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Beitrag vom 12.08.2024

faz.net

Afrikas Hauptprobleme

Das Drama der ethnischen Identität

Von Asfa-Wossen Asserate

Nachdem sie selbständig wurden, hat der Tribalismus Einzug gehalten. Warum die afrikanischen Staaten nicht vorankommen – und was zu tun wäre.

Im Jahr 1963 wurde die Orga­nisation für Afrikanische Einheit, eine Vorgängerin der ­heutigen Afrikanischen Union, in Äthiopiens Hauptstadt Addis Abeba gegründet. Ich war fünfzehn Jahre alt und Schüler an der dortigen Deutschen Schule. Die Jungen betrieben dort eine Art Spiel. Sie gingen auf einen Mitschüler zu und fragten ihn: „Woher kommst du? Was ist deine ­Heimat?“ Als auch ich gefragt wurde, antwortete ich mit etwas Verwunderung: „Was soll diese Frage? Ich bin Äthiopier.“ „Nein, das war gestern. Ab heute bist du Afrikaner“, meinte ein Mit­schüler.

Diese kleine Anekdote soll daran er­innern, wie groß die Euphorie damals war, nicht nur unter uns Schülern in Addis Abeba, sondern in ganz Afrika. Die frühen Sechzigerjahre waren die Zeit, in der die meisten afrikanischen Staaten ihre Unabhängigkeit erlangten. Es gab große Hoffnungen: Einheit des Kontinents, eine panafrikanische Zukunft, Frieden, Unabhängigkeit, wirtschaft­liche Prosperität. Millionen Menschen überall auf dem afrikanischen Kontinent sehnten sich nach Aufschwung und einem besseren Leben.

Bald aber kam es zu kriegerischen Auseinandersetzungen in den neu entstandenen Nationen. Auslöser waren ethnische Konflikte zwischen verschiedenen Volksgruppen in einigen der 55 Länder. Als die europäischen Großmächte Afrika im neunzehnten Jahrhundert unter sich aufteilten, zogen sie die Grenzen ihrer Kolonien auf dem Reißbrett. Sie nahmen weder Rücksicht auf die Geschichte der jeweiligen Region noch auf ethnische Identitäten. Im Gegenteil: Nach der Devise „Teile und herrsche“ spielten die Kolonialherren die verschiedenen Volksgruppen gegeneinander aus. Sie spalteten große ehemalige Nationen in unterschied­liche Stammesgebiete auf und schürten die Andersartigkeit der jeweiligen Ethnien, um sie sich gefügig zu machen.

„Tribalismus ist der Fluch Afrikas“

­Einige Volksgruppen erwarben sich die Gunst der Europäer. Sie kollaborierten zulasten anderer Stämme. Schon in den Jahrhunderten zuvor war die Jagd nach Sklaven ein einträgliches Geschäft für manche Volksgruppen. Ihre Auftrag­geber waren die Sklavenhändler, die zwischen dem sechzehnten und dem neunzehnten Jahrhundert rund dreizehn ­Millionen Afrikaner nach Übersee verschleppten. Hass, Neid und Misstrauen zwischen den Völkern in Afrika wurden über Generationen forciert. In der Spaltung der afrikanischen Gesellschaften in Ethnien sehe ich den Hauptgrund, warum Europäer in weniger als fünfzig Jahren den ganzen Kontinent erobern konnten.

„Tribalismus ist der Fluch Afrikas“, sagte der erste sambische Präsident Kenneth Kaunda. Wie die anderen Gründerväter der Organisation für Afrikanische Einheit wollte er durch die Anerkennung der bestehenden kolonialen Grenzen ein neues Zusammengehörigkeitsgefühl zwischen den Ethnien fördern. Die Hoffnung war, das Stammesdenken innerhalb der neuen Nationen zu überwinden und letztlich zu einer panafrikanischen Identität zu finden, nach dem Motto „Einheit in Vielfalt und Vielfalt in Einheit“.

