Beitrag vom 03.01.2014
Neue Zürcher Zeitung
Lampedusa ist nicht Lemberg
Sucht man in Zentralafrika eine Autorität, findet man sie in der französischen Fremdenlegion. Das ist die Wahrheit, und sie ist niederschmetternd.
Überall da, wo Wolfgang Niedecken, der Rocker von BAP aus Köln, als Helfer hinkommt, ist Robert Mugabe - Beruf: afrikanischer Staatspräsident - schon gewesen. Die Spuren, die die sozialistischen Reformen in Afrika hinterlassen haben, machen das Scheitern des vor dem Hintergrund des Kalten Kriegs durchgeführten Experiments überdeutlich. Seine Denkmäler sind seine Ruinen.
Die politische Hauptstrategie im Kalten Krieg war es, gesellschaftliche Fakten zu schaffen, so, als hätte man zumindest weltanschaulich gesiegt und sei nun bereits mit der Zukunft beschäftigt. Der Kalte Krieg steuerte auch Afrikas Innenpolitik in drastischer Weise. Die regelmässige feierliche Ankündigung der Einführung des «Sozialismus» durch afrikanische Militärs und andere Knallchargen gehörte bereits zur Folklore der Agenturmeldungen der Zeit.
Man erzählte sich sogar einen Witz, in dem die wohlhabende neutrale Schweiz eine gewisse Rolle spielte. Warum die Schweiz nicht den Sozialismus einführe, hiess es darin, und die Antwort lautete, sie könne sich den Sozialismus nicht leisten, er sei schlicht zu teuer.
So viel ist sicher: Die teuren Ideen kamen aus Europa. Die einen wie die anderen. Das Prinzip des Kolonialismus wie des Sozialismus. Ihre afrikanischen Träger hatten in der Regel eine militärische Ausbildung in London, Paris oder in Moskau erhalten. Das Wissen, das sie dabei erwarben, verwandelte sich bei den meisten nach ihrer Rückkehr ins afrikanische Heimatland in eine Wissensparodie.
Was die Kolonialideologie, bei aller Rücksichtslosigkeit und allem Rassismus, zumindest aber in Umrissen hinterliess, wurde - und auch das ist eine bittere Wahrheit - vom Anspruch auf Staatssouveränität zerstört. Selbst aus Musterkolonien wie Ghana und Kenya wurden Polizeistaaten.
Afrikanische Gesellschaften leben heute am Rande des kollektiven Nervenzusammenbruchs. Dass sie nur durch das tägliche, zum Teil tollkühne Improvisieren überleben können, ist der Ausdruck ihrer Krise, aber auch die Wurzel für die allgemeine Skepsis bezüglich der eigenen Entwicklungsmöglichkeit. Fazit der einschlägigen Debatte: Wahrscheinlich wird es nie ein afrikanisches Auto geben.
Die meisten europäischen Staatsdoktrinen und Gesellschaftsmuster verschafften ihren Urhebern die Überzeugung, durch diese über Europa hinaus Einfluss nehmen und das Weltgeschehen kontrollieren zu können. Die Europäer wussten nicht nur das Fremde vom Eigenen zu unterscheiden, sie waren auch vom Unbekannten fasziniert. Sie erkundeten laufend die Ferne, ohne sich jemals an diese Ferne zu verlieren. Weder die Begehung der Seidenstrasse noch die Entdeckung Amerikas konnten das Selbstbewusstsein der Europäer erschüttern. Warum sollte Ähnliches den Afrikanern gelingen, aufstrebenden Nationen in Hütten?
Die Römer hatten Rom, und wir leben bis heute davon, dass es für uns eine Sesshaftigkeit gibt, die unerschütterlich geblieben ist. Jetzt, wenn sich alles beschleunigt, kommt es umso mehr auf die Fähigkeit zur Sesshaftigkeit an. Sonst wird man schnell zum Teilhaber des Chaos.
