Beitrag vom 03.09.2018
FAZ
„Es ist tragisch, junge Afrikaner zur Migration zu verlocken“
Der Oxford-Entwicklungsökonom Paul Collier über die Fehler Europas in der Flüchtlingspolitik
Vor drei Jahren, Anfang September 2015, entschied die Bundeskanzlerin, dass Deutschland die Grenze für Tausende Flüchtlinge und Migranten offen halte. Das hat den Asylbewerberzustrom nach Europa und Deutschland zunächst deutlich verstärkt. „Wir schaffen das“ – diese Parole prägte Angela Merkel. Einer der schärfsten Kritiker war damals der Entwicklungsökonom und Migrationsforscher Paul Collier von der Universität Oxford. Viele Menschen hätten Merkels Worte als Einladung verstanden „und sich danach erst auf den gefährlichen Weg gemacht, haben ihre Ersparnisse geopfert und ihr Leben dubiosen Schleppern anvertraut“, kritisierte er. Die Kanzlerin habe Deutschland und Europa schwere Probleme aufgebürdet. 2016/2017 wurde Collier Berater des Bundesfinanzministeriums und entwickelte den „Compact with Africa“ (Partnerschaft mit Afrika) mit. Einer breiteren Öffentlichkeit wurde er bekannt durch seine Bücher.
Herr Professor Collier, Ihr Buch „Exodus“ und das Buch „Refuge“ (zu Deutsch: Gestrandet) zusammen mit Alexander Betts haben letztes Jahr viel Aufmerksamkeit erregt. Sie prangern schonungslos Fehler der Migrationspolitik an. Werden Sie gehört?
Ein bisschen. Zum Beispiel hat uns das European Migration Network, eine Organisation der EU-Kommission, gebeten, Vorschläge zu machen. Es geht darum, wie wir aus dem gegenwärtigen Chaos herauskommen. Die konfuse Migrationspolitik hat die Gesellschaften in Europa politisch sehr polarisiert und gespalten. Wir müssen über die Ethik der Migrationspolitik schärfer nachdenken. Dann können wir einen Konsens erreichen.
Einen Konsens? Davon sind die Länder Europas weit entfernt. Die osteuropäischen Länder wollen am liebsten gar keine muslimische Zuwanderung, Deutschland hat vor drei Jahren mit Willkommenspolitik die Türen geöffnet und war überrascht von dem Zustrom. Dann gab es den Streit über die Verteilung. Ein Konsens ist nicht absehbar.
Offenkundig haben verschiedene Gesellschaften verschiedene Einstellungen zur Immigration. Das muss man anerkennen und akzeptieren. Es kann nicht sein, dass ein Land anderen sagt, was sie tun müssen. Das wäre moralischer Imperialismus. Aber wir müssen uns ernsthaft fragen: Was ist das ethisch richtige Verhalten gegenüber Flüchtlingen und den Armen auf der Welt? Die Antwort darauf ist, dass die Aufnahme von Flüchtlingen in Europa nur eine absolute Nebensache ist. Die große Masse der Flüchtlinge bleibt in Nachbarländern, nahe der Heimat. Die meisten werden nicht zu Migranten. Die größte Zahl der Syrer lebt in Jordanien, im Libanon. Solidarität mit ihnen ist dringend nötig, indem man „sichere Häfen“ in den Nachbarländern schafft.
Hat Europa genug Solidarität gezeigt?
Nein! Absolut nicht, das ist schändlich. Man hat ziemlich arme Länder wie Jordanien und Libanon mit Millionen Flüchtlingen quasi alleingelassen. Europa hätte ausreichend Geld zur Verfügung stellen sollen, um die Lage dort zu verbessern, indem man dort Arbeitsmöglichkeiten schafft und den Menschen ein würdevolles Leben ermöglicht. Dagegen ist die sinnlose hiesige Debatte, wie viele Menschen man nach Europa lässt, ziemlich irrelevant für das Gesamtproblem und hat nur zu Polarisierung und Spaltung geführt. Es war ein großes Politikversagen, einfach die Leute übers Mittelmeer schwimmen zu lassen, bis sie nach Deutschland kommen. Man sollte stattdessen Geld in die Nachbarländer schicken, in denen die Masse der Flüchtlinge sitzt. Das wäre viel effektivere Hilfe.
