Direkt zum Inhalt
Für eine andere Entwicklungspolitik!

Beitrag vom 24.05.2015

Neue Zürcher Zeitung

Nigerias Hauptstadt aus der Retorte
Abuja - Stadt der Planträume

Die nigerianische Hauptstadt Abuja ist die einzige gelungene Planstadt Afrikas. Sie wurde auf geraubtem Boden errichtet - möglicherweise ein schlechtes Omen.

von Markus M. Haefliger, Abuja

An der nigerianischen Retortenstadt Abuja, seit einem Vierteljahrhundert die Hauptstadt des bevölkerungsreichsten Staates in Afrika, scheiden sich die Geister. Viele Einheimische sind stolz auf die Stadtautobahnen, Parkanlagen und modernen Gebäude der Planstadt. Ausländer schätzen sie, weil sie in Abuja nie im Verkehr steckenbleiben. Anderen bleibt die Stadt ein Greuel. Geschäftsleute aus der quicklebendigen, stets überfüllten Wirtschaftsmetropole Lagos an der Küste klagen, in Abuja sterbe man vor lauter Langeweile.

Elitäre Sehnsüchte

Die Wahrheit liegt wohl irgendwo in der Mitte. Die neue Hauptstadt wurde in den 1970er Jahren als nationales Bindeglied zwischen dem muslimischen Norden und dem christlichen Süden im Zentrum des Landes konzipiert und durch den japanischen Architekten Kenzo Tange auf dem Reissbrett entworfen. Die meisten Gebäude entstanden in den 1980er Jahren, im Jahr 1991 erfolgte der offizielle Umzug des Regierungssitzes von Lagos nach Abuja.

Die Stadt mit mittlerweile über einer Million Einwohnern und Hunderttausenden von Bewohnern mehrerer Satellitenstädte offenbart, wie sich Nigerianer insgeheim eine Metropole vorstellen: als Stadt mit klaren Baulinien und Alleen, die mit Prunkbauten, Parkanlagen und einem künstlichen See geschmückt ist und einwandfrei mit Wasser, Strom und Abwasserkanälen versorgt wird. In dem sehnsüchtig gehegten Gegenentwurf zur afrikanisch wuchernden Normalstadt, in der informelle Wohn- und Gewerbequartiere nicht voneinander zu trennen sind, wurden in Abuja selbst die Märkte ordentlich angelegt, mit Hallen, die Kunden und Händlern Regenschutz gewähren.

Die Grosse Moschee, die Kathedrale und das Parlamentsgebäude prägen die Skyline der Planstadt, in der kein Gebäude älter als 35 Jahre ist. Der 170 Meter hohe Millennium Tower steht im Bau, er soll einem geplanten Kulturzentrum die Krone aufsetzen. Der Aso Rock, ein 400 Meter hoher Granitfelsen, bildet ein natürliches Wahrzeichen; an seinem Fuss liegt der Präsidentenpalast, ein Bunker von einem Bau aus der Zeit der Militärdiktatur. Nur wer ein Auto besitzt, also die Angehörigen einer dünnen Elite, findet sich zurecht. Eine Stadtbahn wurde vor Jahrzehnten geplant, sie befindet sich jetzt immerhin im Bau. Auch öffentliche Busse verkehren seit einigen Jahren, wenn auch nur zwischen dem Zentrum und einigen Vorstädten. Nichtautomobilisten bleiben in ihrer Bewegungsfreiheit durch die enormen Distanzen zwischen Gebäuden und Bezirken eingeschränkt. Fahrräder sieht man nie, Motorräder sind aus Sicherheitsgründen verboten.