Über die Afrikaner, die vor der italienischen Insel Lampedusa am Horizont erscheinen, wissen wir praktisch nichts, wir kennen nicht einmal die Namen der Länder und Staaten, aus denen sie stammen. Es gibt keine Kommunikation zwischen uns und den Afrikanern, wir nehmen bloss die gleichen Bilder aus den weltweiten Informationsströmen, zumindest über das Fernsehen, wahr. Während die Afrikaner auf der Suche nach Arbeit sind, fürchten wir um unsere soziale Sicherheit. Ein gewaltiger Gegensatz baut sich vor unseren Augen auf, der zum ersten Mal in der Geschichte Europas unmittelbare Folgen für dessen Existenz hat. Der Zerfall Afrikas ist nicht nur ein afrikanisches Problem.
So wird der europäische Westen zum ersten Mal tatsächlich vom Süden abhängig, und zwar nicht wegen des Bedarfs an Rohstoffen, sondern wegen der Instabilität des Südens. Diese war in der Vergangenheit Gegenstand zahlreicher Erklärungsversuche, ökonomischer und ökonomiehistorischer Art. Aber ökonomisch lässt sich, trotz dem guten Glauben der Beteiligten, kaum etwas erklären.
Dass die Modernisierung des Südens weitgehend gescheitert ist, liegt nicht etwa an verfehlter Investition, sondern vor allem am Scheitern der Einführung und Festigung moderner Staats- und Gesellschaftsstrukturen. Dieses Scheitern ist eher tragisch als spektakulär, und die es begleitende Spekulation wird nach wie vor vom Paradigma des Kolonialismus begrenzt. Dabei ist nicht dieser die Ursache für das Scheitern der afrikanischen Moderne, sondern die lange afrikanische Traditionszeit ohne Uhr und mit dem schlichtesten Pflug der Welt.
Davon offen zu reden, ist im Westen so gut wie verboten. Allzu gern neigt man in der bekannten christlichen Manier zur Selbstbezichtigung. «Der durchschnittliche Europäer, ob Mann oder Frau», so Pascal Bruckner, «ist ein Wesen von äusserster Sensibilität, immer bereit, die Armut Afrikas und Asiens auf sich zurückzuführen, Mitleid mit den Unglücklichen dieser Welt zu empfinden, die Verantwortung für alle Übel zu übernehmen und zu fragen, was er für den Süden tun könne, anstatt sich zu überlegen, was der Süden für sich selbst tun könnte.» Und Afrika? Sein Partner Nummer eins ist schon lange die Welthungerhilfe.
Afrikas Elend hält nach wie vor die effektvollsten Medienbilder bereit. Und da im Westen alle Tätigkeiten die Ausdrucksformen der Marktwirtschaft annehmen, haben wir es hier mit einer Spenden-Nothilfeindustrie zu tun. Man kann durchaus den Eindruck haben, dass der Letzte, der von Nord nach Süd reiste, ohne Hilfsgüter mitzuführen, Karl der Grosse war, anlässlich der Krönungsreise von Aachen nach Rom.
Karl der Grosse war es, dem das Austarieren des Europäischen durch die Nord-Süd-Achse vorschwebte, um so die Dynamik des Abendlands zu begründen, ohne auf den geistigen Spannungsbogen zwischen Kaiser und Papst zu verzichten. Zu den Folgen gehört nicht zuletzt der Investiturstreit. Er besagt: Diesseits und Jenseits sind bis heute Orte des Versprechens und damit auch der Ordnung.
Als Befürworter des Ordnungsprinzips fühlen wir uns von dem Chaos, das die Flüchtlingsströme aus dem Süden auf Dauer hervorrufen könnten, bedroht. Schon die Vorstellung davon lehrt uns das Gruseln. Das Chaos aber, wie wir es uns vorstellen, kann bereits durch ein Unwetter ausgelöst werden und sogar von der Ankündigung durch den Wetterbericht - durch seine Anschaulichkeit. Die Ängste wachsen mit dem Wohlstand, und der Wohlstand wächst mit den Ängsten.
Mit diesem Wissen stellen wir uns die Barbaren vor, wie sie nachts über die Grenze kommen. Sie reiten nicht mehr auf ihren zähen Pferden, wie zu Roms Zeiten, sie scheinen vielmehr ziemlich entspannt in den von uns gelieferten Jeeps zu sitzen.
Ein Imperium, gestern war es Rom, heute wäre es Brüssel, hat trotz seiner allgemein akzeptierten Ausstrahlung reale Grenzen. Werden diese Grenzen von den Eliten nicht respektiert, entsteht eine Überdehnungsproblematik, deren Gefahren von der EU erst langsam ausgemacht werden.
