenannte Manillas),
aus denen die Bronzen gegossen
wurden. Das Rohmaterial wurde tonnenweise
importiert.

Nachfahren der Sklaven in den USA,
Brasilien und der Karibik, die ursprünglich
aus Westafrika stammten und vom
Benin-König als Ware verkauft wurden,
reklamieren mit Recht Miteigentümerschaft
an den Bronzen. Die Provenienzforschung,
auch die Benin-Initiative
Schweiz, ignoriert die Opfer
und verschweigt die brutale Herrschaft
der Benin-Könige. Die Benin-Initiative
Schweiz beschönigt selbst Sklavenjagden,
-haltung und -handel. Sklaverei
habe in Benin auch der Integration
von Fremden in die eigene Gesellschaft
gedient, wird erklärt.
Es gibt viele Eigentümer
Diese postkoloniale Provenienzforschung
hat in Nigeria eine Stimmungsmache
zur Folge, so dass die
Briten nur noch als brutale Übeltäter
wahrgenommen werden. Dass Kolonialbeamte
und Wissenschafter die ersten
Museen in Nigeria eingerichtet und
dem Nationalmuseum zu der einstmals
drittgrössten Sammlung von Benin-
Artefakten verholfen hatten – inzwischen
sind dort Hunderte von Objekten
verschwunden –, scheint aus dem
kulturellen Gedächtnis gelöscht.
Kultur kann tatsächlich Völker verbinden
und zum Nation-Building beitragen.
Öffentlichen Museen kommt
dabei eine wichtige Rolle zu, indem
sie Kulturgüter unterschiedlicher Ethnien
gleichwertig nebeneinander ausstellen.
Aber das Ziel wird verfehlt,
wenn jedes untergegangene Herrscherhaus,
jede Ethnie die historischen Kulturgüter
auf dem eigenen Gebiet einschliesst
und als Privateigentümer bestimmt,
wer Zugang dazu erhält und
wer nicht – und welche Version der Geschichte
erzählt werden darf.
In den Benin-Bronzen manifestieren
sich jahrhundertelange und Kontinente-
überspannende Beziehungen.
Dazu gehören auch Museen in westlichen
Ländern, welche die Benin-
Bronzen über ein Jahrhundert hinweg
bewahrt, erforscht und bekannt gemacht
haben: Erst durch sie wurden sie
zu einem afrikanischen Weltkulturerbe.
Auch ihnen steht Miteigentümerschaft
– «shared heritage» – zu. Einen
«ursprünglichen Besitzer» als Privateigentümer
gibt es nicht. Die 53
umstrittenen Objekte in Schweizer
Museen sind Zeugnisse der kolonialen
Unterwerfung – und der nicht weniger
blutigen Vorgeschichte. Als solche sollten
sie, ohne Schönrednerei, auch ausgestellt
werden, sei es in der Schweiz
oder in Nigeria.

Brigitta Hauser-Schäublin ist emeritierte
Professorin für Ethnologie an der Georg-August-
Universität in Göttingen.