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Für eine andere Entwicklungspolitik!

Beitrag vom 01.11.2021

IPG Institut für Politik und Gesellschaft

Raus aus der Freihandelsfalle

Die Freihandelszone soll die Marginalisierung Afrikas
beenden. Dafür muss sich die Wirtschaftsstruktur ändern
– vom Rohstoffexport zur Produktion.

von Kwabena Nyarko Otoo

Die globale Marginalisierung Afrikas ist allseits bekannt. Sie zeigt sich am
deutlichsten in den Zahlen zum Welthandel. Der Afrikanischen Union
zufolge liegt der Anteil des Kontinents hier seit 2005 unverändert bei
drei Prozent. Im gleichen Zeitraum wurden die afrikanischen
Volkswirtschaften besonders intensiv liberalisiert. Anfang der 1980er
Jahre betrug der Anteil Afrikas am Welthandel noch durchschnittlich
rund sechs Prozent.

Dieser Rückgang ist nicht die einzige negative Folge einer fehlgeleiteten
Handelspolitik. Die Rolle Afrikas als „Holzfäller und Wasserschöpfer“
der Welt hat sich in den letzten drei Jahrzehnten, in denen die
afrikanischen Volkswirtschaften ohne jede Strategie geöffnet wurden,
verfestigt. Rohstoffe dominieren nach wie vor bei den Exporten.
Grundlegende Industriegüter, auch solche, die der Kontinent früher
selbst produzierte, werden heute importiert. Der Zusammenbruch der
Inlandsproduktion zog eine fatale Arbeitslosigkeit und anhaltend große
Armut nach sich.

Im Jahr 2018 lebten 40 Prozent der afrikanischen Bevölkerung mit
einem Einkommen von unter 1,90 US-Dollar pro Tag in extremer
Armut. In absoluten Zahlen galten 433 Millionen Afrikaner als extrem
arm. Durch die Covid-19-Pandemie hat sich diese Zahl im Jahr 2021 auf
490 Millionen erhöht. Früher wurde die große Armut in Afrika oft auf
eine Politik zurückgeführt, die die afrikanischen Volkswirtschaften von
den Vorteilen des internationalen Handels fernhielt. Mittlerweile haben
sich die Länder Afrikas aber für ihn geöffnet.

In Wahrheit hat das Problem zwei andere
Ursachen. Erstens hat das
Wirtschaftswachstum von durchschnittlich
fünf Prozent in den letzten 25 Jahren nicht
ausgereicht, um die Folgen des
Negativwachstums in der Vergangenheit
und das derzeit hohe
Bevölkerungswachstum auszugleichen. Um
afrikaweit mehr und bessere Arbeitsplätze zu
schaffen, werden in Zukunft höhere
Wachstumsraten notwendig sein.

Die zweite Ursache betrifft die Struktur von Wachstum und Produktion.
Das Wirtschaftswachstum wurde hauptsächlich durch den Export von
Rohstoffen erzielt. Nach Angaben der UNCTAD, der Konferenz der
Vereinten Nationen für Handel und Entwicklung, bestehen die
afrikanischen Exporte zu 56 Prozent aus natürlichen Rohstoffen. So gut
wie alle Industriegüter werden dagegen importiert. Die afrikanischen
Länder sind auch Netto-Lebensmittelimporteure. Dies erklärt, warum
sich die Handelsbilanz weiter verschlechtert und warum Arbeitslosigkeit
und Armut nicht einzudämmen sind.

Gleichzeitig hat Afrika enormes Potenzial.
Der Kontinent besitzt einige der weltweit
größten Mineralvorkommen. Er hat Platz,
um eine Vielzahl von Technologien des 21.
Jahrhunderts aufzunehmen, einschließlich
digitaler Technologien, die Produktivität
und Wohlstand steigern. Vor allem aber hat
Afrika einen riesigen Binnenmarkt, der
schneller wächst als jeder andere auf der
Welt. Es beherbergt mehr als 16 Prozent der
Weltbevölkerung und hat ein
Bruttoinlandsprodukt von insgesamt 2,1
Billionen US-Dollar. Die Bevölkerung ist
jung und sehnt sich nach einem höheren
Lebensstandard.

