Beitrag vom 11.11.2018
FAS
Lasst die Armen zu uns kommen!
Wer den Armen auf der Welt helfen will, sollte keine Brunnen bohren. Entwicklungshilfe bringt nicht viel. Von Winand von Petersdorff
Seit Jahrzehnten versuchen Organisationen in der Entwicklungshilfe mit viel Geld, die Armut in der Welt zu verringern. Werden die Programme sorgfältig ausgearbeitet, gut an die facettenreichen Gegebenheiten angepasst und gut ausgeführt, dann können sie tatsächlich Wirkung erzielen. Doch diese bleibt verschwindend gering.
Für die großen Erfolge in der Verringerung der globalen Armut sind weder die Umverteilung von reichen zu armen Ländern noch die Philanthropie verantwortlich. Sie sind vielmehr nahezu komplett zwei anderen Faktoren zu verdanken: dem phasenweise beschleunigten Wirtschaftswachstum vor allem asiatischer, aber auch lateinamerikanischer und einiger afrikanischer Länder. Und der Migration. Zu diesem Ergebnis kommt Lant Pritchett, Entwicklungsökonom an der Harvard-Universität.
Nach Dekaden der Forschung und praktischen Erfahrung hätte man meinen können, dass sich entwicklungspolitische Ansätze herauskristallisiert haben, die hohe Erträge produzieren mit dem dafür eingesetzten Geld. Das ist nicht der Fall. Ob Mikrokredite oder komplexe Programme, die Erträge sind bescheiden. Der simple Transfer von Bargeld ist grosso modo das Beste, jedenfalls wenn man das selbst eingeschätzte Wohlbefinden der Empfänger als Maßstab nimmt.
Laut Pritchett stehen die reichen Länder vor einer ziemlich einfachen Wahl, wenn sie die Armut der Welt wirksam verringern wollen. Die eine Möglichkeit besteht, vereinfacht formuliert, darin, armen Menschen einen Dollar zu geben. Die andere Möglichkeit der reichen Länder besteht darin, den armen Menschen zu erlauben, zu ihnen zu kommen und zu den geltenden Löhnen zu arbeiten.
Angenommen, die Vereinigten Staaten würden ihre Einwanderungshindernisse schleifen und Menschen aus Ländern wie Haiti, Nepal, Äthiopien, Indien oder Honduras zum Arbeiten hereinlassen. Was würden die Arbeitsmigranten in den Vereinigten Staaten dann im Vergleich zur Entlohnung in ihren Heimatländern verdienen? Das hat Lant Pritchett zusammen mit seinem Kollegen Michael Clemens in einer früheren Untersuchung ermittelt. Ein besonders illustratives Beispiel liefert ein Arbeiter aus Peru: Er würde in seinem Heimatland 5000 Dollar im Jahr verdienen, in den Vereinigten Staaten aber 20000 Dollar. Der entwicklungspolitische Ertrag der Entscheidung, dem Peruaner die Arbeitsmigration zu erlauben, beträgt mithin 15000 Dollar (in Kaufkraftparitäten gerechnet), ohne dass die Vereinigten Staaten dafür auch nur einen einzigen Cent ausgegeben hätten. Pritchett hat entsprechende Untersuchungen für die zehn bevölkerungsreichsten armen Länder angestellt und kommt zu einem durchschnittlichen Ertrag zwischen 10000 und 20000 Dollar für kaum ausgebildete Arbeiter. Bei Leuten mit mehr Schuljahren werden die Summen sogar noch größer.
Welche Erträge produzieren die besten Entwicklungsprogramme im Vergleich dazu? Eine erste Annäherung liefern die Erfolge der Mikrokredit-Bank Grameen in Bangladesch, deren Gründer Muhammad Yunus 2006 den Friedensnobelpreis für sein Wirken bekommen hat. Würde man 3000 Arbeitern aus Bangladesch erlauben, in den Vereinigten Staaten zu arbeiten, dann produzierten sie den gleichen Ertrag wie die berühmte Mikrokredit-Bank. Eine andere Rechnung besagt, der lebenslange Ertrag aus Mikrokrediten entspricht dem eines achtwöchigen Arbeitsaufenthalts in den Vereinigten Staaten.