Doch Tribalismus – die Diskriminierung wegen ethnischer Herkunft – hat in den neuen Gesellschaften Afrikas bald wieder Einzug gehalten. Die ehemaligen Kolonialmächte sicherten sich weiterhin Einfluss und Zugang zu den Rohstoffen, indem sie lokale Eliten unterstützten. Wo die Nationalbewegung eine charismatische Führerfigur hatte, entwickelte sich häufig ein ­Personenkult. Anfängliche Mehrparteiensysteme wandelten sich oft zu Einparteienherrschaften, die den Alleinherrscher stützten. Wichtigster Macht­faktor war meist das Militär, das sich auf ein europäisch ausgebildetes Offizierskorps stützte und in vielen Fällen von nur einer Ethnie dominiert wurde. Auch die besten Posten in Politik und Wirtschaft wurden von den Machthabern an Menschen der eigenen Ethnie verteilt, genauso wie Ämter für Richter und Staatsanwälte. Es ging nicht um das Wohl der Nation. Es ging darum, die eigene Volksgruppe an die Fleischtöpfe zu bringen.

Das Trennende wird betont

Das ist der Dünger, auf dem Korruption gedeiht und der den Hass der Ausgegrenzten nährt. Bald folgten neue ­ethnische Konflikte, vom Bia­frakrieg Ende der Sechzigerjahre bis zum Völkermord in Ruanda Mitte der Neunziger. Heute steht mein Heimatland Äthiopien im Brennpunkt ethnischer Konflikte. Dabei ist Äthiopien das ein­zige Land des afrikanischen Kontinents, das selbst nie europäische Kolonie war.

Zwei Generationen nach Gründung der Organisation für Afrikanische Einheit ist es leider so, dass ein Schüler in Addis Abeba nicht mehr angstfrei sagen dürfte: „Ich bin ein Äthiopier.“ Von ihm wird erwartet, dass er antwortet: „Ich bin Oromo.“ Oder „Amhare“ oder „Ti­gray“ oder „Gurage“ oder „Afar“ oder „Somali“ oder eine andere der mehr als achtzig Volksgruppen, die in Äthiopien ihre Heimat haben. Nicht mehr das ­Gemeinsame und Verbindende wird ­betont, sondern das Trennende und ­Diskriminierende. Äthiopien bezeichnet sich in seiner Verfassung von 1995 als „ethnische Föderation“. Nur durch die Zugehörigkeit zu einer der ethnischen Gruppen des Landes wird man äthio­pischer Staatsbürger. Das ist weltweit einzigartig. Viele Länder weisen noch weit größere ethnische Differenzierungen auf als Äthiopien, etwa Nigeria oder auch Indien. In allen demokratischen Verfassungen dieser Welt ist das gesamte Volk der gemeinsame Souverän. Nicht in Äthiopien: Hier ist allein von der Souveränität der unterschied­lichen Völkerschaften und Ethnien die Rede.

„Als das Bewusstsein der Einheit der Menschheit schwand, entstanden Sippen und Völker und Zwist ohne Ende“, schrieb der chinesische Weise Lao-Tse vor mehr als 2500 Jahren. Äthiopien ist ein Land, dessen Kultur auf der Bibel gegründet ist. Es ist die Urheimat aller ­abrahamitischen Religionen – Judentum, Christentum und Islam. Was der chinesische Weise als „Bewusstsein der Einheit der Menschen“ bezeichnete, drückt der Apostel Paulus in christlicher Sprache aus: „Es gibt nicht mehr Juden und Griechen, nicht Sklaven und Freie, nicht männlich und weiblich; denn ihr alle seid einer in Christus Jesus“ (Gal. 3,28). Für mich ist das die Basis für eine multiethnische Gesellschaft, wie sie in Äthiopien über Jahrhunderte hinweg friedlich zusammengelebt hat.