Inwiefern setzen wir Geld falsch ein?
Für jeden Flüchtling in Europa zahlen wir 135 Mal mehr als für einen Flüchtling in der Nähe seiner Heimat. Das ist total unverhältnismäßig. Die Flüchtlinge, die am bedürftigsten sind, schaffen es nicht bis Europa. Und denen gibt man viel weniger. Das ist nicht fair und nicht ethisch richtig. Es ist eine Schande.
2015/2016 haben viele syrische Flüchtlinge und Migranten Europa erreicht. Einige erwarten, dass die nächste große Migrationswelle aus Afrika kommen wird. Angesichts der Probleme dort und der Bevölkerungsentwicklung ist ein starker Migrationsdruck zu erwarten.
Es gibt Millionen Flüchtlinge in Afrika – aber die allermeisten gehen in die Nachbarländer, etwa jene, die aus Südsudan vertrieben wurden. Etwas anderes sind „asirational migrants“, meistens junge Männer aus Afrika, die nach Europa wollen, weil sie sich ein besseres Leben erhoffen. Europa hat keine ethische Verpflichtung, ihre Einreise zuzulassen. Ich habe mein ganzes Wissenschaftlerleben mit der Frage verbracht, was den ärmsten Gesellschaften auf der Erde wirklich hilft. Denken Sie an mein Buch „Die unterste Milliarde“, darin habe ich untersucht, warum Länder in Afrika und Zentralasien arm bleiben. Aber es ist keine Lösung, dass die besten, mutigsten jungen Männer auswandern und ihrer Heimat den Rücken kehren.
Willkommenskultur ist nicht richtig?
Es ist tragisch, wenn man aufgeweckte, aktive junge Männer dazu verlockt, die gefährliche Fahrt übers Mittelmeer zu wagen, weil sie falsche Hoffnungen haben, dass sie in Europa reich werden. Dann landen sie hier und landen am Rand der Gesellschaft. Es gibt nichts. Sie werden arbeitslos, sitzen herum.
Was ermutigt Migration?
Eine schon existierende große Diaspora-Gruppe von Afrikanern in Europa ist sicherlich ein Pull-Faktor. Aber es gibt auch verzerrte Erzählungen, die durch afrikanische Gesellschaften und die sozialen Netzwerke schwirren, die Migranten falsche Hoffnung machen. Das Narrativ „Europa ist die Hoffnung“ ist tragisch falsch, weil Afrika damit seine vielversprechenden Jungen verliert. Manche Diktatoren wie Mugabe waren froh, wenn die kritischen Leute gingen, so konnte er sich an der Macht halten. Aber viele afrikanische Länder sind doch beunruhigt, wenn ihre gut ausgebildeten jungen Leute gehen. Es gibt beispielsweise einen Exodus von studierten Ärzten, die können in westlichen Ländern einfach so viel mehr verdienen; sie fehlen aber in Afrika.
Die Emigranten schicken Geld in die Heimat, das ist eine wichtige Finanzquelle.
Im Durchschnitt schicken Migranten an die tausend Euro im Jahr zurück, aber sie fehlen in der Heimat als produktive Mitglieder der Gesellschaft.
Europa versucht besseren Außengrenzschutz durchzusetzen. Ist das richtig?
Ja, aber es muss zusammen mit einer Wende des Verhaltens gegenüber den Flüchtlingen, die nahe ihrer Heimat leben, geschehen.
Was braucht es, damit Afrikas Länder sich entwickeln?
Die geringe Produktivität der Menschen dort liegt auch am Mangel an modernen größeren Unternehmen, die für Skaleneffekte sorgen. Die große Mehrheit der Afrikaner sind Kleinstselbständige, daher sind sie so unproduktiv. Arbeitsteilung, Spezialisierung und Skaleneffekte sind der Schlüssel zu mehr Produktivität. Nötig wären Investitionen von Unternehmen. Internationale deutsche Firmen sollten sich viel mehr engagieren, um Jobs zu schaffen. Es ist gut, dass Deutschland seit seiner G-20-Präsidentschaft den „Compact“ (Partnerschaft) mit Afrika vorantreibt, um das Klima für Investitionen zu verbessern. Statt all der westlichen Hilfs-NGOs wären mehr westliche Unternehmen in Afrika besser.
Das Gespräch führte Philip Plickert.