Pritchett hat auch das sogenannte „Ultra Poor Graduation“-Programm für besonders arme Länder untersucht. Viele Entwicklungshilfe-Organisationen haben dieses Programm mit seinem ganzheitlichen Ansatz übernommen. Es umfasst Trainingsmaßnahmen, die Bereitstellung von Investitionsgütern (zum Beispiel Kühe), die Unterstützung bei Sparplänen und bei der gesundheitlichen Vorsorge. Die Ergebnisse für fünf Länder, in denen das Programm zur Anwendung kam, sind positiv: Im dritten Jahr stieg das verfügbare Einkommen der ultra-armen Haushalte um 350 Dollar. Das ist bedeutsam, bedenkt man die Armutsschwellendefinition von 1,90 Dollar am Tag. Dafür haben die Entwicklungshelfer je Haushalt jedoch auch 4500 Dollar aufgewendet. Sie erwarten allerdings, dass die Anhebung des Einkommensniveaus dauerhaft ist. Das entspräche einer Rendite von knapp acht Prozent. Damit hätte der Entwicklungshelfer die Erträge von Indexfonds auf amerikanische Aktien geschlagen. Doch das Programm ist eine Ausnahme in dem Meer gescheiterter Projekte – und zudem geschönt, weil ein Fehlschlag herausgerechnet wurde.
Mit anderen Worten: Nur wenn es außergewöhnlich gut geht, schlägt Entwicklungshilfe die Erträge aus einer sicheren Geldanlage. Der Vergleich ist so relevant, weil man als Konsequenz daraus die ganze Entwicklungshilfebürokratie einsparen, die 4500 Dollar in einen Indexfonds anlegen und die Jahreserträge direkt an die ultra-arme Familie schicken könnte. Allerdings sind selbst diese Erträge noch viel geringer als jene, die die freie Mobilität des Faktors Arbeit verspricht. Sie entstehen, weil arme Leute in reichen Ländern produktiver eingesetzt werden können. Dahinter steckt die Vorstellung, dass Produktivität von einem Standort bestimmt wird und nicht das Ergebnis von Entscheidungen ist, die eine Person in ihrer Hand hätte. Das heißt, dass Länder mit restriktiven Regeln zur Arbeitsmigration hohe Lohnunterschiede zwischen gleich produktiven Personen produzieren. Es ist eine Form der Geburtsdiskriminierung.
Mit anderen Worten: Der Ansatz der Entwicklungshilfe, die Armut der armen Länder zu reduzieren, indem man die Produktivität dieser Länder verbessert, ist oft nicht besonders effektiv im Vergleich zu Maßnahmen, die die Mobilität des Faktors Arbeit erhöhen und damit die Produktivität der reichen Länder nutzen.
Der Harvard-Ökonom Lant Pritchett plädiert nicht etwa für offene Grenzen oder die Abschaffung der klassischen Entwicklungshilfe, der er schwer messbare positive Spätfolgen zubilligt. Seine Untersuchung ist vielmehr ein Plädoyer dafür, die geordnete Zuwanderung wegen ihrer nachweislichen Wirksamkeit als Teil der Entwicklungshilfe zu begreifen. Das ist auch aus einem anderen Grund sinnvoll: Versuche, mit Entwicklungshilfe die Leute in ihrer Heimat zu halten, funktionieren nicht, besagen neue Forschungsergebnisse; und zwar selbst dann nicht, wenn die Entwicklungshilfe eigentlich erfolgreich ist. Denn Fortschritte in armen Ländern haben die Eigenart, Auswanderung zu beflügeln. Die Leute wissen mehr von der Welt und haben ein bisschen mehr Geld für die Fahrkarte ins gelobte Land.
Lant Pritchett: Alleviating Global Poverty. Labor Mobility, Direct Assistance, and Economic Growth. 2018.
Michael Clemens und Hannah Postel: Can Development Assistance Deter Emigration? 2018.