Ethnische Trennung hat politische Folgen

Was aber bedeutet „ethnische Föderation“? Der nationalistisch-burische Politiker Daniel François Malan wurde 1948 Premierminister in Südafrika und installierte dort das berüchtigte System der Rassentrennung, das Apartheidregime. „Apartheid“ bedeutet „Getrenntheit“. Malan selbst definierte dieses Regime als „ethnische Föderation“. Ähnlich verheerende Folgen der politischen Trennung nach Ethnien können wir heute in Äthiopien sehen: Spaltung und Hass, die in Bürgerkriegen eskalieren, in brutalen und blutigen Massakern gegen andere Volksgruppen, auch gegen Mütter und Kinder.

Menschenverachtende Hetze, heute vor allem gegen die amharische Volksgruppe, sowohl von äthiopischen Poli­tikern als auch in den sozialen Medien, lässt die Aggressionsschwelle erodieren. Menschen, die über Generationen hinweg als Nachbarn zusammenlebten, werden nun mit einem „Virus“ verglichen, das ausgerottet werden müsse, mit Tieren, die es zu schlachten gälte, oder mit Unkraut, das ausgerissen gehörte. Und in Äthiopien ist es nicht bei ­Drohungen und Hetze geblieben: Wir trauern um Zehntausende Opfer so­genannter „ethnischer Säuberungen“. Das Morden findet kein Ende.

Oromo bilden heute die größte Volksgruppe im Land. Zu ihr zählt sich auch der äthiopische Premierminister Abiy Ahmed. Die zweitgrößte Volksgruppe, die Amharen, sind mit dem historisch falschen Vorwurf konfrontiert, in der langen Geschichte Äthiopiens die anderen Völker dominiert und unterjocht zu haben. Die dreitausendjährige Geschichte des Kaiserreichs soll eine amharische Geschichte gewesen sein – was nicht den Tatsachen entspricht. Denn was immer man der äthiopischen Kaiserdynastie vorwerfen mag, ihr Ziel war nie die ­Dominanz einer Ethnie, sondern die Einheit und Unabhängigkeit der Nation. Darum war auch die Heiratspolitik des Herrscherhauses darauf ausgelegt, die Völker zu verbinden. Es gab in der langen Geschichte der Salomonischen Dynastie nie einen Herrscher, der nur einer bestimmten Ethnie angehört hätte. Der alte Name Äthiopiens lautet Abessinien. Er leitet sich vom arabischen Wort „habesch“ ab – gemischte Rasse.

Die Weltöffentlichkeit schaut weg

Denn das war Äthiopien immer und ist es bis heute: ein Schmelztiegel der verschiedenen Völker und Ethnien. Heute aber weisen äthiopische Personalausweise jedem Staatsbürger eine bestimmte Ethnie zu, meist die des Vaters. Dieser Eintrag kann bei Konflikten über Leben oder Tod entscheiden.

Die äthiopische Regierung zeigt kaum Interesse, das Land zu einigen oder die Konflikte zu beruhigen. Im Gegenteil, sie schüttet Öl ins Feuer von Wut und Hass zwischen den Volksgruppen. Die Welt­öffentlichkeit schaut jedoch meist weg.

Premierminister Abiy startete 2018 mit reichen Vorschusslorbeeren in sein Amt. Auch ich setzte große Hoffnung in ihn. Er versprach Frieden, Einigung des Landes, wirtschaftlichen Aufschwung und das Ende der „Apartheit-Verfassung“. Für die Beendigung des Jahrzehnte währenden Konflikts mit dem Nachbarland Eritrea wurde ihm 2019 der Friedensnobelpreis verliehen. Es war nicht zuletzt der übermäßige internationale Enthusiasmus zu Beginn seiner Regierungszeit, der den Premier­minister in seinem kompromisslosen Kurs bestärkte. Heute spielt Abiy für seinen Machterhalt eine Volksgruppe gegen die andere aus.

