Beitrag vom 04.02.2019
FAZ
Migration
Mehr Entwicklungshilfe erhöht die Auswanderungsbereitschaft
Von Philip Plickert
Die Politik verspricht, mit Entwicklungshilfe „Fluchtursachen“ zu bekämpfen. Doch steigende Einkommen in den ärmsten Ländern Afrikas führen zu mehr Migration. Andere Maßnahmen hingegen helfen tatsächlich.
Seit der Eskalation der Migrationskrise vor gut drei Jahren zeigt sich die europäische und deutsche Politik hektisch bemüht, neue Strategien zu entwickeln. Eine weitere Massenmigration aus dem Nahen Osten und aus Afrika soll verhindert werden – durch verstärkte Entwicklungshilfen. Die Kanzlerin bereiste mehrfach Länder in Afrika. Sie und der Entwicklungsminister versprechen den dortigen Regierungen mehr Geld und werben um mehr Investitionen für den Kontinent.
„Fluchtursachen beseitigen“ lautet das Mantra. Die Hoffnung: Kann man die Armut in Afrika lindern, wird die Zahl der Auswanderer sinken, die Menschen bleiben in ihren Heimatländern. Doch führende Ökonomen warnen, dass diese Sicht zu simpel und naiv sei.
Der Heidelberger Entwicklungsforscher Axel Dreher nennt es einen „Irrglauben“. Es sei falsch anzunehmen, falls Hilfe dazu beitrage, dass die Empfängerländer mehr Wirtschaftswachstum schaffen, werde die Zahl der Flüchtlinge und Migranten zurückgehen. „Die Migrationsforschung lässt erwarten, dass mit steigenden Einkommen die Zahl der nach Europa Kommenden zunächst ansteigen wird. Es sind nämlich nicht die Ärmsten der Armen, die ihre Länder verlassen, sondern die, die sich das leisten können“, erklärt Dreher. Erst ab einem gewissen Einkommen können Menschen in Entwicklungsländern die teure weite Reise, potentiell auch Schlepperdienste bezahlen. Erst ab einem gewissen Niveau gibt es auch die Möglichkeit, dafür Kredite aufzunehmen.
Europas Wohlstand ist ein riesiger Pull-Faktor
Eine Reihe von empirischen Untersuchungen haben inzwischen gezeigt, dass ein steigendes Bruttoinlandsprodukt (BIP) in den ärmsten Ländern mehr Auswanderung in Gang setzt. Eine Studie von Jean-Claude Berthélemy und Koautoren (Aid and Migration: Substitutes or Complements?), veröffentlicht im Journal „World Development“, kam zu dem Schluss, dass wenn Entwicklungshilfe das BIP um 10 Prozent erhöhe, die Auswandererquote relativ zur Gesamtbevölkerung um 1,5 Prozent steige.
Der amerikanische Entwicklungs- und Migrationsforscher Michael Clemens hat verschiedene Studien ausgewertet. Demnach steigt die Auswanderung so lange, bis ein Pro-Kopf-Einkommen von 8000 bis 10.000 Dollar (kaufkraftbereinigt) erreicht ist, erst dann ist ein Wohlstandsniveau erreicht, bei dem mehr Menschen in ihrer Heimat bleiben wollen. Laut Clemens’ Berechnungen haben Länder mit 5000 bis 10.000 Dollar Pro-Kopf-Einkommen dreimal mehr Auswanderer als Länder mit 2000 Dollar Durchschnittseinkommen (Michael Clemens und Hannah Postel: Deterring Emigration with Foreign Aid: An Overview of Evidence from Low-Income Countries, IZA Policy Paper, Dezember 2017).
Im Welt-Durchschnitt liegt das BIP pro Kopf laut Weltbank bei 17.000 Dollar kaufkraftbereinigt (Purchasing Power Parity, PPP), in Deutschland sind es sogar 50.000 Dollar. Die afrikanischen Länder liegen in der globalen Verteilung am unteren Ende: In den bitterarmen Ländern der Sahelzone wie Niger beträgt das Pro-Kopf-BIP laut Weltbank nur gut 1000 Dollar (PPP) im Jahr, im ölreichen Nigeria sind es knapp 6000 Dollar. Diese Zahlen implizieren, dass bei steigenden Einkommen die Migration aus Afrika nach Europa zunehmen wird, der hiesige Wohlstand ist ein gewaltiger Pull-Faktor. Hinzu kommen mehr Informationen über Auswanderungsmöglichkeiten, über das Internet und Smartphones und Kontakte zu anderen Migranten in Europa.
