Beitrag vom 11.02.2023
NZZ
Afrikas stolzer Blick auf die Welt
In Bamako findet die grösste Fotobiennale des Kontinents statt. Die Organisatoren wollen damit junge Künstler ermutigen, Komplexe gegenüber Europa abzulegen.
Von Jonathan Fischer, Bamako
Zunächst versucht die Eingangsdame im Distrikt-Museum von Bamako dem Besucher ein Ticket zu verkaufen. Den Einwand, dass die Biennale kostenlos sei, kann sie nicht entkräften. Aber, so kontert sie, zumindest für jedes geschossene Foto sei ein Obolus zu entrichten. Da müsse sie aber schon reich sein! Treffer, Gelächter. Man ist sich nicht böse. Im Gegenteil. Die Dame – sie bezieht sicherlich wie die meisten staatlichen Angestellten Malis ein Hungergehalt – gibt anschliessend dennoch ihr Bestes, hat auf Nachfragen sogar ein paar Erklärungen – «mehr hat mir mein Chef leider nicht gesagt.»
Eine gar nicht untypische Anekdote. Denn Bamako, eine Stadt, in der Trauben von Mofas, Eselsgespanne und bunt bemalte, aber marode Kleinbusse permanent die Strassen verstopfen, wo die Glas-Beton-Hochhäuser der Banken an Ziegenmärkte grenzen und überall Verkäufer-Mädchen Schalen voller Wasserbeutel auf dem Kopf balancieren, scheint vor allem damit beschäftigt, das eigene Überleben zu organisieren. Da kann es schon passieren, dass die grösste Foto-Biennale Afrikas von vielen wie die Landung eines wunderlichen Ufos wahrgenommen wird.
Wachsendes Selbstbewusstsein
«Ich habe davon gehört», erklärt etwa Amadou Traore, junger Inhaber eines der vielen digitalen Fotostudios am Strassenrand. Ein Foto kostet bei ihm nicht mehr als ein Häufchen Mangos. Trotzdem ist damit nicht viel Geschäft zu machen. «Wie soll ich von Kunst leben? Ich bin froh, wenn ich genug Kunden für Bilder von Hochzeiten und Familienfeiern finde.»
Tatsächlich galt das Medium Fotografie in Mali lange als blosses Dienstleistungsgewerbe. Es ist relativ neu, dass junge Fotografen, unter ihnen auch Frauen, ihre Kameras auf die Welt ausserhalb des Studios richten. Und – wie etwa John Kalapo, Fatoumata Diabate oder Kani Sissoko – auch international Furore machen. Das ist auch ein Verdienst der Biennale. Zum 13. Mal bringen die «Rencontres de Bamako», die noch bis zum 8. Februar dauern, Intellektuelle und Künstler aus der ganzen Welt nach Mali, über 70 der interessantesten Fotografen der Gegenwart aus Afrika und der afrikanischen Diaspora stellen hier aus.
Ihre Sujets und Diskurse zeigen dabei ein wachsendes Selbstbewusstsein. Den Willen, sich – parallel zum jüngsten politischen Prozess des Gastgeberlandes Mali – von westlichen und postkolonialen Bevormundungen zu verabschieden. «Mali hat sich auf provokative Weise dekolonialisiert», sagt Igor Diarra, der Direktor der Galerie Medina, wo die Biennale einen von sieben über die ganze Stadt verteilten Ausstellungsorten unterhält. «Wegen der Spannungen mit Frankreich sind bestimmte westliche Medienvertreter nicht gekommen. Das ist schade. Aber man darf nicht vergessen, dass jede Krise auch eine Chance der Neuorientierung ist.»
Schon auf der Fahrt durch die Stadt wird sichtbar, wovon er spricht. Mali hat in den letzten zwei Jahren zwei Militärcoups erlebt. Nun gilt der Putschisten-Oberst Assimi Goita mit seiner Übergangsregierung als starker Mann – und weil er anders als seine demokratisch gewählten Präsidentenvorgänger sichtbar Massnahmen gegen die Korruption ergreift, feiert ihn die Bevölkerung. Sein Konterfei prangt auf Taxis und Kleinbussen. Eine Welle des Patriotismus überschwemmt das Land. Malische Flaggen flattern an Mopeds und Geschäften.
