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Für eine andere Entwicklungspolitik!

Beitrag vom 21.10.2015

Frankfurter Rundschau

FLUCHT AUS AFRIKA

Für Flüchtlinge lauert in der Sahara der Tod

Von Johannes Dieterich

Auf ihrer Flucht Richtung Europa durchqueren Tausende Afrikaner die Sahara. Experten schätzen, dass die Wüste fast genauso vielen Menschen zum Verhängnis wird wie das Mittelmeer. Ein Besuch bei Schleusern.

Die Hitze brennt wie ein Bügeleisen auf der Haut. Harmattan, der Wüstenwind, fegt den Staub durch die Straßen der Stadt: Erbarmungslos setzt sich der feine Sand in den Augen, auf den Zähnen und in den Ohrmuscheln ab. Wer es sich leisten kann, zieht sich jetzt hinter die dicken Mauern einer Auberge zurück – und dabei ist es noch nicht einmal Mittag in Agadez, Hauptstadt der gleichnamigen Region Agadez in Niger.

Trotzdem scheint alle Welt auf den Beinen zu sein. Auf einem Straßenmarkt im Zentrum der Stadt sucht sich eine Gruppe Ghanaer Axtstiele aus Holz aus, die ihnen bei der bevorstehenden Fahrt durch die Sahara auf der Ladefläche eines der „Taliban“ genannten Pick-ups als Haltegriffe dienen sollen. Spindeldürre Jungs aus Gambia decken sich mit Wasserkanistern ein, ohne die sie die viertägige Reise durch die Wüste nicht überleben würden.

Und in der Filiale der Sonibank hat sich vor dem Western-Union-Schalter eine Schlange junger Senegalesen formiert: Jeder der gut 20-Jährigen hebt noch schnell 200 000 CFA-Francs ab, die sie zumindest über die nigrische Grenze hinweg in die 1700 Kilometer entfernte libysche Oasenstadt Sabha bringen sollen.

NIEMAND WEISS, WIE VIELE MENSCHEN VERSCHWINDEN

Montagmorgens ist Rushhour in Agadez. Aus allen Teilen Westafrikas angereiste Migranten treffen die letzten Vorbereitungen für ihre Fahrt durch die Sahara, den härtesten Abschnitt ihrer zum Teil Monate oder gar Jahre dauernden Reise nach Europa. Am späten Nachmittag wird das nigrische Militär einen Konvoi zusammenstellen, dem sich außer einigen Dutzend Lastwagen auch weit über einhundert Schlepper mit ihren „Talibans“ anschließen.

Die Soldaten werden die Laster und Pickups bis Dirkou, ein 650 Kilometer entferntes Garnisonsstädtchen in der Sahara, begleiten. Von dort setzen die Schlepper ihre Reise dann ohne Schutz fort. Woche für Woche werden auf diese Weise Tausende von Afrikanern durch die Wüste in Richtung Tripoli geschleust, wo sie ihre nicht selten tödliche Überquerung des Mittelmeers antreten.

Die Etappe durch die Sahara hat es allerdings kaum weniger in sich: Paloma Casaseca von der Internationalen Organisation für Migration (IOM) geht davon aus, dass die Wüste fast genauso vielen Menschen zum Verhängnis wird wie das Mittelmeer. Erst vor zwei Monaten seien wieder 35 Leichen in zwei gestrandeten Lastwagen gefunden worden, erzählt die junge Spanierin. Wie viele Menschen für immer im Sandmeer verschwinden, weiß niemand.

Ahmed Bello greift noch einmal kräftig zu. Der 34-jährige Tuareg sitzt in seiner schmucklosen Hütte am Nordrand der Stadt und isst zu Kugeln geformten Reis mit Hühnersoße. Einst chauffierte Bello europäische Touristen zu Exkursionen in die Wüste, doch seit dem Tuareg-Aufstand vor acht Jahren und der anschließenden Entführungswelle europäischer Reisender durch islamistische Extremisten sind die begüterten Besucher weg geblieben.