Diese Maßnahmen verringern Flüchtlingsströme wirklich
Ein stark steigender Migrationsdruck ist zudem absehbar aufgrund der extremen Bevölkerungsentwicklung in Afrika. Von heute 1,3 Milliarden Menschen wird die Bevölkerung sich laut UN-Prognose bis 2050 auf 2,5 Milliarden verdoppeln, jedes Jahr wächst sie um fast 30 Millionen. Den Massen an Jugendlichen fehlt es an Perspektiven: Afrika ist neben dem Nahen Osten die Region mit der höchsten Jugendarbeitslosigkeit in der Welt. Höhere Beschäftigungsquoten für junge Leute halten diese in der Heimat, das zeigen Studien. Clemens fügt aber einschränkend hinzu, es wäre nicht sicher, dass mehr Arbeitsplätze für junge Leute sie längerfristig von der Emigration abhalten: „Das liegt daran, dass der stärkste Job-Motor das Wirtschaftswachstum ist, das in armen Ländern die Emigration zu verstärken tendiert.“ Ob staatliche Entwicklungshilfe überhaupt nennenswert mehr Arbeitsplätze schaffen kann, wird indes von vielen Entwicklungsökonomen angezweifelt.
Auch auf Flüchtlingsströme haben höhere Entwicklungshilfeausgaben keinen klar bremsenden Effekt, zeigen Axel Dreher, Sarah Langlotz und Andreas Fuchs in einer neuen Studie (The effects of foreign aid on refugee flows, European Economic Review 2019). Sie haben Daten von 141 Auswanderungsländern in den vergangenen vier Jahrzehnten analysiert. Kurzfristig führen mehr Entwicklungshilfen sogar dazu, dass sich mehr Menschen auf den Weg machen – gerade auch in die Geberländer. Erst nach längerer Zeit, die Forscher sprechen von elf Jahren, könnten die Flüchtlingszahlen zurückgehen. Anders sieht es für akute humanitäre Nothilfe in Krisen aus, etwa Nahrungsmittel, Zelte, Medizin und ärztliche Versorgung in Flüchtlingslagern. Diese Hilfe verringert die Flüchtlingsströme effektiv.
„Die erfolgreichste Politik, um ein Ansteigen der Zahlen in Europa zu reduzieren, scheint mir daher, die Nachbarländer in der Krisenregion bei der Aufnahme von Migranten und Flüchtlingen zu unterstützen“, sagt Dreher. Auch der Oxforder Entwicklungsökonom Paul Collier argumentiert so: Dass Europa zu wenig Geld für die Versorgung in den Flüchtlingslagern der Syrer im Libanon und Jordanien gegeben habe, sei eine Schande – stattdessen wurde für jene Flüchtlinge, die sich bis nach Europa durchschlugen, ein vielfach höherer Betrag ausgegeben, obwohl dies nicht die Bedürftigsten waren.
Während die meisten Ökonomen durch Entwicklungshilfe kaum eine Bremsung der Migration erwarten, wollen Mauro Lanati und Rainer Thiele differenzieren. Entwicklungshilfe, die vorrangig auf nicht-monetäre Ziele setze – etwa auf bessere Schulen, sauberere Umwelt oder bessere staatliche Institutionen – könne die Menschen doch zum Verbleib in der Heimat animieren, ergab eine Studie von Lanati und Thiele (Development aid can dampen migration if it improves public services, Medam Policy Brief 2018/02). „Allerdings zeigen die Ergebnisse auch, dass die Steigerung der Mittel, die zu einer bemerkbaren Senkung der Auswanderungsraten führen würde, unrealistisch hoch sein müsste.“ Selbst eine Verdoppelung der Hilfen würde die Auswanderung nur bescheiden senken.