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Für eine andere Entwicklungspolitik!

Beitrag vom 07.09.2021

FAZ

Komoren

Ein fast verlorenes Paradies

von LAURA SALM-REIFFERSCHEIDT

Werden die Nebelwälder für Ackerland, Bau- und Brennholz geopfert, verlieren die Komoren mehr als nur ein paar alte Bäume. Ein Reportage.

Das Feld, auf dem Sidi Abdoulatif arbeitet, hat Hanglage. Es ist so steil, dass sich der 60-Jährige kaum halten kann und sich immer wieder mit einer Hand abstützen muss, um mit der anderen Unkraut zu jäten. Er will Tarot, Maniok und Süßkartoffeln pflanzen. Das Grundstück hat er vor ein paar Jahren gekauft, als er von seinem Job als Wächter eines Telefonmasten in den Ruhestand geschickt worden war. Ohne Pension, deshalb muss er sich ein Einkommen auf dem Feld verdienen. Zuvor lag das Land brach, jeder Regenschauer schwemmte mehr Erde den Steilhang hinab, der Boden war ausgelaugt. Nichts wuchs, bis Abdoulatif sein Feld mit Gliricidia sepium umpflanzte. Schnell wachsende Robinien, die zu den Leguminosen zählen und den Boden mit Stickstoff anreichern, somit dessen Fruchtbarkeit steigern. Ihre Blätter dienen als Dünger oder Viehfutter, und die Wurzeln ziehen Wasser nach oben und geben dem Boden Halt.

Das Feld liegt auf rund 700 Metern über Meereshöhe nahe dem Ort Adda-Daouéni im Süden der Vulkaninsel Anjouan. Diese ist neben Grande Comore und Mohéli eine der drei Hauptinseln, die zur Union der Komoren gehören, im Indischen Ozean zwischen Mosambik und Madagaskar. Die Hänge neben Abdoulatifs Grundstück sind in Parzellen unterteilt, die von Kleinbauern bestellt werden. „Ich war damals noch klein, aber ich erinnere mich gut, dass dieses Gebiet bis 1997 noch ein echter Wald war“, erzählt Samirou Soulaimana, der heute 36 Jahre alt ist und als Experte für Wiederaufforstung für die Umweltorganisation Dahari arbeitet. Doch 1997 sagte Anjouan sich los von den Komoren, und die Separatisten wurden mit einem Embargo unter Druck gesetzt. Bald mangelte es auf der Insel an Öl und Baumaterial, also hätten die Leute hier in der Gegend zur Kettensäge gegriffen und in wenigen Minuten eine riesige Fläche abgeholzt. „Wir haben in dieser Zeit wirklich viel Schaden angerichtet“, sagt Soulaimana. „Die Zahlen für Anjouan sind sehr alarmierend“, bestätigt Misbahou Mohamed, Ko-Direktor von Dahari, bei einem Treffen in der Hauptstadt Mutsamudu.

Auf Anjouan sind achtzig Prozent der natürlichen Waldfläche in den Jahren zwischen 1995 und 2014 verschwunden. Das Embargo war aber keinesfalls der einzige Grund, denn auf Grande Comore und Mohéli ist der Verlust ebenfalls groß. Insgesamt soll es auf den Komoren nur noch dreißig Prozent Primärwald geben. Laut Berichten zum Welternährungsprogramm der Vereinten Nationen ist es das Land mit der am schnellsten fortschreitenden Abholzung. Eine seit der Unabhängigkeit von Frankreich im Jahr 1975 rasch wachsende Bevölkerung schlägt die Bäume – für den Bau von Häusern, zum Kochen und um Ylang-Ylang-Blüten zu destillieren, deren ätherisches Öl in der europäischen Parfüm- und Kosmetikindustrie begehrt ist. Auf den Komoren lebten vor vierzig Jahren erst um die 335.000 Menschen, heute sind es schätzungsweise 870.000 und 90 Prozent davon auf Landwirtschaft angewiesen. Das steile Relief der vulkanischen Inseln hält den Platz dafür begrenzt, deshalb müssen Bäume neuen Feldern weichen – mit spürbaren Konsequenzen. Keine zehn der etwa 45 Flüsse führen noch das ganze Jahr über Wasser, andere nur in der Regenzeit von November bis April, oder sie sind ganz versiegt.