Neue Verhältnisse
Vor einigen Jahren sah man auch noch die Trikolore der ehemaligen Kolonialmacht Frankreich. Immerhin hatten französische Militärs den Norden des Landes 2012 von einer Okkupation durch Tuareg-Separatisten und Jihadisten befreit. Doch dann fielen die Franzosen in Ungnade: «Weil sie die fortgesetzten Massaker und Überfälle der Jihadisten nicht verhinderten», erklärt der junge malische Journalist Youssef Koné, «machte sie die Bevölkerung mit verantwortlich dafür. Dazu kam der Ärger über die fortgesetzte Einmischung der Franzosen in die malische Politik.» Nun hat man sich neue Verbündete gesucht – und ausgerechnet die russische Wagner-Miliz zu Hilfe geholt, offiziell lediglich als «Ausbilder».
Man merkt die neuen Verhältnisse vor allem an den russischen Fahnen, die an grossen Plätzen verkauft werden. Und den hitzigen Diskussionen der allabendlichen Grins oder Teerunden am Strassenrand: Ist es richtig, dass die Regierung die französischen Staatssender RFI und France 24 im Land verboten hat? Wer sagt die Wahrheit, und was ist nur Propaganda? Und: Worauf können sich Malier in der Zeit der Krise noch verlassen?
«Wo die Politik sich verfahren hat», sagt der Medina-Galerist Diarra, «kann die Kultur spontan Brücken bauen.» Tatsächlich wird die Foto-Biennale seit ihrer Gründung 1994 gemeinsam von der französischen Kulturbotschaft Institut Français und dem malischen Staat finanziert. Sie baut seit drei Jahrzehnten Brücken nicht nur zwischen Europa und Afrika, sondern auch innerhalb der Afro-Diaspora beziehungsweise zwischen verschiedenen Ländern Afrikas.
Das ist beispielhaft in der Galerie Medina zu sehen. Dort sind historische Fotos des legendären malischen Porträtisten Seydou Keita den Arbeiten von jüngeren westafrikanischen Fotografen gegenübergestellt. Seydou Keita und Malick Sidibe: Diese auch im Westen gefeierten Studiofotografen hatten in den sechziger und siebziger Jahren mit ihren Kameras den Aufbruchsgeist der malischen Jugend eingefangen – einen Optimismus, der noch ganz im Zeichen des ungebrochenen Glaubens an die Fortschrittsversprechen der Unabhängigkeit stand. Man versuche gerade, die damals abgebildeten Personen ausfindig zu machen, erklärt der Galerie-Direktor. Um auch hier die Geschichte fortzuschreiben.
Das passt zu dem Motto «Vielfalt, Differenz, Erbe und Werden», das Bonaventure Soh Bejeng Ndikung, der aus Berlin kommende Chef-Kurator der Biennale, ausgegeben hat. So scheinen etwa die Bilder des ivorischen Fotografen Ananias Léki Dago eine gewisse Ernüchterung auszudrücken: Sei es das Pokerface eines Mannes, der an seiner Zigarette zieht, sei es der abgewendete Blick eines Trinkers, oder seien es Frauen, die wie Gefangene durch ein Gitter blicken: Dago illustriert hier eine Stimmung zwischen Bar-Coolness und Desillusion – und wirkt damit ganz im Hier und Jetzt.
Verwirrende Vielfalt
Nächste Station: der alte Bahnhof von Bamako. Die Uhr steht still, das prächtige Kolonialgebäude wirkt traumverloren. Im Jahr 1924 war es von den Franzosen als Zwischenstation einer Eisenbahnlinie zwischen dem senegalesischen Dakar und Niamey in Niger erbaut worden. Später, in den sechziger und siebziger Jahren, formierte sich im angeschlossenen Buffet de la Gare die Musikszene Malis mit der Rail Band und ihrem bis heute durch die Welt tourenden Superstar, dem Sänger Salif Keita.
Zugverkehr, das bedeutete Zukunft. Doch seit dem Beginn der Krise vor über zehn Jahren sind die Bahnsteige verwaist. Zwischen den Schienen weiden Ziegen. Im Unkraut der Abstellgleise verrotten ein paar Waggons. Vor dem Haupteingang spielen alte Männer in weiten, glänzenden Boubou-Gewändern Domino. Erst vor kurzem hat die Militärregierung mit einer Testfahrt angekündigt, zumindest den Zugverkehr bis in die westlich gelegene Stadt Kayes wiederherstellen zu wollen.