Jetzt sucht sich der Chauffeur an afrikanischen Migranten schadlos zu halten. Die zahlen zwar nicht so gut, doch dafür kann er mindestens 25 von ihnen auf seinen Toyota Hilux quetschen. Westliche Touristen fanden dagegen nur drei in seinem Fahrzeug Platz. Bello nennt sich selbst den „Exodus-Mann“.

Er biete seinen Kunden eine wichtige Dienstleistung an: Die Migration sei in diesem Teil der Welt schon seit Jahrzehnten üblich, sagt der Chauffeur. Respekt scheint er vor seinen Kunden dennoch nicht aufzubringen: Er pflege mit einem derartigen Karacho über die Sandpiste zu brettern, dass immer wieder mal ein Fahrgast von der Ladefläche fliege, erzählt Bello lächelnd. Ernsthaft verletzt werde dabei in der Regel keiner: Wer über Bord gehe, lande meist weich im Sand.

500 EURO FÜR BENZIN

In der Regel fahre er nachts, erzählt der Chauffeur. Und wenn er nach einer kurzen Rast wieder auf die Piste dränge, setze er seinen Gürtel ein, um die erschöpften Passagiere auf die Ladefläche zurück zu treiben. Für die gut viertägige Reise nach Sabha nimmt der Chauffeur 2,5 Millionen CFA, gut 4000 Euro, ein.

Davon gehen 500 Euro für Benzin drauf. Den Rest muss er sich mit seinem Vetter, dem „Passeur“ genannten Schlepper, teilen. Der kümmert sich um die Akquise, ihm gehört auch der Wagen. Reich wird Bello auf diese Weise nicht. Doch mehr als die 100 Euro, die er einst als Touristenchauffeur wöchentlich einstrich, sind auf jeden Fall drin.

Sein erster Fahrgast wartet in Bellos Hütte bereits ungeduldig auf die Abfahrt. Er heißt Ismael Illa, ist 19 Jahre alt und gehörlos. Ismael hat gelernt, die Worte von den Lippen seiner Gegenüber abzulesen. Sein strahlendes Gesicht verrät, dass er es kaum erwarten kann, die Heimat in Richtung Libyen zu verlassen. Bello hat arrangiert, dass der Junge bei Bellos älteren Schwester in Sabha arbeiten kann: Ismaels Eltern waren froh, dass ihr Sohn eine Beschäftigung fand.

Von der in Libyen lauernden Gefahr wollen weder Ismael noch seine Familie etwas wissen. Seit Revolutionsführer Muammar al-Gaddafi dort mit Hilfe der Nato von seinem Thron gebombt wurde, haben Kriegsfürsten, extremistische Islamisten und gewissenlose Opportunisten die Macht übernommen.

IOM-Sprecherin Casaseca weiß von Migranten zu berichten, die in Libyen wie Sklaven gehalten würden. Wenn ein Arbeitgeber die westafrikanischen Migranten nicht bezahlen wolle, schicke er sie nach einem halben Jahr einfach ohne Sold über die Wüste zurück. In Agadez werden die gescheiterten Arbeitssuchenden vom IOM in einem am Stadtrand gelegenen „Empfangszentrum“ aufgefangen.

Jamal Kwabena blieb von solchen Misshandlungen bislang verschont. Der muskelbepackte Ghanaer arbeitete bereits zweimal als Anstreicher in Libyen, bis er sein Gastland aus Sicherheitsgründen fluchtartig verlassen musste. Mehrere Monate schlug sich Kwabena zu Hause in Accra mit dem Verkauf von Handys durch.