Oberhalb von etwa 600 Meter Höhe steht typischweise Nebelwald. Wer diesen rodet, greift in das fragile Gleichgewicht ein. Von natürlichen „Wassertürmen“ spricht die Ökologin Aida Cuní Sanchez, die an der Universität York zum tropischen Regenwald als Lebensraum forscht. Der Nebel, der durch die Landschaft zieht, berührt Blätter, Moose, Flechten und Farne, die auf den knorrigen Bäumen wachsen, und kondensiert. Was nicht von den Pflanzen aufgefangen wird, tropft stetig zu Boden. Unter der Nebeldecke bleibt die Luft feucht und kühl. „Das reduziert die Rate der Photosynthese. Auch zersetzt sich in diesem Umfeld organisches Material langsamer, die Böden sind nährstoffarmer“, erklärt Cuní Sanchez. Daher würden Bäume in Nebelwäldern langsamer wachsen, aber mehr Kohlenstoff speichern. Das Wurzelsystem nimmt Wasser vergleichbar mit einem Schwamm auf und gibt es langsam an die Umgebung ab, was den Fluss reguliert. Werde ein Nebelwald abgeholzt, habe das weitreichende Folgen, sagt Cuní Sanchez: „Wenn es dann regnet, fließt das Wasser einfach ab. Während der Trockenzeit, fehlt Wasser, weil es nichts mehr gibt, das es zurückhalten könnte.“ Eine weitere Gefahr sieht die Ökologin im Klimawandel. Wird es wärmer, steigt auch die Wolkendecke. Nebelschwaden umhüllen die Bäume dann nicht mehr und bleiben als Tropfen hängen – die Wassertürme verlieren ihren Zufluss.

„Wir haben seit Ramadan keinen Regen mehr gehabt“, sagt Ali Mohamadi Hafidhou. Er ist Lehrer in Mramani, einem Dorf an der Südspitze Anjouans, wo die Abholzung stark fortgeschritten ist. Das war vor zwei Monaten, und die Probleme waren abzusehen. Die Zisternen, die von unterirdischen Quellen oder Flüssen gespeist werden und an denen Frauen oder Kinder die Kanister füllen, sind dann schnell leer. „Wir wissen, dass der Regen vom Wald und vom Ozean kommt“, sagt Hafidhou. Trotzdem würden Bäume gefällt: „Die Armut macht das mit uns.“ In der Trockenzeit müssen die Dorfbewohner weite Strecken zurücklegen, um Wasser zu holen oder ihre Wäsche in einem Fluss zu waschen, der schon zu einem Rinnsal geschrumpft ist. „Manchmal müssen wir Wasser kaufen, das von Trucks geliefert wird.“ Zwanzig Liter kosten rund 250 Komoren-Franc, umgerechnet 50 Cent.

Auch in der Landwirtschaft wirken sich die Veränderungen bereits aus. Die Böden sind trockener, Regen bringt schneller alles ins Rutschen, und die Ernten fallen schlechter aus. Dagegen setzen die Bauern auf Dünger und holzen den Wald in immer höheren, immer steileren Regionen ab. Der Kahlschlag potenziert aber auch die Folgen von Wirbelstürmen. Bevor „Kenneth“ im April 2019 auf die Küste von Mosambik traf, zog der Zyklon über die Komoren. Mehrere Menschen starben, und auf Anjouan richtete Kenneth die größten Schäden an.

Hinzu kommt die politische Instabilität im Inselstaat. Seit dessen Unabhängigkeit wurde mehr als zwanzig Mal geputscht, auch gab es diverse Sezessionsversuche. Eigentlich soll das Präsidentenamt zwischen den Inseln rotieren und alle vier Jahre wechseln, aber 2018 verschaffte eine Verfassungsänderung dem amtierenden Präsidenten Azali Assoumani von Grande Comore eine weitere Amtszeit – zum Unmut der Bewohner der beiden anderen Hauptinseln.

Eine schlechte Infrastruktur hemmt die wirtschaftliche Entwicklung: Strom gibt es nur unregelmäßig; Müll landet auf dem Strand und im Flussbett, weil es keine Deponie gibt. Und die Bürger nehmen Aufgaben der Regierung oft selbst in die Hand; Dorfbewohner flicken etwa Schlaglöcher in den Straßen und kassieren dafür einen kleinen Wegzoll von den vorbeifahrenden Autos und Lastwagen. Gut ein Viertel des Bruttoinlandprodukts bestreiten jene Komorer, die im Ausland leben und die mit ihren Überweisungen nach Hause den Lebensstandard auf den Inseln verbessern und die Armut reduzieren konnten. Dennoch, die Perspektivlosigkeit hat schon Tausende zur Flucht ins benachbarte Übersee-Département Frankreichs getrieben.

