Beitrag vom 08.07.2019
FAZ
Die Demographiewende ist machbar
Die deutsche Bevölkerung altert immer mehr. Das belastet die Wirtschaft und die Sozialsysteme. Zuwanderung muss gesteuert werden. Eine aktive Demographiepolitik ist überfällig.
Von Tilman Mayer
Der demographische Wandel ist zwar in aller Munde, aber im Unterschied zum Beispiel zum Klimawandel findet er viel weniger eine mit Konsequenzen verbundene Aufmerksamkeit. Eine sichtbare Gestaltungsabsicht ist nicht erkennbar. Demographiepolitik der Bundesregierung? Es hat sie einmal gegeben. Ob es sie noch gibt, das bleibt eine Frage. Zurzeit stellt man jedenfalls eine einseitige Akzentsetzung im Bereich Migration fest. In der Einwanderung sieht man eine Lösung, verwechselt oft aber bereits Asyl- mit Migrationspolitik.
Die grüne und linke Forderung nach einer Politik offener Grenzen offenbart migrationspolitisch gesehen ein Übermaß humanitärer Geltungsansprüche, anstelle nüchtern demographische Interessenpolitik zu vertreten. Schon der verbreitete Begriff „Migrationshintergrund“, fachfern von pädagogischer Seite eingeführt, suggerierte, dass vor allem Migration unsere Gesellschaft maßgeblich charakterisieren würde nach dem Motto, wir sind doch alle Migranten (gewesen). Dabei ist der eigentliche Anteil „Ausländer“ viel kleiner. Eine zweite Illusion besteht darin, dass eine anspruchsvolle Wohlstandsentwicklung mit einer qualitätsindifferenten Zuwanderung vereinbar sein soll.
Dagegen bleibt eine nüchterne demographische Agenda ein Manko, die eigentlich dringlich der Bearbeitung bedürfte: Schon aus ökonomischen Gründen eines hochindustrialisierten Landes gibt es ein Interesse an besonders qualifizierten Zuwanderern. Ins Bewusstsein zu heben ist weiterhin, dass der Generationenersatz in Deutschland nach wie vor in weite Ferne rückt – bei einer Geburtenrate von nur wenig über 1,5 Kinder je Frau statt der dafür notwendigen 2,1 Kinder. Deutschland nur als Fabrikationsort zu verstehen, den man beliebig durch Arbeitskräfteersatz füllt, ignoriert Grenzen der kulturellen Aufnahmebereitschaft. Die Bewältigung der Alterung stellt nach wie vor die größte Herausforderung dar, deswegen wäre viel stärker ein Blick auf Japan zu richten, das stark auf die Modernisierung der Wirtschaft durch Robotereinsatz und nur wenig auf Zuwanderung setzt.
Was kaum thematisiert wird, ist die kontinuierliche, recht hohe Abwanderung Hochqualifizierter aus Deutschland. Einige Zigtausende sehr gut Ausgebildete verlassen netto jedes Jahr das Land, während gleichzeitig die Zuwanderung zu einem großen Teil wenig qualifiziert und kaum gesteuert ist. Eine Demographiestrategie der Bundesregierung wäre zumindest seit September 2015 besonders nachgefragt gewesen, um Ordnung in zugelassene Migrationsströme zu bringen.
Zudem gibt es eine disproportionale Bevölkerungsentwicklung innerhalb Deutschlands, die gravierende regionale Unterschiede entstehen ließen, die der Bewältigung bedürfen, nicht zuletzt im Ost-West-Verhältnis. Zu diesem aktuellen Ost-West-Verhältnis hat das Ifo-Institut Dresden eine eindrucksvolle Studie vorgelegt, die ergeben hat, wie stark der Abwanderungsverlust Ostdeutschlands nach 1945 und dann nach 1989 die Wirtschaftsgeschichte prägt. Das Auseinanderdriften innerhalb Deutschlands hat zu erheblichen Verwerfungen geführt. Laut Ifo-Schätzung wird das Wachstumspotential in demographisch und strukturschwachen Ländern wie Saarland, Sachsen-Anhalt oder Mecklenburg-Vorpommern in den nächsten Jahrzehnten negativ. Ostdeutschland hat Benachteiligungen zu kompensieren, die an sich demographiepolitische Anstrengungen herausfordern.
Das extreme Bevölkerungswachstum, das vor allem Afrika und Teile des Nahen Ostens in den nächsten Jahrzehnten erleben werden, wird diese Kontinente erschüttern und einen Abwanderungswunsch, der im „Afrobarometer“ schon mehrfach erhoben wurde, nochmals anschwellen lassen. Vorsorge angesichts des zu erwartenden Migrationsdrucks zu treffen wäre mehr als angeraten.