Auf dieses Potenzial stützt sich die Afrikanische Freihandelszone
(African Continental Free Trade Area, AfCFTA) beim Umbau der
Produktions- und Handelsstruktur. Sie strebt einen kontinentalen
Binnenmarkt für Waren und Dienstleistungen an und soll den
Kontinent für den freien Verkehr von Unternehmen, Personen und
Investitionen öffnen. Das Abkommen wurde 2018 von 54
Mitgliedsstaaten unterzeichnet, 30 haben inzwischen ihre
Ratifizierungsurkunde bei der Kommission der Afrikanischen Union
hinterlegt. Im Januar 2021 hat der Handel zu AfCFTA-Bedingungen
begonnen.

Mit der Harmonisierung und Koordination der Handelsliberalisierung
und der Handelserleichterungen zwischen den bestehenden Regionalen
Wirtschaftsgemeinschaften (RECs), wie zum Beispiel der
Wirtschaftsgemeinschaft Westafrikanischer Staaten (ECOWAS), soll
die AfCFTA die Wettbewerbsfähigkeit Afrikas auf Industrie- und
Unternehmensebene durch Massenfertigung, einen kontinentweiten
Marktzugang und verbesserte Mittelallokation steigern. Übergeordnetes
Ziel ist es, den Trend der Marginalisierung Afrikas im Welthandel
umzukehren und durch den Ausbau des innerafrikanischen Handels
Wachstum und Entwicklung voranzutreiben.

Die AfCFTA stellt auf kontinentaler Ebene
sicherlich den mit Abstand ehrgeizigsten
Versuch dar, eine Zollunion herzustellen,
handelspolitische Maßnahmen zu
harmonisieren und die Handelsbeziehungen
zwischen den afrikanischen Ländern zu
stärken. Die Freihandelszone bietet dem
Kontinent die Möglichkeit, Restriktionen zu
umgehen, die sich durch die
unausgewogenen WTO-Regeln ebenso
ergeben wie durch neu entstehende große
regionale Freihandelsabkommen wie die
Transpazifische Partnerschaft (TPP).

Es gibt allerdings noch viel zu tun, und das wird in der afrikaweiten
Euphorie über das kontinentale Abkommen gern übersehen. Auch wenn
die AfCFTA die bisher ehrgeizigste Initiative ist, so ist dies keineswegs
der erste Versuch, den Handel zwischen afrikanischen Ländern zu
fördern. Die Regionalen Wirtschaftsgemeinschaften (RECs)
unterstützen den innerafrikanischen Handel seit mehr als vier
Jahrzehnten, ohne großen Erfolg. Der afrikanische Binnenhandel machte
2016 nur fünfzehn Prozent des Gesamthandels aus. Zum Vergleich: In
der Europäischen Union sind es 61,7 Prozent, in der
nordamerikanischen Freihandelszone NAFTA 40,3 Prozent und in der
ASEAN-Region 23 Prozent.

Das Scheitern der RECs illustriert die Risiken, die mit der AfCFTA
verbunden sind. Eine Gefahr besteht darin, dass man die Lehren der
Geschichte nicht beherzigt, auch die der afrikanischen Geschichte. Die
heutigen Giganten des internationalen Handels haben sich einst nicht
etwa in Freihandelszonen, sondern hinter hohen Zollschranken
entwickelt. Zahlreiche Studien belegen, dass Wirtschaftswachstum,
Kapitalakkumulation und starke Produktionssysteme einer
Handelsliberalisierung stets vorausgegangen sind.