Die Inselgruppe Mayotte ist geografisch Teil des komorischen Archipels. 1841 fiel dieses unter französisches Protektorat, bis 1974 ein Referendum über die Unabhängigkeit entscheiden sollte. Die Ergebnisse wurden damals pro Insel interpretiert, und auf Mayotte hatten sich die Bewohner mehrheitlich gegen eine Unabhängigkeit ausgesprochen. Politisch gehören sie heute zu Frankreich, als 101. Département, und seit 2014 ist es als eine von neun „outermost regions“ Teil der Europäischen Union, somit Sehnsuchtsort für alle anderen im Archipel. Löhne werden ausgezahlt, es gibt eine Sozialversicherung, der Lebensstandard ist höher, die Gesundheitsversorgung besser. Davon profitiert aber nur, wer legal im Land ist. Die Mehrheit der Migranten lebt versteckt in prekären Verhältnissen und verdient ein mageres Einkommen auf den Feldern.

Ein junger Mann zeigt am Strand von Bambao, einer Kleinstadt an der Ostküste von Anjouan, aufs Meer. Irgendwo dort im Dunst sei die französische Insel. Eigentlich ganz nah, nur etwa siebzig Kilometer entfernt. Mit dem „kwasa kwasa“, einem kleinen Motorboot, bringt er seine Kunden nach Mayotte, was zurzeit rund 400 Euro kostet. Nicht jedes Boot kommt an. „In diesem Meer sind schon viel zu viele Familien, Mütter, Väter, Brüder verloren gegangen“, sagt der 25-jährige Schlepper. Laut einem Bericht des französischen Senats sind in den Jahren 1995 bis 2012 7.000 bis 10.000 Komorer gestorben bei dem Versuch, nach Mayotte zu gelangen. Die Gouverneur von Anjouan spricht sogar von bis zu 50.000 Toten. Attoumani Kombo hat vor fünf Jahren seine Tochter verloren. Der 75-Jährige sitzt vor seinem Gemischtwarenladen in Bambao, an der Straße, die zum Strand hinunterführt. „Eine große Welle hat das Boot umgeworfen. Meine Tochter konnte nicht schwimmen.“ Aber das hielt deren Schwestern und Brüder nicht von dem gefährlichen Unterfangen ab. Fünf seiner zehn Kinder leben heute legal auf Mayotte. „Aber auch ohne Papiere hätten sie dort ein besseres Leben als hier auf Anjouan“, glaubt Kombo.

Das sieht nicht jeder so. Ein Sohn von Sidi Abdoulatif lebt auf Mayotte. „Da muss er sich verstecken, weil er keine Papiere hat. Er kann gar nicht legal arbeiten. Wenn er hier wäre, könnten wir zusammen auf dem Feld arbeiten.“ Der Bauer empfindet die Lage auf den Komoren nicht so finster, wie sie andere darstellen. Seine Situation hat sich verbessert. Seitdem er die Robinien rings ums Feld setzte, fällt die Ernte üppiger aus. Auch Anli Ousseni, der ein Feld auf dem gegenüberliegenden Hang bestellt, hat auf seinem Kartoffelacker Bäume gepflanzt. „Alles was hier wächst, entwickelt sich jetzt besser, ist viel grüner. Vorher waren die Pflanzen oft vertrocknet und gelb.“ Und er selbst könne nun im Schatten arbeiten. Unterstützt und beraten werden die Bauern bei diesem agroforstwirtschaftlichen Ansatz von der Organisation Dahari. Mit dem Fokus, die wirtschaftliche Situation der Bauern zu verbessern, um so die noch bestehenden natürlichen Ressourcen zu schützen.

„Zuvor hatten wir eine Politik der Wiederaufforstung, die nicht auf den Kontext unseres Landes zugeschnitten war“, sagt Zalhat Bacar, Anjouans Regionaldirektorin für Umwelt und Forst, über die Programme, die es seit den 1980er-Jahren auf den Komoren gegeben hat. Doch diese seien wenig erfolgreich gewesen. Die Bauern waren nicht eingebunden. Es wurde über ihre Köpfe hinweg entschieden, welche Bäume auf ihrem Grundstück gepflanzt werden sollen. Als Gegenleistung gab es oft Nahrungsmittel. „Die Leute haben verstanden, dass jedes Mal, wenn sie einen Baum pflanzen, sie dafür etwas erhalten. Also haben sie nachts die Setzlinge rausgezogen oder heißes Wasser drüber gegossen und dann gesagt, die seien eingegangen“, erzählt Misbahou Mohamed von Dahari. Die Bauern sahen keinen direkten Nutzen in den Bäumen, die ihnen Platz wegnahmen.