Rom hatte den Limes, wir haben keinen, weil unsere Ideologie der Entfaltung des Guten uns den Limes verbietet. Aber auch Rom hatte nur einen begrenzten Willen zum Limit. Seine Mauern sollten vor allem dem Schutz gegen den Norden und den Osten, also gegen Germanen und Slawen, dienen. Das Mittelmeer («Mare nostrum») hatte offene Grenzen. «Seine nördliche Grenze verstand sich von selbst, der südlichen schenkte man keine Beachtung», schreibt Predrag Matvejevic.
Rom ist untergegangen, und es wäre nicht Rom gewesen, wenn es uns nicht zu rechtmässigen Erben seines Desasters gemacht hätte. Die Römer waren wohl die Ersten, die dem öffentlichen Leben bewusst das Entertainment zuordneten. Nachdem sie ihre Gesellschaft zum «Satyrikon» erklärt hatten und in der Folge nichts mehr galt, kapitulierten sie vor einer nach damaligen Gepflogenheiten kuriosen Sekte, dem Christentum.
In Rom ist, neben allem anderen, auch die Republik gescheitert, und der Versuch ihrer Neubelebung durch Aufklärung und Revolution hat dieses Scheitern ein weiteres Mal bestätigt. Das Menschenrecht wurde durch die Religion offensichtlich besser gestützt als durch das Wahlrecht. Der Einzelne war das wert, was ihm die Bibel zugestand, mehr war nicht zu leisten, auch nicht durch das Bürgerliche Gesetzbuch. Religion und Mentalität bestimmten das Recht.
So war die Existenz des Christentums im zerfallenden Römischen Reich ein Glücksfall, aber auch ein Wagnis. Indem es zur Staatskirche wurde, nahmen die Institutionen des Reichs eine kirchliche Form an, und selbst noch die klerikalen und sogar die theologischen Verwerfungen wurden zu Staatsangelegenheiten. Als die Kirche sich in Ost- und Westkirche spaltete, teilte sich auch das Römische Reich. Rom hatte in seinem antiken Machtbereich einst Okzident und Orient im Griff. Diese driften nun auseinander, Katholizismus und Orthodoxie verlieren sich in Dogmenfragen.
Ost und West haben sich früh auseinandergeredet. Ihre Querelen wurden zum aufschlussreichen Beispiel für die kulturelle Bestimmung des Konflikts, seine mentale Grundierung. Eine funktionierende Gesellschaft kennt nicht nur den Konflikt selbst, sie pflegt auch seine Geschichte. Diese wird selbstverständlich aus der Sicht der Mehrheit erzählt.
Katholizismus, Orthodoxie und Reformation konnten sich solche Mehrheiten mühelos sichern und damit ihre geopolitischen Grossräume schaffen. Darin behält Rom eine gewisse Autorität, diese aber nimmt immer öfter einen symbolischen Charakter an. Während das letzte Rom von weidenden Schafen bevölkert wird, entsteht in der Pufferzone zwischen Frankreich und Spanien, in Irland und Grossbritannien, in Burgund und am Rhein, das Abendland der Ritter und Kreuzfahrer, der Mönche und der Scholastiker. Auf dieses Abendland beruft man sich in der Regel, wenn es um Europas Werte geht, nicht zuletzt um ihre Wirkungen auf die Gestalt der Ökonomie. - Selbst die Kapitalwirtschaft wird vom Glauben an ihren Sinn gesteuert und nicht von der Analyse der Wirtschaftsweisen. Die Gesellschaft des Westens, die aus solchen Konstellationen hervorgeht, blickt nüchtern auf den Lauf der Welt und entschädigt sich regelmässig mit den Produkten. Im Westen muss alles neu sein oder zumindest neu wirken. Dieser geschäftige Westen mag der Motor Europas sein, er ist aber nicht mit Europa gleichzusetzen.
