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Beitrag vom 10.06.2024

NZZ

Gambia will als erstes Land der Welt Genitalverstümmelung wieder zulassen

230 Millionen Mädchen weltweit sind beschnitten – Aktivistinnen fürchten, dass nun weitere Länder folgen

Samuel Misteli, Nairobi

Der westafrikanische Kleinstaat Gambia könnte bald eine zweifelhafte Vorreiterrolle einnehmen. In den nächsten Wochen werden die Parlamentarier des Landes darüber abstimmen, ob ein Verbot der weiblichen Genitalverstümmelung aus dem Jahr 2015 aufgehoben wird. Gambia wäre das erste Land weltweit, das ein solches Verbot aufhebt.

Dass das Verbot fällt, ist gut möglich. Bei einer ersten Abstimmung im März waren nur vier Parlamentarier gegen die Aufhebung. 53 der 58 Abgeordneten in Gambias Nationalversammlung sind Männer. Die Verfechter der Genitalverstümmelung in Gambia sagen: Das Ritual sei religiöse Tradition, die westliche Kräfte und mit ihnen Verbündete unterbinden wollten. Gegnerinnen befürchten, Gambias Beispiel könnte Schule machen und so den Kampf gegen Genitalverstümmelung weiter erschweren.

Laut den neusten Zahlen des Uno-Kinderhilfswerks Unicef sind 230 Millionen Mädchen und Frauen weltweit beschnitten – 30 Millionen mehr als vor acht Jahren. Die Mehrheit der Betroffenen, 144 Millionen, lebt in afrikanischen Ländern. Etwas mehr als 80 Millionen leben in Asien. Genitalverstümmelung wird vor allem in muslimischen Ländern praktiziert, aber auch in manchen christlichen und animistischen Gemeinschaften. Die weltweit höchste Rate an beschnittenen Mädchen und Frauen hat mit 99 Prozent Somalia. In Gambia sind drei Viertel aller Mädchen und Frauen beschnitten.
Antiwestliche Argumente

Der Anteil der beschnittenen Mädchen und Frauen in Gambia ist seit der Einführung des Verbots 2015 nur leicht gesunken. Im August 2023 wurden erstmals Bussen verhängt. Sie trafen drei Frauen, denen vorgeworfen wurde, mehrere Mädchen beschnitten zu haben. Die Beschneiderinnen sollten umgerechnet je 200 Franken bezahlen.

Die Bussen lösten auch einen Proteststurm aus, der nun zur Aufhebung des Verbots führen könnte. Ein prominenter Imam, Abdoulie Fatty, sagte, die Beschneidung gehe auf Lehren des Propheten Mohammed zurück, und bezahlte die Bussen für die drei Beschneiderinnen. Die Kampagne ging weiter in der Nationalversammlung, wo der Abgeordnete Almameh Gibba Ende 2023 die Vorlage einbrachte, die verlangt, dass das Verbot aufgehoben wird. Gibba sagte, sein Vorstoss diene dazu, «religiöse Rechte zu bewahren und kulturelle Werte zu schützen». Das Beschneidungsverbot sei eine «direkte Verletzung des Rechts der Bürger, ihre Kultur auszuüben».

Der Nachrichtenagentur Reuters hat Gibba auch gesagt, die meisten Gambierinnen und Gambier lehnten das Beschneidungsverbot ab, weil der Islam die Beschneidung vorschreibe. «Wir lassen uns nicht von der westlichen Philosophie diktieren, was wir tun sollen», sagte Gibba. «Wer sind sie, uns unsere Kultur, Religion und unsere traditionellen Überzeugungen vorzuschreiben?»

Befürworter der Genitalverstümmelung glauben, die Praxis erhöhe die Reinheit von Mädchen, schütze ihre Jungfräulichkeit und verbessere so ihre Chancen, zu heiraten. Manche glauben, die Beschneidung erhöhe die Fruchtbarkeit und verhindere Fehlgeburten. In praktizierenden Gemeinschaften besteht sozialer Druck, weil nicht beschnittene Frauen als unehrenhaft gelten.

