Beitrag vom 17.10.2013
Die Weltwoche
Afrika wird armregiert
Die Afrikanische Union erwähnt die Flüchtlingstragödie vor Lampedusa mit keinem Wort. Das ist bezeichnend. Der Kontinent weist jede Schuld von sich. Dabei trägt Afrika die Verantwortung für das eigene Haus allein.
Von Volker Seitz
Die Flüchtlingstragödie von Lampedusa erinnert wieder einmal daran, dass die afrikanischen
Diktatoren vor der Not ihrer eigenen Bevölkerung die Augen verschliessen. Während wir uns zu Recht die Köpfe über die Tragödie heissreden, lohnt ein Blick nach Afrika in die betroffenen Länder und vor allem auf die offizielle Homepage der Afrikanischen Union (AU). Kein Wort darüber. Das ist aber auch verständlich, denn dann müssten die Autokraten der Staaten, deren Bevölkerung unter Korruption, Bürokratie und Seilschaften leidet, an den Pranger gestellt werden.
Korruption als Lebensstil
Die AU ist stark mit Worten, aber schwach als Motor des Fortschritts. Die AU macht viele
Ankündigungen, aber wenig davon wird umgesetzt. Kritik an Diktatoren ist tabu. Von diesen werden alle Versäumnisse und Rückschläge in der Entwicklung ihrer Länder mit der kolonialen Vergangenheit, der Weltwirtschaftskrise oder zu wenig Hilfe erklärt und nicht auf eigene Fehler zurückgeführt. Eigenverantwortung bleibt bloss Lippenbekenntnis.
Es herrschen oft nur beschränkte Vorstellungen von Demokratie. Regierungen halten einen Sieg an den Wahlurnen für einen Blankoscheck. Institutionen, die für eine gegenseitige demokratische Kontrolle sorgen könnten, sind nur schwach entwickelt. Laut tansanischen Medien nimmt die Bevölkerung ihre Regierung zunehmend als korrupt und unfähig wahr. Auch Jahrzehnte nach der Unabhängigkeit und nach Milliarden von Hilfszahlungen hat sich das Leben für die Mehrheit der
Tansanier nicht verbessert, und sie haben die leeren Versprechungen der Regierung satt. Es
gibt nicht ausreichend Jobs, keine besseren Wohnungen oder Wasseranschlüsse. Es gibt
Gesetze zur strafrechtlichen Verfolgung von Korruptionspraktiken. Aber die Korruption
ist in der Gesellschaft so tief verwurzelt, dass selbst bei Grunddienstleistungen im Bildungs-,
Gesundheits- und Energiesektor geschmiert werden muss.
Gerade die für Korruption bekannten Staatsorgane hängen ungeniert überall Anti-Korruptions-Slogans auf. Trotz der Anti-Korruptions-Website «Tanzania Corruption Tracker System» und des wiederholten Versprechens von Staatspräsident Kikwete werden kaum strafrechtliche Verfolgungen der Täter bekannt. Die angeblichen Massnahmen im Kampf gegen die Korruption haben laut
Presseberichten «zu keinem signifikanten Rückgang dieses Phänomens geführt». Im Mai 2012 wurde ruchbar, dass sechs Minister (unter ihnen die Minister für Finanzen, Gesundheit, Energie, Handel und Tourismus) Gelder veruntreut haben. Tansania erhält unter anderem aus Deutschland weiter Entwicklungshilfe. Und dies, obwohl 2011 einige Länder, die ihre Steuerzahler ernst nehmen, ihre Zahlungen gekürzt hatten, weil die Regierung die Korruption nicht eindämmen konnte. Tansania
belegt auf dem internationalen Korruptionsindex von Transparency International Platz 100 von 182 Ländern.
Tansania ist kein Einzelfall. Am 23. April 2012 veröffentlichte das nigerianische Parlament
einen Bericht, nach dem zwischen 2009 und 2010 5,1 Milliarden Euro mit Benzinsubventions-
Betrug von hochrangigen Mitgliedern der Regierungspartei PDP (People's Democratic Party) veruntreut worden waren. Der «Doing Business»-Report der Weltbank platziert die meisten Staaten auf den Rängen 100 bis 180. Ausnahme sind die üblichen Verdächtigen wie Südafrika, Botswana und Ruanda. Nach einem Bericht der Sudan Times vom Juni 2012 wurden um die vier Milliarden Dollar,
von 75 namentlich nicht genannten Staatsangestellten oder ihnen nahestehenden Personen
gestohlen.
