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Beitrag vom 12.08.2020

Verschont Covid-19 einen ganzen Kontinent?

Die Pandemie wütet überall, doch Afrika hat nur einen Bruchteil der Infizierten und Toten

Von Joachim Müller-Jung

Die nächste denkwürdige Kennzahl ist überschritten: Zwanzig Millionen Menschen haben sich mit dem Pandemievirus Sars-CoV-2 inzwischen weltweit infiziert – zumindest wenn man nach den offiziell gemeldeten Statistiken geht. Vor etwas mehr als drei Wochen waren es noch halb so viele. Die Dynamik der Virusausbreitung hat, auch wenn man die Dunkelziffer weiterhin nicht ansatzweise kennt, in den heißen Monaten auf der Nordhemisphäre nicht abgenommen, sondern zuletzt an Fahrt aufgenommen. Viele Experten erwarteten in den ersten Monaten der Seuche im Nordsommer wenigstens eine Abflachung. Sie haben sich auch dabei in dem Virus getäuscht.

Die Virologen und Epidemiologen wurden insbesondere auch vom Auftreten des Erregers in dem demographisch dynamischsten Kontinent überrascht: Abermillionen Infizierte und überdurchschnittlich viele Todesopfer hatte man für Afrika erwartet. Die grassierende Armut, der Zustand vieler schnell wachsender Metropolen, die dünn gesäten Kliniken und vergleichsweise wenigen Ärzte, die Hygiene-Realität – all das sprach auch aus Sicht der Weltgesundheitsorganisation schon früh dafür, aber erst recht nach der verheerenden Covid-19-Welle in Iran und in südamerikanischen Ländern, dass Afrika irgendwann zu einem sogenannten „Epizentrum“ der Pandemie werden würde.

In Lagos, der Hauptstadt Nigerias, leben fast vierzehntausend Menschen pro Quadratkilometer, das sind fast doppelt so viele wie in dem für westliche Verhältnisse schon massiv überbevölkerten New York. In Abidjan an der Elfenbeinküste sind es nicht viel weniger als in Lagos. Doch die Pandemie-Realität ist eine andere, als viele erwartet haben. Etwas mehr als sechs Monate nachdem das Virus Afrika erreicht hat, zählt man für den gesamten Kontinent gerade einmal mehr als eine Million Corona-Positive, fünf Prozent und knapp 21000 Covid-19-Opfer weniger als das mit Medizinkoryphäen gesegnete New York. Rechnet man das hochentwickelte Südafrika mit seinen mehr als 560000 registrierten und über 10500 Toten heraus, wird das afrikanische Covid-19-Rätsel noch einmal größer. Ruanda, noch ein Beispiel, hatte den ersten Corona-Fall im Februar gemeldet, die Bilanz heute: Es gibt 2100 Infizierte, achthundert Patienten befinden sich in Kliniken, insgesamt zählte man lediglich fünf Todesfälle.

Hat die Pandemie den Kontinent also erreicht, aber nicht wirklich erfasst? Im angesehenen Wissenschaftsmagazin „Science“ spekulierten afrikanische und europäische Gesundheitsfachleute über das Phänomen. Naheliegenderweise vermuten sie unzuverlässige, lückenhafte und womöglich auch frisierte Gesundheitsdaten. Es ist ein Deutungsversuch, den man leicht auf viele andere Großregionen in Südamerika und Asien ausweiten könnte, aber die Medizinexperten stellt er nicht zufrieden. Denn viele Länder Afrikas haben in den Kliniken früh getestet und die Tests auch sukzessive ausgeweitet. International liegt man, die Gesamtbevölkerung betrachtet, keineswegs abgeschlagen zurück. Und auch was die Eindämmungsmaßnahmen angeht, waren, ohne dass die Öffentlichkeit im Norden davon Notiz genommen hätte, viele afrikanische Länder Vorreiter: Ausgangssperren, Abstandsgebote und Reisebeschränkungen wurden in afrikanischen Metropolen ähnlich wie in Europa, aber oft sehr viel schneller gegen die Virusausbreitung ergriffen – gerade weil, so argumentieren die Gesundheitsexperten, man vielerorts auf dem Kontinent schon sehr viel länger und intensivere Erfahrungen mit Infektionskrankheiten und potentiellen Pandemieerregern hat. Lassa oder Ebola mit den immer wieder drohenden Ausbrüchen bilden tiefe Narben in der afrikanischen Seele; rigide Infektionskontrollen sind vielen Ländern nicht fremd.

Was die Corona-Tests angeht, gibt es einen weiteren Verdacht: Weil auch in Afrika erst bei Symptomen getestet wird, spekuliert man, ob das kinderreiche Afrika mit seiner, demographisch gesehen, viel jüngeren Bevölkerung (Durchschnittsalter unter zwanzig Jahre) womöglich schnell bis hin zu einer möglichen Herdenimmunität in der jugendlichen Bevölkerung durchseucht wurde. Antikörperstudien, die jetzt allmählich veröffentlicht werden, bestätigen das zwar nicht. Aber die Zahl der Menschen, die offenkundig die Infektion durchgemacht haben, scheint tatsächlich viel höher zu sein, als die offiziellen Daten angeben. Bei Hunderten Krankenhausmitarbeitern in Malawi zeigten immerhin zwölf Prozent Antikörper gegen Sars-CoV-2, bei Blutspendern im kenianischen Mombasa und Nairobi waren fast zehn Prozent beziehungsweise achteinhalb Prozent schon mit dem Pandemievirus in Kontakt gekommen – weit mehr als in den meisten europäischen Metropolen.

Die bisher gesammelten Daten sind sicher nicht repräsentativ für die Bevölkerung. Doch die Suche nach des Rätsels Lösung wird intensiver. Denn Afrikas offizielle Sterberaten liegen derzeit vierzigmal unterhalb der in der europäischen oder amerikanischen Bevölkerung.

Zunehmend gelangen auch mögliche biologische Ursachen ins Blickfeld, genetische, vor allem aber auch immunologische Besonderheiten. Sollten die Afrikaner durch die dauerhaften und intensiven Kontakte mit Erregern jeder Art womöglich über ein irgendwie „trainiertes Immunsystem“ verfügen, das sie vor schweren Covid-19-Verläufen schützt? Antworten darauf gibt es noch keine, Spekulationen viele.