Beitrag vom 08.06.2012
ORF.at
"Nigerianische Taliban"
Die Wachstumsraten in Nigeria werden von internationaler Seite bejubelt. Das 170-Millionen-Einwohner-Land zählt mittlerweile zu den größten Volkswirtschaften in Afrika. Auch österreichische Unternehmen strecken zusehends die Fühler Richtung Nigeria aus. Außenminister Michael Spindelegger (ÖVP) ist gerade zu politischen und wirtschaftlichen Gesprächen in Nigeria.
Die islamistische Sekte Boko Haram, die vom muslimisch dominierten Norden aus agiert, stellt das Land allerdings vor immer größere Probleme. War Boko Haram um die Jahrtausendwende noch eine einfache religiöse Protestbewegung, ist sie mittlerweile eine radikal-islamische Bewegung geworden, die sich selbst als "nigerianische Taliban" bezeichnen.
Ihre Anhänger machen mit regelmäßigen Anschlägen auf Christen, liberale Muslime und westliche Einrichtungen auf sich aufmerksam. Das Ziel ist, das islamische Recht - die Scharia -, das Ende der 90er Jahre in großen Teilen im Norden Nigerias eingeführt wurde, im ganzen Land einzuführen. Der Süden Nigerias ist christlich dominiert.
Große Unterschiede zwischen arm und reich
Auftrieb erhält die Bewegung auch durch die enormen Unterschiede zwischen Arm und Reich. Von 187 Ländern liegt Nigeria auf Platz 156 im UNO-Index der menschlichen Entwicklung (Human Development Index, HDI). Knapp 70 Prozent der Einwohner leben unter der Armutsgrenze. Gerade im Norden gibt es große ökonomische und soziale Probleme. "Die Kinder werden dort nicht in die Schule geschickt, obwohl es welche gäbe", erklärt Afrika-Expertin Ingeborg Grau gegenüber der APA.
Übersetzt heißt "Boko" (Hausa) wörtlich "Buch" und steht für Wissen und Bildung im westlichen Sinn. "Haram" (Arabisch) steht für alles "Unislamische" und Verbotene.
In dem Bundesstaat Borno, wo Boko Haram seinen Ausgangspunkt hatte, leben sogar drei Viertel der Bevölkerung unter der Armutsgrenze. Der Süden ist zwar reich an Erdöl. Das Land zählt zu den Top Ten der weltweiten Erdölexporteure. Die Einnahmen aus der Ölförderung landen aber kaum bei der lokalen Bevölkerung etwa zur Verbesserung von Infrastruktur-, Gesundheits- und Bildungseinrichtungen.
Polizei geht gegen Sektenanhänger vor
Die Politik Nigerias ist am Erstarken der Boko Haram nicht ganz unschuldig, analysiert "Le Monde Diplomatique". Die Anhänger der Bewegung wurden von der Polizei brutal bekämpft. Immer wieder kam es zu schweren Auseinandersetzungen zwischen Boko-Haram-Anhängern und Sicherheitskräften. Schon 2003 gab es erste Attacken auf Sicherheitskräfte.
Der Sommer 2009 brachte eine entscheidende Wende. Boko-Haram-Gründer Mohammed Yusuf hatte eine Offensive gegen Polizeistationen und Banken begonnen, um sich für die Ermordung von 15 Boko-Haram-Anhängern durch die Polizei zu rächen. Die Sicherheitskräfte reagierten mit drastischen Mitteln. Mehr als 800 Menschen starben, viele auch durch außergerichtliche Exekutionen, berichtete "Le Monde Diplomatique".
Auch Yusuf, der eigentlich im Westen eine hohe Bildung durchlaufen hatte und dann gegen die "westliche Bildung" kämpfte, starb aus ungeklärter Ursache im Gefängnis. Vermutlich ist er hingerichtet worden, entsprechende Bilder kursierten im Internet. Die Verhaftung Yusufs bei einer Polizeirazzia im Hauptquartier der Sekte in Maiduguri, Hauptstadt von Borno, könnte laut Grau zur Radikalisierung von Boko Haram beigetragen haben.
Gegen Imame, die "lügen"
Yusufs bisheriger Stellvertreter Abubakar Shekau übernahm die Führung der Bewegung. Er fokussiert seine Aktionen auf Polizisten Politiker und Imame, "die lügen". Unter Mamman Nur organisierten sich die Kader, die nach dem Aufstand im Juli 2009 ins Exil gegangen waren. Nur soll auch Verbindungen zum globalen Dschihadismus und neue Operationsformen eingeführt haben. So soll er etwa hinter dem ersten Selbstmordattentat in Nigeria auf das UNO-Gebäude in der Hauptstadt Abuja vom Dezember vergangenen Jahres stecken.
Shekau wiederum zeigt sich nur in Videos und ab und zu veröffentlichten Fotos der Öffentlichkeit. Er gilt als Nigerias meistgesuchter Mann. BBC zufolge war Shekau neben Yussuf und Nur der radikalste unter ihnen. Alle drei studierten Theologie. "Er ist einer von denen, die glauben, dass man alles für seinen Glauben opfern kann", sagte ein Boko-Haram-Kenner gegenüber BBC.
Dutzende Tote binnen weniger Tage
Die Anschläge von Boko Haram wurden seither immer häufiger. Erst am Wochenende wurden bei einem Selbstmordanschlag auf eine Kirche im Nordosten 15 Menschen getötet und 40 weitere verletzt. Boko Haram bekannte sich zu der Tat. Nigerianische Sicherheitskräfte töteten ihrerseits am Dienstag 16 mutmaßliche militante Kämpfer der islamistischen Sekte. Das Feuergefecht ereignete sich nach Angaben eines Reuters-Reporters im Nordosten des afrikanischen Landes.
Die Attentate beschränken sich allerdings nicht mehr nur auf den Norden, sondern werden auch gezielt weiter südlich bis ins zentralnigerianische Jos eingesetzt. Dabei geht es aber weniger um eine religiöse Ideologie als vielmehr um die Macht im Bundesstaat Plateau.
Verbindungen zur Regierung
Problematisch ist, dass es offenbar direkte Verbindungen von Boko Haram bis in die Regierung gibt. Einige Kenner des Landes sind überzeugt, dass in der derzeitigen Regierung unter Präsident Goodluck Jonathan viele "Sponsoren und sogar Mitglieder von Boko Haram" sitzen, erklärte etwa der nigerianische Geistliche Francis Chijioke Nwosu gegenüber der APA. Ähnlich argumentiert auch der Experte Morten Boas im Gespräch mit "Le Monde Diplomatique": "Den größten Grund zur Sorge geben Gerüchte um geheime Absprachen von Boko Haram mit Politikern und hohen Staatsbeamten."