Internationales Kontrollgremium nötig

Den Bezug zur Realität scheint er dabei ver­loren zu haben. Abiy sieht sich als Begründer eines neuen kuschitischen Reiches der Oromo. Gerade lässt er sich einen neuen Palast bauen, eine Art ­Luxusspiel­platz von insgesamt fünfhundert Hektar, „größer als Windsor, das Weiße Haus, der Kreml und die Verbotene Stadt zusammen“, wie die Zeitschrift „Africa Confidential“ festgestellt hat. Es soll ein urbaner Vergnügungspark für Eliten werden, auf einem Hügel über der Hauptstadt, mit Luxushotel, Konferenzzentrum und edlen Wohnanlagen. Eine Seilbahn soll Bewohner und Gäste hin und her transportieren. Auf zehn Milliarden Dollar werden die Baukosten veranschlagt. Das entspricht fast dem gesamten jährlichen Staatshaushalt Äthiopiens.

Dabei sind derzeit mehr als zwanzig Millionen Menschen, ein Sechstel der Bevölkerung, wieder auf Nahrungs­mittel­rationen angewiesen. Die zarte Pflanze des wirtschaftlichen Aufschwungs ist längst verdorrt. Die äthiopische Landeswährung Birr ist gerade um dreißig Prozent abgewertet worden. Die Versorgungslage der Bevölkerung spitzt sich weiter zu. Krieg und schlechten Ernten folgten Hungersnöte, und Hunderttausende Menschen sind auf der Flucht vor ausufernder Gewalt.

Neben ethnozentrischer Politik sind schlechte Regierungsführung und korrupte Eliten die Hauptgründe für an­haltende Not und Elend in vielen ­afrikani­schen Ländern. Die vielen Milliarden an Entwicklungshilfe, die Jahr für Jahr nach Afrika fließen, haben die Lebenssituation der Menschen auf dem Kontinent kaum verbessert: Ein Großteil dieser Gelder fließt in die Taschen korrupter Eliten, die damit Luxuswohnungen in Paris oder London finanzieren oder Schweizer Bankkonten füllen. Nötig wäre ein internationales Kontrollgremium, das die Vergabe der Mittel nach strikten Kriterien überwacht. Das wichtigste Kriterium müsste lauten: gute Regierungsführung. Mit ethnozentrischen Gewaltherrschern, die in ihren Ländern Menschenrechte mit Füßen treten, keine Rechtsstaatlichkeit gewähren, ethnische Konflikte herauf­beschwören und in der Regel nur an der Mehrung ihres eigenen Reichtums inter­essiert sind, darf es keine Zusammenarbeit mehr geben.

Es ist im ureigenen Interesse Europas, vor allem den jungen Menschen Afrikas die Aussicht auf ein besseres Leben in ihren Heimatländern zu ermöglichen. Mehr als die Hälfte der heute 1,3 Milliarden Afrikaner sind jünger als zwanzig Jahre.

Wer heute Afrika besucht, ist beeindruckt von der Omnipräsenz des Smartphones und den Social-Media-Aktivitäten junger Afrikaner. Durch die digitalen Medien ist die dortige Jugend verbunden mit der globalisierten Welt. Ihre Ambitionen orientieren sich entsprechend am Wohlstand der Industrieländer, der zum globalen Maßstab geworden ist. Das hat Auswirkungen auf alle Bereiche des ­Lebens, besonders auf das Konsum­verhalten und die Migration. Menschen, die nichts mehr zu verlieren haben und ihre einzige Perspektive in der Flucht sehen, sind auf Dauer nicht zu stoppen. Ihre Zahl in Afrika nimmt stetig zu. Hauptursachen dafür sind die genannten: ethno­zentrische Politik, schlechte Regierungsfu?hrung, korrupte Eliten.

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Prinz Asfa-Wossen Asserate wurde 1948 in eine zur Salomonischen Dynastie ge­hörende Familie geboren. Als Student kam er nach Deutschland, heute lebt er als Unternehmensberater für Afrika und den Mittleren Osten in Frankfurt am Main. Er ist Bestsellerautor; ­zuletzt erschien „Deutsch vom Scheitel bis zur Sohle“ (Die Andere Bibliothek).