Erst jüngst sprach ein Bericht von einer Milliarde Euro Öleinnahmen, die allein 2005 bis 2006 von der damaligen südsudanesischen Autonomiebehörde veruntreut worden waren. Ein Jahr nach der Unabhängigkeit des Südsudan leiden viele der acht Millionen Einwohner unter Armut und Hunger - dabei ist der 619 745 Quadratkilometer grosse afrikanische Staat reich an Erdöl und gutem
Ackerboden.
Schlüssel zur ökonomischen Entwicklung
Die Flüchtlinge werden von Verzweiflung getrieben und lassen sich von den Gefahren nicht
abschrecken. Eindeutig sind die afrikanischen Regime und die Menschenschmuggler in dieser
Tragödie die Schurken. Es ist ein Irrtum, zu glauben, dass sich Flüchtlingsströme aus Afrika
durch höhere Entwicklungshilfezahlungen verringern lassen. Ein Land mit einer schlechten
Regierung kann keine Entwicklung durchlaufen, egal, wie viel Zuwendung es erhält.
Afrika geht es nicht gut. Immer mehr unabhängige afrikanische Intellektuelle wie George
Ayittey, Themba Sono, Dambisa Moyo glauben, dass die Lösungen nach fast sechzig Jahren Unabhängigkeit nur in den Händen der Menschen Afrikas selbst liegen können. Den Schlüssel zur ökonomischen Entwicklung in Afrika haben die Afrikaner. Wenn man ihnen die Freiheit lässt und sie nicht immer weiter mit Entwicklungshilfe bedrängt, können sie ihre eigenen Probleme lösen.
Afrika kann zu einem florierenden Kontinent werden. Aber vielen afrikanischen Politikern
fehlen das Bewusstsein einer Gestaltbarkeit der Verhältnisse sowie die Wertschätzung des
Individuums mit seinen Menschen- und Freiheitsrechten.
Seit der Unabhängigkeit haben fast alle afrikanischen Staaten versagt: Viele sehen ihre Bürger als Untertanen. Sie bieten ihnen weder Rechte noch ausreichend Krankenversorgung, Sicherheit, Bildung und Arbeit. Korruption ist so verbreitet, der politische Einfluss auf die Justiz so allgegenwärtig, dass die Menschen nur noch im Clan Rückhalt finden. Wir sollten erkennen, dass eine Investition in autoritäre Führer kein Rezept für langfristige Stabilität ist. Wer in Afrika lebt, sieht, dass viele Machteliten mit unseren gängigen Vorstellungen von Menschenwürde nicht viel gemein haben. Bisherige «Realpolitik» lässt zu, dass europäische Forderungen nach Rechtsstaatlichkeit einfach ignoriert werden können. Sie werden nicht standfest vorgebracht, oftmals augenzwinkernd mit dem Hinweis, «demokratische Ideale» würden nicht so heiss gegessen wie
gekocht.
In vielen Staaten Afrikas gilt das Recht des Stärkeren. Eine allmächtige Minderheit bereichert
sich in ungeschminkter Form auf Kosten der ohnmächtigen Mehrheit. Die reichlich vorhandenen Bodenschätze werden verschleudert, und die Stärksten sichern sich den Löwenanteil der Erlöse daraus. Viele der unter 25-Jährigen sind ohne Arbeit. Wie können es die afrikanischen Regierungen verantworten, dass die jungen Afrikaner - besser gebildet als ihre Eltern - meist ohne Beschäftigung sind?
Die Arbeitslosigkeit explodiert fast überall. Während die grosse Armut sich dauerhaft festsetzt,
konzentrieren sich die fähigsten und aktivsten Afrikaner immer mehr in den westeuropäischen
Grossstädten. Sie haben das Vertrauen in die Politiker ihrer Heimatländer verloren. Eine Krise ohne Ende.
Wettbewerbsfähige Produkte fehlen
Die koloniale Vergangenheit kann nicht mehr als Entschuldigung für das Versagen in der Gegenwart
herhalten. Sonst gäbe es nicht Länder wie Benin, Botswana, Mauritius, Ghana, Senegal und vor allem Ruanda, das wegen seiner Bildungs-, Gesundheits- und Wirt schaftspolitik zu den Top-Reformern zählt. Die Lebensbedingungen vieler Afrikaner in den afrikanischen Klassengesellschaften sind heute schlechter als zu Beginn der Unabhängigkeit. Die einstige Mittelschicht brach schon vor Jahrzehnten weg. Die Oberschicht verschaffte sich Privilegien und beutet die Mehrheit der Bevölkerung aus. Weisse Kolonialherren wurden durch schwarze Kolonialherren ersetzt. Die Situation hat sich nicht verbessert. Bei uns wird gerne moniert, dass die Agrarexportsubventionen der EU ein wesentlicher Grund für das Ernährungselend in Afrika
seien.
