Direkt zum Inhalt
Für eine andere Entwicklungspolitik!

Beitrag vom 25.06.2020

Welt

Das afrikanische Wundermittel gegen Covid-19

Von Christian Putsch, Afrika-Korrespondent

Seit Madagaskars Präsident die Pflanze Artemisia als Heilmittel gegen das Coronavirus preist, steigt die Nachfrage in vielen Ländern Afrikas. Kleinbauern verkaufen das Kraut in Massen. Reiner Budenzauber? Vielleicht mehr als das, sagen nun deutsche Wissenschaftler.

John Abesalie verzieht das Gesicht, als er das vermeintliche Wundermittel trinkt. Bitter sei es, sagt er. Sehr bitter. Normalerweise müssen das seine Geschmacksnerven nur bei Fieber ertragen. Nun hat er aber im Radio gehört, dass die Artemisia-Pflanze womöglich bei der Vorbeugung einer Infektion mit dem Coronavirus helfe. Also bereitet der 54-Jährige das scheußliche Getränk jeden Tag zu.

Ein Farmer hat seiner Familie erlaubt, auf seinem Grundstück ein paar Blechhütten zu errichten. Die Medizin bereitet Abesalie mit Feuerholz zu, der Strom des baufälligen Generators reicht nur für die Lampen. Er benutzt Regenwasser, das er über die Dachrinnen aufgefangen hat.
Abesalie kämpft tagtäglich ums Überleben. Vor dem Coronavirus aber fühlt er sich sicher. Denn hier, in der Nähe der südafrikanischen Küstenstadt Thornhill, wächst Artemisia, oder der Einjährige Beifuß, wie die derzeit wohl meistdiskutierte Pflanzengattung Afrikas in Deutschland genannt wird, so viel wie an wenigen anderen Orten der Welt.

Verliert Covid-19 nun seinen Schrecken?

Auf dem Kontinent ist das Kraut zum Politikum geworden, seit es von Madagaskars Präsident Andry Rajoelina im April als vermeintliche Lösung der Covid-19-Pandemie präsentiert wurde. Der ehemalige Marketingunternehmer nahm im Fernsehen einen Schluck der braunen Flüssigkeit, die er als „Covid-Organics“ (CVO) vorstellte. Das Getränk werde als Vorbeugung und Medizin gegen das Virus in die Geschichte eingehen, ja das Schicksal Afrikas verändern. Madagaskar habe wegen des Medikaments keinen Covid-19-Toten, behauptete der Politiker. Und es werde „auch keinen geben“.
Das madagassische „Institut für Angewandte Forschung“ habe das Mittel entwickelt, mit dem zahlreiche infizierte Inselbewohner geheilt worden seien, so der Präsident, es laufe bereits eine klinische Studie in Zusammenarbeit mit der Weltgesundheitsorganisation (WHO) – eine Behauptung, die später sowohl von der WHO als auch der Regierung selbst dementiert wurde.

Zum Einsatz kommen Kräuter von der Insel, darunter eine Pflanze aus der Gattung der Artemisia. Der daraus gewonnene Wirkstoff Artemisinin wird seit vielen Jahren vor allem in der Behandlung von Malaria erfolgreich eingesetzt – jährlich werden alleine in diesem Bereich weltweit 330 Millionen Artemisinin-Präparate an rund 100 Millionen Patienten verabreicht. Und Madagaskar gehört zu den größten Produzenten.

Die Angelegenheit wirkte bislang wenig seriös. Am Mittwoch ließ allerdings das Max-Planck-Institut für molekulare Pflanzenphysiologie in Potsdam aufhorchen. In Zusammenarbeit mit Virologen von der Freien Universität Berlin und der Universität Kentucky habe man festgestellt, dass Extrakte einer aus den USA stammenden Artemisia-Pflanze in Laborstudien „gegen das neue Coronavirus wirksam“ gewesen seien.

Hydroxychloroquin - voreilige Hoffnungen, schwere Nebenwirkungen

Es werde nun eine klinische Studie mit zunächst sechs amerikanischen Risikopatienten geben, von denen niemand auf einer Intensivstation behandelt werde. Danach werde voraussichtlich eine weitere Testphase mit 54 Patienten folgen. Es ist bekannt, dass Artemisinin antivirale und fiebersenkende Wirkung haben kann. Und zuletzt hatten auch algerische Forscher die Wirksamkeit gegen Covid-19 untersucht. Das Präparat sei wahrscheinlich zumindest effektiver als das von US-Präsident Donald Trump prophylaktisch eingenommene, höchst umstrittene Hydroxychloroquin, hieß es.

Es ist wohl noch zu früh, um das Potenzial von Artemisinin wirklich einschätzen zu können. Im Labor haben sich schließlich mehrere Substanzen als aktiv gegen Covid-19 erwiesen, davon werden einige in großen Studien getestet. „Es ist ein erfreulicher und wichtiger Schritt“, betont aber Peter Seeberger, einer der beteiligten Forscher an der neuen Studie, „anders als alle anderen Verbindungen, die bisher getestet wurden, werden Artemisinin-Derivate in mehr als 100 Millionen Patienten jedes Jahr eingesetzt. Die Toxizität ist sehr gering und die Sicherheit sehr hoch.“

Der Wissenschaftler weist in der Studie auch offen darauf hin, dass er zusammen mit einem weiteren Autor der Studie, Kerry Gilmore, am Unternehmen ArtemiFlow beteiligt ist, das sich laut Homepage „auf die Produktion und den Verkauf des Pflanzenprodukts Artemisinin konzentriert“. Die Max-Planck-Gesellschaft sei an ArtemiFlow beteiligt. Er habe die Firma mitgegründet, um Malaria-Medikamente herzustellen, präzisiert Seeberger auf Anfrage. Diese Pläne seien aber nicht umgesetzt worden, weil „niemand an günstigen Malaria-Medikamenten interessiert war“.