So betrieben etwa Frankreich und
Deutschland zunächst eine Laissez-fairePolitik, ehe sie merkten, dass sie ihnen
schadete, und deshalb in den 1880er Jahren
umsteuerten. Großbritannien begann den
Handel nach der Industrialisierung zu
liberalisieren, in einer Zeit also, in der es
bereits die weltweit führende
Wirtschaftsnation war. Die USA betrieben
ihre Industrialisierung im 19. und weiten
Teilen des 20. Jahrhunderts hinter hohen
Zollschranken und protektionistischen
Maßnahmen. Dasselbe gilt für das
ostasiatische Wirtschaftswunder: Diese
Länder bauten ihre Wirtschaftsstruktur um
und schufen durch Handel Arbeitsplätze,
ohne jedoch den Binnenmarkt zu
liberalisieren. Die aufstrebenden
Unternehmen in der Region brauchten
ihren Markt als Nährboden für ihre
Entwicklung, damit sie auch einmal Fehler
machen konnten, ehe sie sich auf dem
Exportmarkt bewähren mussten.

Afrika ist somit die einzige Region, die versucht, ihre Volkswirtschaften
zu industrialisieren, zu diversifizieren und gleichzeitig durch
Handelsliberalisierung einen größeren Anteil am Welthandel zu erobern.
So schwimmt man gegen den Strom des gesunden ökonomischen
Menschenverstandes, wie er seit Jahrhunderten bekannt ist.

Die politische Euphorie, so scheint es,
blendet die praktischen wirtschaftlichen
Schwierigkeiten aus, mit denen die AfCFTA
konfrontiert ist. Die Staatschefs und ihre
Handelsexperten kennen seit langem die
Schwierigkeiten niedriger
Produktionskapazitäten; sie wissen um die
sich allzu ähnlichen Exportzweige der
afrikanischen Länder, d.h. um deren
mangelnde Komplementarität, und um die
Probleme mit der Infrastruktur, die den
Waren- und Personenverkehr in Afrika
behindern. Die Bemühungen zur
Bewältigung dieser Probleme waren bislang
indes ungenügend und unkoordiniert.

Die AfCFTA kann zwar insgesamt Nettogewinne ermöglichen, doch es
wird Gewinner und Verlierer geben. Einige Länder werden sich
vermutlich einer vollständigen Umsetzung der Handelsregeln
widersetzen, weil die Liberalisierung oft zu einer ungleichen Verteilung
der Gewinne führt. Relativ moderne Volkswirtschaften wie Ägypten,
Nigeria und Südafrika dürften stärker von der AfCFTA profitieren,
schwächere könnten verlieren. Deshalb muss es klare und starke
Mechanismen geben, mit denen die Gewinne verteilt und/oder die
Verlierer kompensiert werden. So sollten etwa Programme für den
Aufbau von Produktionskapazitäten in schwächeren Ländern aufgelegt
werden.

Insgesamt muss die AfCFTA den Staaten genügend Spielraum geben,
damit sie eine ihren Bedingungen entsprechende Politik verfolgen
können, ohne die notwendige Harmonisierung zu gefährden.

Schließlich wird die ACFTA weitreichende Folgen für die Beschäftigten
und ihre Gewerkschaften haben. Die AfCFTA soll das afrikanische
Wachstumsmodell von seiner Abhängigkeit von Rohstoffen hin zu
industrieller Produktion verändern. Das arbeitskraftintensive
verarbeitende Gewerbe und sogar die intensive Landwirtschaft könnten
mehr und bessere Arbeitsplätze für junge Menschen schaffen.
Nichtsdestotrotz könnten, wenn auf eine hochqualifizierte Fertigung
umgestellt wird, die Zahl der Arbeitsplätze und die Höhe der Löhne
insbesondere im Bereich der geringqualifizierten Beschäftigung sinken.
Ohne starke soziale Regelungen könnte die Zunahme der Beschäftigung
für die Arbeitnehmer größere finanzielle Unsicherheit nach sich ziehen.
Leider finden die Diskussionen über die AfCFTA überwiegend auf
höchster politischer Ebene statt, ohne die Bürger, die Beschäftigten und
ihre Organisationen zu beteiligen.

Aus dem Englischen von Anne Emmert

Kwabena Nyarko Otoo ist für den Trades Union Congress (TUC) in Ghana
als Direktor für Forschung und Politik im Labour Research and Policy
Institute tätig. Er ist Wissenschaftler beim Africa Labour Research
Network (ALRN), einem Netzwerk von gewerkschaftsnahen
Forschungsinstituten in 13 afrikanischen Ländern.