Im Gegensatz dazu verfolgt Dahari einen partizipatorischen Weg: Die Bauern entscheiden, welchen Nutzen sie sich von den Bäumen wünschen – Schatten, Wasserspeicher, Düngung, Früchte, Tierfutter, Heilpflanze, Holz für den Bau oder als Brennmaterial. Mitarbeiter der Organisation klären dann, welche Bäume diese Funktionen erfüllen und ob die unter den gegebenen Bedingungen, wie Lage, Klima und Wassersituation, überhaupt gedeihen. Setzlinge sind bei Baumschulen zu erhalten, die von der Organisation unterstützt werden. „Es soll nicht heißen: ‚Der Baum ist von Dahari, und die pflanzen ihn auf meinem Grundstück‘“, sagt Mohamed. Sondern: „Es ist mein Baum, auf meinem Grund, und ich verstehe, warum ich diesen Baum hier pflanze.“ Nach sechs Monaten werden die Bauern wieder besucht, um zu sehen, wie alles gedeiht. Durch dieses Monitoring lässt sich das Programm verbessern, und Mohamed ist zufrieden. 110.037 Bäume wurden 2020 gepflanzt, teils waren es Stecklinge, teils vorgezogene Setzlinge, von denen immerhin 71 Prozent das erste Jahr überlebt haben.

Mithilfe dieses Pflanzsystems und anderer Methoden, die auf tiefer gelegenen Flächen die Fruchtbarkeit wieder steigern, somit deren Produktivität, will die Organisation dazu beitragen, dass der Druck auf die höher gelegenen, noch bewaldeten Flächen nachlässt. Vor allem in jenen Regionen, in denen es gilt, Wasserquellen und die endemische Biodiversität zu schützen. In den verbliebenen Nebelwäldern sind neben zahlreichen Vogelarten die vom Aussterben bedrohten Mongozmakis, eine Primatenart, sowie Livingstone-Flughunde heimisch. Von der seltenen Fruchtfledermausart leben rund 1.200 Exemplare nur auf Anjouan und Mohéli, wo ein Dahari-Team ihr Verhalten seit Jahren erforscht. Einige wichtige Schlafplätze, meist ein, zwei Bäume in 500 bis 1.000 Meter Höhe, liegen auf Privatgrundstücken, die nach und nach gerodet werden. Mit einer Spannweite von bis zu 1,4 Metern sind es die größten Flughunde der Welt, und um ihren Lebensraum zu schützen, arbeitet Dahari mit den Landbesitzern zusammen: Dafür, dass sie den Kahlschlag unterlassen und aufforsten, hilft man ihnen, die Produktivität bestehender Felder zu verbessern. Auch an Touristen ist zu verdienen: „Die Menschen kommen aus dem Ausland, um die Tiere zu sehen. Sie erzählen dann anderen davon“, sagt Dhoul-Kifl Attoumane, der auf seinem Land in einer engen, dicht bewaldeten Schlucht einen Schlafplatz beherbergt und Besuchern stolz zeigt.

Auf Tourismus hofft auch Ben Anthoy Moussa, der als Projektleiter für den Nationalpark auf der kleinsten und am wenigsten besiedelten Insel Mohéli arbeitet. Die Tourismusbranche sei in einem frühen Stadium. „Jetzt hoffen wir, dass diese weiterentwickelt wird, um alternative Einkommen zu generieren und den Druck auf die natürlichen Ressourcen zu verringern.“ Dafür brauche es mehr Investitionen – und eine bessere Ausbildung für die Menschen. Die Zukunft der Insel sieht Moussa positiv: Die Biodiversität sei noch vorhanden, und die Abholzung habe sich in den letzten Jahren sogar verlangsamt. Vermutlich weil 2015 fast die gesamte Landfläche der Insel in den Nationalpark integriert wurde, der bei seiner Gründung 2001 nur die Riffe ringsherum und das Meer umfasste. Seit 2020 ist Mohéli UNESCO-Biosphärenreservat. „Wir haben Lösungen, um die negativen Auswirkungen zu reduzieren. Aber das verlangt die Mitarbeit aller“, sagt Moussa, der sich mehr Einsatz seitens der Regierung wünscht, etwa zur Durchsetzung jener Gesetze, die Abholzung und Jagd reglementieren. Kaum ein Täter werde bestraft. Aber das könnte sich ändern: Viele politische Posten sind von jungen Leuten, darunter viele Frauen, besetzt. „Ich bin sehr optimistisch. Die alte Generation hat anders gedacht, aber wir Jungen haben eine neue Vision“, sagt Zalhat Bacar, die 37-jährige Umwelt- und Forstdirektorin. „Wir sprechen dieselbe Sprache. Wir wollen eine nachhaltige Entwicklung, gesunde Gemeinden und Wälder haben.“