Die Wissenschaftler wollen sich trotz ihrer vielversprechenden Studie kein Urteil erlauben, ob das vieldiskutierte Präparat aus Madagaskar wirksam ist. Trotz „intensiver Bemühungen“ sei es nicht gelungen, eine Probe von „Covid Organics“ für Tests zugeschickt zu bekommen. Dies sei für eine Beurteilung aber unbedingt erforderlich, schließlich hängt viel von der Konzentration des Wirkstoffs Artemisinin, der Extraktionsmethode und dem Zusammenwirken mit anderen Extrakten ab. Das Team sei jederzeit bereit, diese Tests nachzuholen, wenn Madagaskar das Präparat verfügbar mache.

Anstatt an die Wissenschaftler verschickte Madagaskars Präsident Rajoelina das Mittel an einige Länder des Kontinents. Populisten wie Tansanias Präsident und Corona-Skeptiker John Magufuli reagierten ungeprüft mit dem Versprechen, das Mittel im großen Stil zu importieren – man werde bald ein Flugzeug schicken. Die Regierungen der Republik Kongo, dem Togo und Tschad schlossen sich umgehend an, nicht selten mit panafrikanischer Rhetorik. Guinea-Bissau habe sich sogar bereit erklärt, die Medizin in ganz Westafrika zu verteilen, teilte der ehemalige DJ Rajoelina stolz auf Twitter mit.

Andere Länder reagierten skeptischer. Zwar gibt es durchaus traditionelle Medizin aus Afrika, die Einzug in die Schulmedizin gefunden hat. Doch es passieren auch immer wieder tödliche Unfälle bei der Verabreichung von unzureichend erforschten Substanzen.

Der Senegal kündigte eigene Tests an, Südafrika berief sich zunächst auf die Warnungen der Weltgesundheitsorganisation, die mit deutlichen Worten darauf hinwies, dass es keine wissenschaftlichen Belege für die Wirksamkeit gebe. Es wurden klinische Studien gefordert, sehr zum Verdruss von Rajoelina, der Rassismus witterte: „Gäbe es so viel Zweifel, wenn das Mittel in Europa gefunden wurde?“, fragte er im Interview mit „France24“ und gab die Antwort gleich selbst: „Ich glaube nicht.“

Das Interesse auf dem Kontinent ist gewaltig, die südafrikanische Regierung hat Kontakt inzwischen zum Max-Planck-Institut aufgenommen. Schließlich gibt es auch in Südafrika keinen Mangel an der Artemisia-Pflanze, zudem wurden dort mit über 106.000 Fällen die meisten Infektionen aller afrikanischen Länder registriert – Tendenz zuletzt stark steigend. Es gab mehr als 2100 Tote.

In der besonders stark betroffenen Ostkap-Provinz des Landes sieht man in diesen Tagen zahlreiche Straßenhändler, die das Kraut aus ihrem Kofferraum verkaufen. Vor einem Supermarkt in Port Elizabeth bietet Nomalizo Ndlazi den Strauß für umgerechnet einen Euro an. Am Vortag hätte sie rund 20 abgesetzt, heute hätte sie diese Zahl schon am Mittag erreicht, erzählt sie. Ob sie an die Wirkung gegen das Coronavirus glaube? „Dafür gibt es keinen Beweis, das muss erst untersucht werden“, sagt sie ohne Zögern, „es hilft gegen Fieber.“ Sie macht ihren Kunden keine falschen Versprechungen. Die kaufen das Zeug trotzdem.

Auch der Kleinbauer Abesalie merkt die gestiegene Nachfrage, immer wieder wandert er zu Hügeln, auf denen die Pflanze wächst. Im vergangenen Jahr verlangte er für einen großen Sack 50 Rand (2,57 Euro), inzwischen sind es 80 Rand (4,11 Euro). Rund zehn verkauft er am Tag, wahrscheinlich wären es ohne die rigorose Ausgangssperre im Land noch mehr. Vor ein paar Tagen war ein Kunde da, ein Professor, sagt Abesalie, der habe gleich drei gekauft. Der Mann habe erzählt, er wolle womöglich bald im großen Stil mit dem Präparat in einer Fabrik produzieren.

Eine junge Frau kommt auf das Grundstück, sie ist über eine Stunde lang für das Kraut gelaufen, nachdem sie über eine Whatsapp-Sprachnachricht von dem angeblichen Wundermittel gehört hat. „Ich selbst habe keine Angst vor dem Virus, aber mein Vater ist 69 Jahre alt, meine Tochter ist fünf. Die Pflanzen sind für sie.“

Wissenschaftler Seeberger beobachtet mit Sorge, dass die Pflanze in vielen afrikanischen Ländern bereits voreilig verstärkt eingenommen wird, besonders in Gegenden mit hoher Malaria-Belastung. „Es können sich Resistenzen gegen das Medikament entwickeln, wenn Artemisinin massenhaft vorbeugend gegen Covid-19 eingenommen wird, ohne dass eine Wirksamkeit in klinischen Studien belegt ist“, sagt er. Das würde in einigen Ländern zahlreiche Malaria-Tote zur Folge haben.

Die Familie von Kleinbauer Abesalie ist jedenfalls fest davon überzeugt, dass die Pflanze auch gegen das Coronavirus hilft. Sie wirke bei vielen Krankheiten, aber man müsse seinen Glauben in die Wirksamkeit legen, sonst bringe die Einnahme nichts, sagt sein Bruder Peter. Schon seine Großmutter habe das Präparat genommen, und die sei über 90 Jahre alt geworden. „Die Leute hier wissen, wie sie überleben.“ Egal, was die Regierung sagt.