Die antiwestliche Argumentation in Gambia ähnelt auch jener, mit der konservative und populistische Kreise in mehreren afrikanischen Ländern gegen Homo- und Transsexuelle eifern. Auch sie behaupten, der Westen wolle Afrika seine Werte aufzwingen – in dem Fall nicht, indem er etwas verbiete, sondern indem er Homosexualität importiere.

Islam-Experten weisen darauf hin, dass sich im Koran und in anderen muslimischen Schriften kein Beschneidungsgebot für Mädchen finde, dass der Prophet Mohammed stattdessen davor gewarnt habe, Frauen zu verletzen. Viele islamische Geistliche haben sich gegen die Genitalverstümmelung ausgesprochen.

Falls das Beschneidungsverbot in Gambia fällt, befürchten Aktivistinnen einen Dominoeffekt. Fatou Baldeh, eine führende gambische Aktivistin gegen Genitalverstümmelung, sagt am Telefon: «Es gibt in mehreren Ländern ähnliche Pläne. Die Aufhebung des Verbots in Gambia würde ihnen Schub verleihen.»
Befürworter steinigen Polizisten

Baldeh glaubt aber, dass das Verbot am Ende doch bestehen bleiben könnte. Sie hat in den vergangenen Monaten lobbyiert, hat von Genitalverstümmelung betroffene Frauen mit Abgeordneten zusammengebracht, sie ihre Geschichten erzählen lassen. Baldeh hält es für möglich, dass genügend Abgeordnete ihre Meinung geändert hätten. Sie sagt aber auch: «Die Parlamentarier werden von religiösen Führern eingeschüchtert und haben Angst um ihre Wiederwahl.» Es sei deshalb offen, wie die Abstimmung in den nächsten Wochen ausgehe.

Genitalverstümmelung ist in mehr als siebzig Ländern verboten, rund die Hälfte davon liegt in Subsahara-Afrika. Aktivistinnen sagen, die Verbote seien ein erster Schritt, würden aber in der Praxis häufig nicht durchgesetzt.

Der internationale Kampf gegen Genitalverstümmelung ist in den vergangenen Jahren intensiver geworden. Die Uno hatte zum Ziel erklärt, Genitalverstümmelung bis zum Jahr 2030 zu beenden – was aussichtslos scheint. Aktivisten richten zum Beispiel Notunterkünfte für gefährdete Mädchen ein. Oder sie arbeiten mit – tendenziell jüngeren und gebildeteren – religiösen Führern zusammen, um Gemeinschaften über die Gefahren der Genitalverstümmelung aufzuklären. In einigen Ländern, Kenya zum Beispiel, ist Genitalverstümmelung deutlich weniger verbreitet als noch vor einigen Jahrzehnten. Dass die Zahl der betroffenen Frauen weltweit trotz allem steigt, liegt daran, dass viele Gemeinschaften, die Genitalverstümmelung weiter praktizieren, ein hohes Bevölkerungswachstum aufweisen.

Zudem gibt es oft vehementen Widerstand von Konservativen. Im Westen Kenyas zum Beispiel stürmte eine Gruppe von Männern im Dezember 2023 einen Polizeiposten und steinigte einen Polizisten zu Tode. Polizisten hatten zuvor eine Gruppe Mädchen ins Spital gebracht, nachdem diese beschnitten worden waren.

Bei der Genitalverstümmelung werden Mädchen meist vor der Pubertät die Klitoris und Teile der Schamlippen entfernt. In der extremsten Form werden die Schamlippen so weit zugenäht, dass nur eine kleine Öffnung für Urin und Menstruationsblut bleibt. Die Beschneidung kann schwere gesundheitliche Folgen haben: starkes Bluten, regelmässige Blasenentzündungen, Zysten, Unfruchtbarkeit und in vielen Fällen psychologische Schäden. Die Vereinten Nationen bezeichnen sie als eine schwere Menschenrechtsverletzung und eine Form von Folter.