In der Sprache der Bürokraten heisst Abuja Federal Capital Territory (FCT); das Gebiet verfügt im Unterschied zu den 36 Gliedstaaten des Landes über keine Institutionen, sondern wird von der Bundesregierung verwaltet. Laut Kritikern wird die Stadt weniger dadurch definiert, was sie hat, als dadurch, was ihr fehlt - ein zentrales Geschäfts- oder Vergnügungsviertel beispielsweise, in dem sich flanieren liesse, ein Zentralplatz für Demonstrationen. Nicht die Planer seien daran schuld, sagt Yusuf Yahaya Anako, der Direktor der zuständigen Planungsbehörde. Das Bevölkerungswachstum und aufeinanderfolgende Perioden der Geldknappheit hätten Umnutzungen zur Folge gehabt, denen seine Behörde machtlos ausgeliefert sei.

Vieles bleibt unvollendet

Wenn Anako in einem weiss-orangen Pick-up seiner Behörde durch Abuja fährt, schaut er mit Argusaugen in die Vorhöfe von Wohnblöcken. Bei unbewilligten Anbauten greift er durch. Er lässt sie mit rotem Spray markieren; danach werden sie abgerissen. Der Stadtplaner weiss von jeder Ecke, wie sie gemäss Masterplan auszusehen hätte und was verwirklicht oder abgewandelt wurde. Vieles blieb unvollendet. Nur im eigentlichen Hauptstadtbezirk, der im Scheitel einer parabelförmigen Stadtautobahn liegt, wurde die Infrastruktur zu über 90 Prozent vollendet und wird alles Bauland genutzt. Die weiter westlich gelegenen Sektoren II bis IV dagegen wurden bisher nur zu 20 bis 50 Prozent mit Strassen, Gemeinschaftszentren, Märkten und Parkanlagen ausgestattet.

Die öffentlichen Räume sind häufig verkümmert, die Parkanlagen verwildert. Manchenorts prahlen Prunkbauten mit falschen korinthischen Säulen aus Beton und vergoldeten Vordächern, aber nachts bleibt es darin dunkel. Korrupte Politiker bauten Häuser aufs Geratewohl, um Geld zu waschen und anzulegen, sagt Anako, sie seien auf keine Einnahmen angewiesen, die Gebäude blieben ungenutzt. Glaubt man Musa Baba-Panya, ist die krumme Spekulation kein Wunder in einer Stadt, die auf Unrecht gebaut ist. Der Menschenrechtsanwalt, der sein Büro im dritten Stock eines einfachen Wohnblocks eingerichtet hat, vertritt die Anliegen von Gbagyi, Angehörigen einer ethnischen Minderheit, denen die Felder und Weiden Abujas einst gehörten.

Baba-Panya, auch er ein Gbagyi, zitiert eine Studie der Universität Ibadan aus dem Jahr 1978. Danach sollten den eingesessenen Bewohnern des heutigen FCT Entschädigungen über insgesamt 2,8 Milliarden Naira gezahlt werden, nach dem damaligen Wechselkurs über 8 Milliarden Franken. Die Summe übertraf das jährliche Budget der Bundesregierung um ein Mehrfaches. Niemand nahm die Zahl ernst, die regierenden Militärs benutzten die unrealistischen Forderungen, um mit ihnen zusammen gleich die ganze Debatte um Entschädigungen vom Tisch zu wischen. Die Gbagyi bekamen nichts.

Entrechtet und eingeschnürt

Während in Abuja Dutzende von Milliarden Dollar an Erdölgeldern verbaut wurden, darbten die Gbagyi vor sich hin. Auf dem gesamten Hauptstadt-Territorium gab es vor 40 Jahren über 800 Dörfer der Gbagyi; laut Baba-Panya verfügen über 330 davon noch immer über keine Wasserversorgung. Mehr als 50 Dörfer liegen im engeren Gebiet der Hauptstadt. Meist hinter Reihen moderner Büro- oder Wohnhäuser gelegen, bleiben sie den Augen zugewanderter Stadtbewohner verborgen.

Wer den Ahmadu-Bello-Way entlangbraust, eine auf vier getrennte Fahrbahnen ausgebaute Nebenstrasse, ahnt nicht, dass hinter den Beton- und Glasfassaden Garki liegt, das Überbleibsel eines Gbagyi-Dorfes, heute ein grossstädtischer Slum. Eine holprige Piste aus Sand und Stein führt an Häusern aus Lehmziegeln und Wellblech vorbei zum Sitz von Chief Usman Ngu-Kupi. Plötzlich geht es traditionell zu und her wie irgendwo in Nigeria auf dem Land. In einem Rundbau empfangen Palastdiener, die eine rot-grüne Tracht tragen, die Besucher.