AN STRASSENSPERREN VERLANGEN POLIZISTEN GELD

Doch nachdem ihm seine Mobiltelefone ständig geklaut worden waren, machte sich der 28-Jährige wieder auf den Weg. Dieses Mal will er es bis nach Europa schaffen. In der Nähe von Frankfurt am Main lebt ein Vetter von ihm, bei dem er unterkommen könne: Dort will er dann Computertechnologie studieren. Kwabena verfügt über einen Abiturabschluss. Ein Studium, das ihm sein verstorbener Vater nicht finanzieren konnte, war schon immer sein Traum.

Kwabena sitzt in einem Verschlag im Hinterhof eines Hauses in Agadez, das Insider „Ghetto“ nennen. Die rund 130 000 Einwohner zählende Wüstenstadt verfügt über unzählige solcher Ghettos, in denen die Migranten vor ihrer Wüstendurchquerung noch ein paar Tage – manche auch Wochen oder sogar Monate – verbringen, um die nötigen Mittel zusammenzukratzen.

Die Behörden dulden die Ghettos stillschweigend, obwohl die „wirtschaftliche Nutzung“ der Migration seit April im Niger eigentlich verboten ist. Auf Drängen der Europäischen Union verabschiedete die Regierung ein Gesetz, das den „Menschenhandel“ unter Strafe stellt – doch zwischen Theorie und Praxis klafft eine mächtige afrikanische Lücke.

Schon auf dem Weg nach Agadez, den die Migranten in der Regel mit Bussen zurücklegen, werden sie an unzähligen Straßensperren schamlos von Polizisten geschröpft. Und in Agadez nimmt das nigrische Militär den Schleppern unverfroren einen Obolus für die Aufnahme ihrer Pickups in den Militärkonvoi ab. „Unter solchen Bedingungen“, sagt ein Diplomat, „macht das Gesetz natürlich wenig Sinn.“

Filip de Cheuninck hat trotzdem noch nicht aufgegeben. Der belgische Polizeikommissar empfängt seine Besucher im vollklimatisierten Büro in der Hauptstadt Niamey, von wo aus der Chef des europäischen Kapazitätsbildungsprogramms „Eucap Sahel“ eigentlich die Koordination zwischen den verschiedenen nigrischen Sicherheitskräfte stärken und deren Kampf gegen den islamistischen Terror und das organisierte Verbrechen – vor allem den Waffen- und Drogenschmuggel – unterstützen soll. Vor mehreren Monaten wurde dem Polizeibeamten allerdings noch eine weitere Aufgabe aufgebrummt: Gemeinsam mit seinen 45 europäischen und 30 lokalen Mitarbeitern soll er auch noch die Migration durch den Niger, den mit Abstand größten Reisestrom im Westen Afrikas, eindämmen helfen.

GANZE REGIONEN OHNE MÄNNER

Der Belgier meint, tatsächlich etwas ausrichten zu können. Zwar herrscht im westafrikanischen Staatenbund Ecowas weitgehende Reisefreizügigkeit fast wie im Schengen-Raum: Nigerianer, Senegalesen, Gambier oder Ivorer brauchen lediglich einen Personalausweis, um sich in der gesamten, aus 15 Staaten bestehenden Region frei bewegen zu können. Trotzdem könnten Migranten bereits an der Grenze in den Niger abgewiesen werden, meint de Cheuninck. Denn ohne triftige Gründe für ihre Reise dürften sie von den Grenzbeamten eigentlich nicht durchgelassen werden. Seit der Verabschiedung der Gesetzesnovelle seien auch schon mehr als 3000 Migranten abgewiesen worden, sagt der Euro-Polizist. Angesichts der weit über 150.000 Migranten, die nach Angaben der IOM allein in diesem Jahr bereits durch Agadez geschleust worden sind, allerdings kein Grund zum Triumph.

De Cheunincks Polizistentrüppchen ist nicht die einzige europäische Reaktion auf den Migranten-Boom. Auch durch Entwicklungshilfe will die Union dem westafrikanischen „Migrationsdruck“ entgegenwirken. Wer zu Hause ein akzeptables Leben führen könne, so die Logik, werde die lebensgefährliche Reise nach Europa erst gar nicht antreten.

