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Beitrag vom 27.07.2023

NZZ

«Russland hat weder die Mittel noch die Ausdauer, um in Afrika ein neues Imperium zu bauen»

Der Historiker Maxim Matusevich erachtet die westliche Angst vor Russlands Expansion auf dem Kontinent als überzogen

Maxim Matusevich Professor an der Seton Hall University in New Jersey

Herr Matusevich, für den letzten Russland-Afrika-Gipfel reisten 2019 43 Staats- und Regierungschefs nach Sotschi, es war ein Propagandaerfolg für Putin. Diesmal gehen noch halb so viele. Hat Russlands Afrika-Expansion an Schwung verloren?

Die Tatsache, dass sich nur 21 Staats- und Regierungschefs angekündigt haben, deutet auf den Pragmatismus der afrikanischen Eliten hin: Manche von ihnen mögen Sympathien haben für Russlands antiimperialistische Rhetorik oder es dem Westen übelnehmen, dass dieser dem Ukraine-Krieg viel mehr Aufmerksamkeit schenkt als afrikanischen Konflikten. Aber am Ende sind den Afrikanern auch Dollars und wirtschaftliche Chancen wichtig. Dass Russland das Getreideabkommen aufgekündigt hat, könnte manchen von ihnen gezeigt haben, dass sie sich nicht auf Russland verlassen können.

Am Gipfel von 2019 dominierten Wirtschaftsthemen. Und diesmal?

Es gibt einen klaren Fokus: Russland als Gegenmodell zum Westen und zu dessen Werten zu zeigen. Es geht um westlichen Neokolonialismus und wie dieser angeblich nicht nur Afrika, sondern auch Russland bedroht. Es werden bestimmt auch diesmal Wirtschaftsabkommen getroffen. Aber es geht viel stärker darum, einen Krieg der Zivilisationen heraufzubeschwören, in dem Russland auf der Seite Afrikas steht.

Lenkt dieser Fokus auf geopolitische Identitätspolitik auch davon ab, dass Versprechen vom letzten Gipfel nicht eingelöst wurden? Putin versprach damals, Russland werde den Handel mit Afrika in den folgenden fünf Jahren verdoppeln. Tatsächlich ist er zurückgegangen.

Ja, indem Russland den Kulturkampf befeuert, lenkt es davon ab, dass seine Mittel in Afrika begrenzt sind. Verglichen mit China, der EU oder den USA ist Russland ein kleiner Handelspartner. Russland liefert zwar Waffen in grossem Stil und schickt Wagner-Kämpfer nach Mali oder in die Republik Zentralafrika. Aber das Söldnergeschäft ist vor allem für ein paar autoritäre Regierungen attraktiv, weil es ihnen hilft, an der Macht zu bleiben.

Hat Russland in Afrika tatsächlich nicht mehr zu bieten?

Russland liefert Technologie für die Förderung von Öl und Gas oder für die Weltraumindustrie. Es schickt Dünger und Getreide, zum Beispiel nach Kenya und Somalia. Nachdem die Russen das Getreideabkommen mit der Ukraine aufgekündigt haben sagt Putin den Afrikanern: Wir springen ein, da die Ukraine keinen Weizen mehr liefern kann. Es ist zynisch. Aber vieles, was Russland macht, ist zynisch.

Das Aufkündigen des Getreideabkommens ist riskant. Viele afrikanische Länder sind auf Getreideimporte angewiesen. Kenyas Regierung nannte die Kündigung «einen Messerstich in den Rücken».

Russland zerbricht sich wegen Kenya vermutlich nicht den Kopf, es ist eines der Länder, die die Invasion in der Ukraine verurteilt haben. Die russische Rechtfertigungsstrategie ist aber interessant. Sie besagt: Die westlichen Sanktionen sind schuld, dass wir nur eingeschränkt Weizen nach Afrika liefern können. Doch wir tun unser Möglichstes. Bei manchen afrikanischen Regierungen hat das verfangen.

Tatsächlich finden Russlands Argumente bei afrikanischen Regierungen Gehör. In der Uno zum Beispiel haben nur die Hälfte der afrikanischen Länder den Angriff auf die Ukraine verurteilt.

Russlands Argumente funktionieren bei verschiedenen Gruppen in Afrika. Zum Beispiel bei jenen, die sehr schlechte Erinnerungen haben an den Kolonialismus. Die russische Rhetorik arbeitet gezielt damit. Eine andere Gruppe sind Eliten, die sich an die Macht klammern. Russland macht ihnen im Gegensatz zum Westen keine Vorgaben etwa bei Menschenrechten oder der Behandlung von Minderheiten.

