Beitrag vom 26.04.2022
FAZ
Migration
Gefährlicher Weg durch die Wüste
Die EU arbeitet seit Jahren eng mit Niger zusammen, um Migranten von der Weiterreise in Richtung Norden abzuhalten. Auf den ersten Blick scheint die Strategie erfolgreich — doch Beobachter warnen vor verheerenden Folgen für die lokale Bevölkerung und immer gefährlicheren Fluchtrouten.
Von Franca Wittenbrink
Dass die deutsche Außenministerin Annalena Baerbock während ihrer Westafrika-Reise Mitte April auch eine Flüchtlingssiedlung in Niger besuchte, hatte gute Gründe — auch wenn im Zentrum ihres ersten Besuchs in dem Land vor allem die Themen Klima und Sicherheit standen. Migration spielt für Niger seit jeher eine große Rolle. Was die Beziehungen zu den europäischen Partnern angeht, stehen allerdings weniger die Menschen im Fokus, die in dem Land selbst Zuflucht suchen, als vielmehr diejenigen, die Niger auf ihrem Weg in Richtung Nordafrika und Europa durchqueren.
Durch das westafrikanische Land, das zu den ärmsten der Welt zählt und auf dem Entwicklungsindex der Vereinten Nationen den letzten Platz einnimmt, führt eine der wichtigsten Routen in Richtung Algerien und Libyen — und von dort aus, wenn auch für die wenigsten, über das Mittelmeer weiter in Richtung Italien. Vor allem seit der vermehrten Ankunft afrikanischer Migranten an den europäischen Außengrenzen im Jahr 2015 ist Niger deshalb verstärkt in den Fokus Europas gerückt — und mittlerweile zu einem seiner wichtigsten Partner geworden, um Migranten aus Afrika bereits vor der Überquerung des Mittelmeers aufzuhalten.
Auf Europas ausdrücklichen Wunsch verabschiedete die nigrische Regierung 2015 das sogenannte „Gesetz 36-2015“, das die Beförderung internationaler Migranten von Agadez, der letzten größeren Stadt vor der Sahara, in Richtung Libyen und Algerien für illegal erklärte. Hinzu kamen sogenannte „Migrationspartnerschaften“ zwischen der EU und Niger sowie finanzielle Zuwendungen: Allein bis zum Jahr 2020 unterstützte die EU das Land mit einer Milliarde Euro, um die Grenzen zu Libyen und Algerien besser abzusichern. Zudem nahmen verschiedene EU-Missionen das Thema Migrationspolitik in ihr Programm mit auf, etwa die „EU Capacity Building Mission in Niger“ (EUCAP Sahel Niger), an der auch die Bundeswehr beteiligt ist.
Der Transit von Migranten Richtung Nordafrika und Europa ist für Niger auch ein Wirtschaftsfaktor.
Tatsächlich scheint die Zahl der Menschen, die durch die nigrische Wüste in Richtung Norden reisen, seitdem gesunken zu sein. Die EU sprach für 2018 von einem Rückgang um ganze 90 Prozent im Vergleich zu 2015. Beobachter warnen allerdings davor, angesichts dieser Zahlen vorschnell von Erfolgen zu sprechen. Johannes Claes vom niederländischen Clingendael Institute, der seit Jahren zu dem Thema forscht und selbst schon in Niger gelebt hat, verweist zum einen auf die schwierige Datenlage in der Region. Seit dem neuen Gesetz habe sich die Migration stark in den Untergrund verlagert; die wenigen offiziellen Kontrollpunkte an den Grenzen würden meist schlicht umgangen. Die tatsächliche Zahl der Menschen, die auch weiter in Richtung Norden reisten, lasse sich daher kaum messen, so Claes.
Auf der anderen Seite warnt er vor den teils verheerenden Auswirkungen auf die lokale Bevölkerung im Norden Nigers, für die durch die neue Migrationspolitik ein ganzer Wirtschaftszweig zusammengebrochen ist. Schon früh entwickelte sich Niger zu einem Transitland für Menschen aus der Region. Der Staatszerfall Libyens im Jahr 2011 befeuerte diese Entwicklung zusätzlich, weil die Menschen an der libyschen Grenze nicht mehr aufgehalten wurden. Die nigrische Wüstenstadt Agadez wurde so zu einem der wichtigsten Knotenpunkte für Migranten auf dem Weg in Richtung Norden. Viele Jahre lang verdiente die Bevölkerung dort auf legalem Weg ihr Geld mit den Migranten, es entwickelten sich ganze Netzwerke aus Fahrern, Organisatoren und Menschen, die Unterkünfte und Verpflegung bereitstellten. Nun drohen dafür hohe Geldstrafen und Gefängnis.
Johannes Claes hält das für eine gefährliche Entwicklung in einer Region, die von Armut und Instabilität geprägt ist und den Menschen wenig andere Verdienstmöglichkeiten bietet. Die EU hat zwar Ausgleichszahlungen für all diejenigen versprochen, die ihre Jobs verloren haben — doch bislang ist davon nur wenig bei der Bevölkerung angekommen. Viele Menschen hätten ihre gesamte Existenz verloren, die Unzufriedenheit sei groß, so Claes. Die befürchtete Rebellion, vor der Beobachter in den vergangenen Jahren gewarnt haben, ist zwar bislang ausgeblieben. In einem Umfeld, in dem bewaffnete Aufstände omnipräsent sind, bleibt aber auch diese Gefahr bestehen. „Die EU hat sich in ihrer Strategie für den Sahel dazu verpflichtet, auf Stabilität und die Beseitigung von Armut hinzuarbeiten“, sagt Claes. „Eine Migrationspolitik, die diesen Zielen zuwiderläuft, sollte man zumindest überdenken.“
Auch für die Migranten selbst sind die Auswirkungen erheblich. „Es stimmt natürlich nicht, dass die Menschen jetzt einfach nicht mehr aufbrechen“, sagt Claes. Vielmehr hätten sich die Routen durch die Wüste weiter ins Abseits verlagert und seien sehr viel gefährlicher geworden. Aus Angst, verhaftet zu werden, ließen Schmuggler die Menschen immer öfter mitten in der Wüste zurück, dort seien sie dann auf sich allein gestellt. Wasserstellen sind kaum vorhanden, und vor allem bei Sandstürmen ist das Risiko hoch, sich zu verirren. Hinzu kommt die Gefahr von bewaffneten Überfällen. Private Hilfsorganisationen wie „Alarm Phone Sahara“ berichten regelmäßig von Leichen, die sie inmitten der Dünen finden.
Dass sich die Migrationsrouten verändern, lässt sich indes auch an anderer Stelle beobachten. Während die Migration über das zentrale Mittelmeer seit 2015 zurückgegangen ist, steuern seit einigen Jahren immer mehr Menschen von Westafrika aus die Kanarischen Inseln an. Darin eine unmittelbare Folge der Migrationspolitik in Niger zu sehen, hält Johannes Claes für zu vorschnell. Dennoch betont er: „Wer von außen in ein komplexes Umfeld eingreift, muss damit rechnen, dass die Menschen darauf reagieren. Und im Zweifel werden sie sich neue Wege suchen.“