Allerdings steht noch nicht einmal fest, welche Motive bei der Migration eigentlich entscheidend sind. Oft sind es ausgerechnet Abiturabsolventen wie Jamal Kwabena, die von ihrer Familie zum Geldverdienen ins Ausland geschickt werden (oder auf eigene Faust losziehen) – fast wie die Gesellen in Europa, die einst erst einmal auf Wanderschaft gingen, bevor sie als gemachte Männer wieder in die Heimat zurückkehrten.

In manchen westafrikanischen Staaten wie in Gambia gibt es allerdings ganze Regionen, die von jungen Männern praktisch entvölkert sind. „Kein einziger meiner Freunde“, erzählt der 19-jährige Gambier Dembo auf dem Busbahnhof von Niamey, „ist zu Hause geblieben.“ Obwohl die IOM eigentlich nicht gegen die Migration sei, die sie als „Dynamik“ und nicht als „Problem“ betrachte, will sich die UN-Organisation künftig auch an der Abschreckung reisender Afrikaner beteiligen, kündigt IOM-Sprecherin Casaseca an. In den vier nigrischen Auffangzentren der Organisation sollen jetzt Rückkehrer mit aufbrechenden Migranten zusammengebracht werden, um Letztere von ihren Plänen abzubringen.

Feltou Rhissa, der Bürgermeister von Agadez, hat bislang weder etwas von „Eucap Sahel“ noch von den neuen IOM-Plänen gehört. Er glaubt auch nicht daran, dass die Wanderungsbewegungen so einfach unterbunden werden könnten: „Wir Afrikaner befinden uns doch schon seit Hunderten von Jahren in Bewegung.“

Allerdings räumt der mit einem weißen Turban bedeckte Tuareg ein, dass die Zahl der Migranten in diesem Jahr bislang beispiellose Ausmaße angenommen habe: Zu Hochzeiten hätten bis zu 15 000 Menschen pro Woche Agadez passiert. Das habe der Wüstenstadt einen ungeheuren Boom beschert: Überall seien neue Häuser, Banken und sogar elektronische Geldmaschinen aus dem Boden geschossen. Seine Stadt werde allerdings auch vor große Probleme gestellt, fügt er hinzu: Die Strom- und Wasserversorgung sei an ihrer Kapazitätsgrenze angelangt, gleichzeitig schieße sowohl die Zahl der Verkehrsunfälle wie der Verbrechen in die Höhe.

Für den beispiellosen Exodus macht der Bürgermeister nicht zuletzt die Europäer verantwortlich, die mit der Entmachtung Gaddafis und der Destabilisierung Libyens ein wichtiges Auffangbecken der Migration mutwillig zerstört hätten. „Wenn die Leute die libysche Hölle passiert haben, kommt ihnen das Mittelmeer richtig süß vor“, sagt Rhissa.

Abdou, der nur seinen Vornamen preisgeben will, irrt über den Busbahnhof der nigrischen Hauptstadt Niamey. Um sich nach Europa durchschlagen zu können, hat der senegalesische Bäcker von seinem Bruder umgerechnet 350 Euro erhalten. Doch schon in Burkina Faso wurde er mehrere Male überfallen und ausgeraubt, jetzt hat er kein Geld mehr. Abdou ist außerdem krank, schwärende Wunden auf seiner Haut deuten auf eine ernsthafte Infektionskrankheit hin.

Am liebsten würde der Senegalese jetzt nach Hause zurückkehren – wenn er dort nur nicht seinen Bruder und dessen Verachtung fürchten müsste! „Du musst jetzt stark sein“, sucht ihm ein IOM-Mitarbeiter aufzumuntern: „Bäcker sind doch mutige Menschen“. Und während in Agadez wieder Hunderte von Migranten zu ihrer Reise durch die Wüste aufbrechen, bleibt im IOM-Zentrum von Niamey ein einsamer verlorener Bäcker zurück – und weint.