Wie viel der afrikanischen Zusammenarbeit mit Russland ist opportunistisch, wie viel tatsächlich von Überzeugung getrieben?

Es kommt darauf an, wohin auf dem Kontinent man blickt. In Südafrika zum Beispiel hat es unter den Führern des ANC viele Veteranen des Anti-Apartheid-Kampfes. Viele von ihnen wurden in der Sowjetunion ausgebildet. Die Sowjets lehnten die Apartheid strikt ab, während der Westen das Apartheidregime entweder unterstützte oder es zumindest duldete. Es gibt im ANC deshalb so etwas wie historisch begründetes Wohlwollen, das aufrichtig ist. Es gibt auf dem Kontinent auch viele Leute, die sich darüber ärgern, dass die Ukraine im Westen so viel Unterstützung erhält. Wenn in Afrika Menschen sterben, schaue der Westen nur zu.

Sie erwähnen die Sowjetunion. Wie hat sich das russische Engagement in Afrika seit der Sowjetzeit verändert?

Die Idee während der Sowjetära war: Wir schaffen uns Verbündete, indem wir afrikanische Länder vom Sozialismus überzeugen. Die Sowjets wollten in Afrika, dem alten kolonialen Hinterhof des Westens, ihre eigene Idee von Modernität einführen, das heisst: Marxismus-Leninismus. Sie taten dies zum Beispiel, indem sie Dämme bauten oder halfen, die Schwerindustrie zu entwickeln. Als sich die Beziehung zum Westen während der Perestroika in den 1980er Jahren entspannte, zogen sich die Sowjets rasch aus Afrika zurück. Sie schlossen Botschaften, strichen Entwicklungshilfe und Stipendien für afrikanische Studenten. In den 1990er Jahren gab es in Russland sehr wenig Interesse an Afrika.

Wann änderte sich das wieder?

Russlands Beziehungen zu Afrika sind immer auch ein Gradmesser dafür, wie es um das Verhältnis zum Westen steht: Wird Russland verstärkt in Afrika aktiv, kriselt es meist in der Beziehung mit dem Westen. Als die Spannungen zwischen Russland und dem Westen Ende der 1990er Jahre wieder zunahmen, stieg auch das Interesse an Afrika. Ich verbrachte damals viel Zeit in Russland und beobachtete das etwa am Anstieg von Forschungsgeldern. Unter Putin verstärkte sich das Interesse, und es wurde nach 2010 zu einem geopolitischen Vorstoss. Dieser ist häufig von einzelnen Oligarchen wie dem Wagner-Chef Jewgeni Prigoschin getrieben; Leuten, die Russlands Zielen dienen, aber gleichzeitig Geld mit Ressourcen wie Gold oder Diamanten verdienen.

Wie es mit Wagner in Afrika weitergeht, ist unklar. In einem Video sagte Prigoschin kürzlich, Afrika werde künftig der Fokus von Wagner sein. Ist das plausibel?

Wagner verdient viel Geld in Afrika, das macht die Gruppe wertvoll für Putins Regime. Das dürfte auch ein Grund dafür sein, dass Prigoschin noch am Leben ist. Putin wird die Wagner-Truppen nach der Meuterei nicht in der Ukraine haben wollen, lieber anderswo. In ihren afrikanischen Einsatzgebieten können die Wagner-Truppen weiter Einkünfte generieren und der russischen Aussenpolitik dienen. Gleichzeitig sorgen sie für weniger Ärger, weil sie weit weg von Moskau sind.

Im Westen haben Wagner und andere Aspekte von Russlands Expansion in Afrika für grosse Besorgnis gesorgt. Zu Recht?

Die Ängste sind überzogen. Die Russen bauen in Afrika kein neues Imperium. Sie haben nicht die Mittel und die Ausdauer dafür. Sie verdienen Geld, verkaufen viele Waffen. Sie wollen auch diese Allianzen in der Uno schaffen, die nicht mit dem Westen abstimmen. Der Westen sollte deswegen aber nicht hysterisch werden. Russlands Einfluss in Afrika ist beschränkt, zum Beispiel kulturell: Der Kontinent orientiert sich noch immer stark nach Westen – etwa was Konsumgüter betrifft oder in Bezug darauf, wo im Ausland Afrikaner studieren oder arbeiten gehen.

Interview: Samuel Misteli, Nairobi