Chief Ngu-Kupi, dessen Hoheitsgebiet zufällig in die neue Hauptstadt zu liegen kam und seither vom Beton eingeschnürt wird, wiegt den Kopf hin und her. «Gut und schlecht» sei Abuja, sagt er. Behörden und Schulen seien nah - ein Vorteil. Viele Gbagyi kommen als Slumlords zu Geld; sie vermieten ihre Hütten an Zuwanderer, die sich die hohen Mietzinsen in der Stadt sparen wollen. Andere arbeiten als Dienstpersonal, Nachtwächter, Bauarbeiter oder im informellen Sektor. «Unsere wirtschaftliche Basis wurde umgekrempelt», sagt Ngu-Kupi, «aber die Bauern, sie haben ihr Einkommen verloren.»

Poker um Entschädigungen

In Nigeria herrscht mittlerweile Demokratie. Die Entschädigungsforderungen der Gbagyi lassen sich nicht mehr so einfach abwimmeln wie während der Militärdiktatur, aber sie sind immer noch unrealistisch. Das ist Musa Baba-Panyas Chance. Er und seine Klienten pokern hoch. Für die Elite, die mit undeklarierten Erdölgeldern die Bodenspekulation in die Höhe treibt, sind ihre Forderungen eine Plage, mehr nicht. Um Gerichtsverhandlungen auszuweichen, einigen sie sich mit Baba-Panya aussergerichtlich. Schon mancher Gbagyi wurde so unerwartet reich.

Von A wie Abuja bis Y wie Yamoussoukro

Wenn Muhammadu Buhari, der frisch gewählte Präsident Nigerias, am 29. Mai in Abuja in sein Amt eingeführt wird, dürfte sich der zentral gelegene Eagle Square mit Anhängern und Schaulustigen füllen. Das ist eine Ausnahme. Normalerweise bleibt der Platz fast menschenleer, nur der Verkehr braust an ihm vorbei. Der Mangel an einem öffentlichen Platz mit historisch gewachsener Zentrumsfunktion ist ein typischer Makel einer Planstadt wie Abuja. Davon gibt es auf dem afrikanischen Kontinent ein halbes Dutzend.

Den Anfang machten in den sechziger Jahren Gaborone und Nouakchott, die Hauptstädte Botswanas und Mauretaniens. Beide Länder waren zuvor als abhängige Territorien von Nachbarländern aus verwaltet worden. Der Bau einer Hauptstadt von Grund auf war also notwendig. Anders Lilongwe in Malawi. Mit der neuen Hauptstadt wollte der malawische Gründerpräsident Hastings Banda beweisen, dass sein Land genauso wie das von ihm verehrte Südafrika nach einem Rasterplan eine moderne Stadt bauen konnte.

Tansanias Präsident Nyerere liess in den siebziger Jahren das zentral im Landesinnern gelegene Dorf Dodoma zur Hauptstadt ausbauen. Es sollte für alle Tansanier gleich gut erreichbar sein und mit Quartieren, die Dorfgemeinschaften glichen, ein Stück seiner sozialistischen Ujamaa-Lehre verwirklichen. Etwa gleichzeitig ergriff das Baufieber auch den Gründerpräsidenten der Côte d'Ivoire, Houphouët-Boigny. In seinem Fall war es Lokalchauvinismus, der ihn dazu trieb, sein Heimatdorf Yamoussoukro zum Sitz des Parlaments zu machen und eines der grössten Kirchengebäude der Welt zu errichten. Sowohl Dodoma als auch Yamoussoukro setzten sich aber nur halbwegs durch: Faktisch blieben die alten Hauptstädte Dar es Salaam und Abidjan Regierungssitz.