Insgesamt ergibt sich aus dieser Agenda genügend Stoff für eine zentrale politische Bearbeitung demographischer Herausforderungen in nachhaltiger und innovativer Hinsicht. Die vor kurzem, Ende Juni, veröffentlichte 14. Koordinierte Bevölkerungsvorausberechnung hat ebenso wie der Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung in seinem Jahresgutachten 2018/2019 bestätigt, dass die Alterung das Topthema des demographischen Wandels darstellt. Daran änderten auch die leicht gestiegenen Geburtenraten wenig und auch nicht die Höhe der Nettozuwanderung. Es scheint aber so, als ob die aktuelle demographische Zwischenphase und die gute Lage am Arbeitsmarkt, die für sprudelnde Einnahmen für die Sozial- und Rentenversicherungen sorgt, alle Vorsorgeanstrengungen lähmt. Man lehnt sich zurück und erkennt nicht, mit welcher Wucht die kommenden Umwälzungen bald eintreten. 2030 ist demographisch gesehen morgen.
Einschneidend wird der Eintritt der „Babyboomer“-Generation (die Geburtsjahrgänge bis Mitte der 1960er) in die Rente sein. Der Sachverständigenrat verweist exemplarisch auf die stark steigende Gruppe der 65- bis 69-Jährigen. Sie dürfte von 4 Millionen bis 2031 auf 6,4 Millionen Personen hochschnellen. Das Verhältnis der Über-64-Jährigen zu denen im erwerbsfähigen Alter steigt rasant: von 1 zu 3 auf fast 1 zu 2 Ende des nächsten Jahrzehnts. Immerhin stellt die Rente mit 67 Jahren eine richtige Antwort dar. Doch liegt die Herausforderung in der weiter – erfreulicherweise – steigenden Lebenserwartung. Und selbst 45 Beitragsjahre können bei vielen ein auskömmliches Rentenniveau nicht mehr garantieren.
Demographiepolitisch konkret könnte man innovativ und nachhaltig mit drei Maßnahmen gegen die Trends der Überalterung und Schrumpfung gegensteuern: Zuwanderungsabsichten von qualifizierten Bewerbern mit nachprüfbaren Bildungsabschlüssen wären durch steuerliche Förderung des Zuwanderungsprozesses begleitbar. Eine längere Lebensarbeitszeit anzupeilen ist aus Rentensicherungsgründen, aber auch für die Bedürfnisse des Arbeitsmarktes notwendig, dafür wäre als Anreiz eine deutliche steuerliche Entlastung für Einkommen von Erwerbstätigen im Alter über 65 anzubieten. Und drittens, neben Migration und Alterung, spielt die Fertilität langfristig eine große Rolle.
Mehr Kinder zu haben und dafür steuerliche Anreize zu setzen, und zwar besonders ab dem dritten Kind, ist längst überfällig. Auch kinderreiche Familien müssen Wohneigentum erwerben können, das gilt es zu unterstützen. Das alles zusammen würde die Glaubwürdigkeit einer optimistischen Demographiepolitik unterfüttern. Nach einer kürzlich vorgelegten Studie des Verbandes der kinderreichen Familien, die „aus der Mitte der Gesellschaft“ kommen, wird darauf verwiesen, dass 33 Prozent der zehnjährigen Kinder in Haushalten mit zwei oder mehr Geschwistern aufwüchsen. Die geringe Anerkennung in der Rentenberechnung ist eine generationenvertragliche Ungerechtigkeit. Das weiß man schon lange, ohne politische Konsequenzen zu ziehen.
Die oft kritisierte Mütterrente sollte eine finanzielle Honorierung für das Aufziehen von Kindern darstellen. Da sie aber das Kinderhaben erst im Seniorenalter belohnt, wirkt der Anreiz für junge Familien kaum. Deshalb ist eine unmittelbare, breit angelegte Kinderförderungspolitik für erwerbstätige Eltern angemessener. An der Machbarkeit einer derartigen Politik fehlt es sicherlich nicht, wohl eher am Willen, eine nachhaltige, langfristig angelegte Demographiewende zu konzeptionieren und anzustreben.
---------------------------------------
Der Autor ist Professor am Institut für Politische Wissenschaft und Soziologie der Universität Bonn und war Vorsitzender der Deutschen Gesellschaft für Demographie.