Subventionen von Lebensmitteln werden kritisiert, weil diese die Landwirte in Entwicklungsländern behinderten und lokale Märkte zusammenbrechen liessen. Allerdings wurden Agrarexportsubventionen bereits 2009 auf null gesetzt. Landwirtschaftliche Produktförderung
durch die EU gibt es so gut wie nicht mehr. «So gut wie» heisst: Restzusagen werden noch abgewickelt, neue Zusagen nicht mehr gemacht. Als weiterer Grund für die Misere in Afrika
wird fälschlicherweise angeführt, dass es keinen fairen Zugang zu den Märkten der
Industrieländer gibt. «Everything but Arms» («Alles ausser Waffen») heisst aber ein Programm
der EU, das im Jahr 2001 zur Unterstützung der am wenigsten entwickelten Länder eingeführt wurde - 34 von ihnen liegen in Afrika. Das Programm garantiert diesen Ländern den zollfreien
Zugang zu den EU-Märkten für alle Güter - ausser Waffen. Die Welthandelsorganisation sieht eine Ausnahme vor, die eine einseitige Marktöffnung erlaubt. Danach dürfen sie alle Produkte ausser Waffen zollfrei in die EU exportieren.
Das Problem bleibt aber, dass diese Staaten gar keine wettbewerbsfähigen Produkte anbieten
können. Ohne ein Mindestmass an Veredelung der Rohstoffe und die Entwicklung eines Produzierenden Gewerbes dürfte es in Afrika kaum eine industrielle Revolution nach dem Vorbild Asiens geben. Für die Veredlung der Bodenschätze fehlen ein «Mittelbau » aus Ingenieuren, technischen Mitarbeitern und ausgebildeten Facharbeitern in technischen Berufen sowie eine regelmässige Stromversorgung.
Ein gerne gebrauchtes Argument ist zudem auch, dass die einheimischen Fischer unter der
illegalen Plünderung ihrer Fischgründe litten. Das ist nur die halbe Wahrheit. Es zeigt sich
immer wieder, dass die Regierungen gegen entsprechende Zahlungen Fanglizenzen an ausländische Firmen vergeben. Die Fischer, die ihr Einkommen verlieren, erhalten aber keinen Ausgleich. Die öffentlichen Mittel werden entwendet. In einer Demokratie geht dies auch anders. Die Regierung Macky Sall im Senegal hat es im April 2012 nach der Regierungsübernahme vorgemacht. 29 Fanglizenzen für russische und chinesische Trawler wurden annulliert, die der frühere Fischereiminister eigenmächtig und illegal vergeben hatte. Er und seine Mitwisser sollen 642 Millionen Euro entwendet haben. Der Senegal hat 700 Kilometer Küste, und der Fischereisektor
erwirtschaftet derzeit 150 Millionen Euro Devisen und beschäftigt direkt oder indirekt
600 000 Menschen. Andere Küstenstaaten haben den ernsthaften Kampf gegen Korruption generell und zum Schutz der Fischgründe noch vor sich.
Fluch der Entwicklungshilfe
Inzwischen gilt bei vielen Afrikanern Entwicklungshilfe als «Fluch Afrikas». Hilfe für Afrika hat sich zu einem verselbständigten, profitablen Geschäft für staatliche und gemeinnützige
Organisationen entwickelt, das von Teju Cole «White-Savior Industrial Complex » genannt wird - eine riesige Hilfsindustrie, betrieben von Rettern mit weisser Hautfarbe. Es wurde eine destruktive Abhängigkeit von Hilfe in Afrika geschaffen. Den Menschen in den meisten Ländern südlich der Sahara geht es heute schlechter als zu Beginn der Unabhängigkeit. 30 der 39 ärmsten Staaten der Welt liegen in Afrika, die Lebenserwartung der Menschen sinkt, und das tägliche Pro-Kopf-Einkommen ist heute niedriger als noch vor sechzig Jahren. Die Demokratie leidet, weil die
westliche Betreuungsindustrie viele Autokraten an der Macht hält. Die Länder sind am ärmsten dran, die am meisten Entwicklungshilfe bekommen haben: Durch die «Hilfe» von aussen wird die Bettelmentalität gefördert, und die Afrikaner verlernen die Eigeninitiative. Noch nie stand das Entwicklungshilfesystem so in der Kritik. Entwicklungshilfe nützt vor allem den Gebern, den afrikanischen Eliten und Teilen der Mittelklasse.
____________________________________________________________
Volker Seitz war von 1965 bis 2008 in verschiedenen Funktionen für das deutsche Auswärtige Amt tätig, unter anderem bei der EU in Brüssel, in Japan, Armenien und 17 Jahre in Afrika in sieben Ländern. Von 2004 bis 2008 leitete er die deutsche Botschaft in Jaunde, Kamerun.