Während der europäische Westen das geschmeidige, das Hauptbetrachtungsobjekt des Ostens blieb, verlor dieser immer mehr an Bedeutung. Der Osten konnte sich zwar als Teil Europas verstehen, aber nicht als Teil seines ausgewiesenen Territoriums. Mit dem Schicksal von Byzanz, das die Osmanen kassierten, und dem Byzantinismus, den sich Russland aneignete, verschwand der griechische Geist aus dem neuen europäischen Rahmen. Es ist nicht die Antike, an deren Küsten und in deren Städten das heutige Europa entstand, dieses Europa ist vielmehr ein Produkt des Mittelalters und damit eine Spätgründung der germanisierten Trümmer des Römischen Reichs. Das Europa, das wir heute meinen, ist weitgehend aus der Staatsidee entstanden, die sich die Germanen in Rom angeeignet haben. Ob es nun das Heilige Römische Reich Deutscher Nation war oder das Königreich Frankreich.
Es gibt ein geografisches Europa, ein kulturgeschichtliches und ein politisches. Sie sind nicht deckungsgleich, sie werden es auch nicht sein. Das geografische Europa ist eher ein Kuriosum. Die Wolga soll im Übrigen - geografisch betrachtet - den Grenzfluss zu Asien bilden. Schauen wir uns doch die Wolga an. Unterscheidet sich etwa das eine Wolga-Ufer vom anderen? Und welches von beiden soll das europäische sein? Eine solche Grenze kann nur eine Kulturgrenze sein, oder sie ist politisch erzwungen.
Der Osten ist, so gesehen, mit dem Süden kaum zu vergleichen. Lampedusa ist wie jede andere italienische Mittelmeerinsel, sie wäre es auch, gäbe es nicht das Politikum der nahen afrikanischen Küste, die darüber hinaus sogar noch die letzten Zeichen der Kolonialzeit, die spanischen Enklaven Ceuta und Melilla, vorzuzeigen hat. Es sind dies weder Orte der Nostalgie, noch bergen sie irgendwelche Archive der Mentalität, dafür sind sie mit den höchsten Zäunen der Welt versehen. Sie haben kaum eine Chance wie Lemberg, «Kulturhauptstadt» Europas zu werden, sie befinden sich aber als Teil Spaniens längst in der EU.
Lemberg hingegen kann sich im besten Fall auf seine kakanische und polnische Vergangenheit berufen, das ändert aber nicht viel an den Tatsachen. Lemberg ist heute eine ziemlich bedeutungslose Stadt im Westen der Ukraine, im ehemaligen Kronland Galizien, welches das ärmste Gebiet der Donaumonarchie war. Es gehört zum Raum der Ostkirche, ist aber auch ein Ort der Unruhe und längst noch nicht frei von der grossen Heimsuchung durch den «homo sovieticus».
Die Weichen, die der Kalte Krieg gestellt hat, bewirken bis heute auch eine deutliche Verknüpfung zwischen Nord und Süd, also zwischen dem Westen und dem Süden. Ob es nun um Europa geht oder um die Globalisierung, der Osten ist stets bloss die Nummer drei. Nelson Mandela und Vaclav Havel - konkurrieren sie etwa?
Der europäische Westen erwartet nichts vom Osten, weil der Osten dem Westen nacheifert. Er will aufholen und gleichziehen. Das aber ergibt für den Westen kein brauchbares Zukunftsbild, denn vor dieser Art Zukunft, die an die eigene Vergangenheit und Gegenwart erinnert, kann der Westen nur warnen. Diese Warnung aber ist eine Luxus-Warnung. Man kann nur vor dem Elend warnen, nicht vor dem Reichtum.
Während der Osten seine europäische Verankerung, die der Kalte Krieg zerstörte, rekonstruiert, hat der Westen die Zukunft seiner Projekte bereits im (afrikanischen) Süden verortet, dessen Bedürfnisse er zu erkennen glaubt und dessen Chaos-Zustand ihn fasziniert.
Im restaurierten Lemberg kann man einen Kaffee trinken und dabei auf den Kaiser Franz Joseph blicken. In Timbuktu aber ist die Wüste. Und über ihr erstreckt sich der Himmel. Hier wird es nie wie in Lemberg sein und schon gar nicht wie in Cannes oder Venedig.
Hier ist alles so weit weg, dass der Westen sich der eigenen Unruhe entledigen kann, und das ist der wahre Grund für sein Interesse am Süden.
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Richard Wagner, geboren 1952, lebt als Schriftsteller und Publizist in Berlin. 2011 erschien im Knaus-Verlag der zusammen mit der Publizistin Thea Dorn verfasste Band «Die deutsche Seele».