Auch die Biennale hat das historische Bahnhofsgebäude für sich entdeckt. Aber erst muss ein Wärter gefunden werden, der einem aufschliesst. Das Nebeneinander von Geschichte und Gegenwart hat seinen Charme: Neben einem Messing-Schild, «Gepäckaufgabe endet 15 Minuten vor Abfahrt des Zuges», hängen Nourhan Maayoufs grossformatige Schwarz-Weiss-Bilder von afrikanischen Wohnzimmern – dieser ständigen Verhandlungszone zwischen Gemeinschaft und Rückzug. Seif Kousmate sucht in seiner Fotoserie nach den Spuren des Traumas vergangener ethnischer Konflikte im Zusammenleben von rwandischen Hutu und Tutsi. Andere Arbeiten spüren neben geschlossenen Kartenschaltern der Rolle der Frauen für die Gesellschaft in Trinidad und Tobago nach oder überblenden die Aufnahmen des eigenen Körpers mit den von der Kolonialmacht ausgestellten Dokumenten des Grossvaters.
Diese thematische Vielfalt kann verwirren. Und das soll sie auch. Denn auf diesem Treffen der Fotografen, Künstler und Intellektuellen geht es laut dem künstlerischen Direktor Ndikung um eine Sprache der Zwischenräume, der Identitäten, die vermeintliche religiöse, politische, ethnische oder sexuelle Gewissheiten infrage stellen. «Unser Thema ist die Multiplizität», erklärt Ndikung. Er hatte schon die letzten «Rencontres de Bamako» kuratiert und leitet seit 2023 das renommierte Haus der Kulturen in Berlin. «Jeder Mensch trägt eine Mehrzahl von Personen in sich – das erklärte schon der malische Schriftsteller Amadou Hampate Ba.» Zu Ende gedacht, ist das eine nachdrückliche Toleranz-Botschaft.
Daneben aber setze die Biennale auch konkrete wirtschaftliche Impulse: «Früher», sagt Ndikung, «liess man die Fotos in Frankreich drucken. Heute vergeben wir alle Aufträge an lokale Ateliers und Unternehmer.» So sollten junge Fotografen ermutigt werden, ihre Kunstwerke vor Ort zu produzieren. Und überkommene Minderwertigkeitskomplexe gegenüber dem «Made in Europe» ablegen.
Kreativer Wahnsinn
Sehr pittoresk geht es im Monument für den ersten malischen Präsidenten Modibo Keita, einem realsozialistisch anmutenden Palais am Niger-Ufer, zu – und das nicht nur, weil die Hitze schon einige der Fotos von den Stellwänden gelöst hat. «Afrikaner sind Genies der Alltagsimprovisation», sagt die malische Fotografin Fatoumata Diabate. Eine resolute Frau, die eigenen Angaben nach nur durch Vermittlung einer Tante einen Platz an einer der renommierten Fotoschulen in Bamako erhielt, und die bereit war, selbst im Strassenbau zu arbeiten, um sich als Frau und Fotografin in einem von Männern dominierten Metier durchzusetzen. Mit der von ihr geleiteten «Association des Femmes Photographes de Mali» hat sie nun einen der in Bamako allgegenwärtigen Kleinbusse in ein mobiles Fotoatelier verwandelt.
Wer zur Arbeit oder zum Markt will, verbringt oft Stunden zusammengepfercht in der Enge und Hitze dieser Kleinbusse, der sogenannten Sotramas. «Es sind die Blicke der Passagiere, ihre Kraft, aber auch ihre Erschöpfung, die mehr über den Alltag Malis aussagen als jede Rede», erklärt Diabate. Vor einem schwarz-weiss-karierten Vorhang inszenieren sich nun die Passagiere selbst. Hier werden sie von Leidenden zu Helden. Durchaus komische Noten entwickeln auch Diabates Porträts mit improvisierten Corona-Maskierungen: ein mit einem Gemüseblatt maskiertes Männergesicht, Taucherbrillen, Damenslips und Socken als Behelfsschutzmittel, ja selbst Radios und Fernseher mit Atemschutz. Das oszilliert zwischen Erfindungsreichtum und kreativem Wahnsinn.
Seydou Camara streicht fast zärtlich über die Papierfahnen an den Wänden des Cinema Hilal. Zwischen Reihen von Eisenstühlen haben ein paar Männer ihre Gebetsmatten ausgerollt. Auf der anderen Seite waschen Frauen Geschirr in grossen Plastiktrögen, während ein Mechaniker unter den Fotos eines Schönheitssalons an einem Motor herumschraubt. Gerade wegen solcher Szenen schätzt Camara, ein Macher-Typ mit gewinnendem Lächeln, das alte Freiluftkino im Herzen der Medina Bamakos als Ausstellungsort. Zusammen mit den jungen Fotografinnen seiner Initiative Yamarou hat er dessen Wände zu einer grossen Strassengalerie umfunktioniert.
Fotografien können alle lesen
Immer wieder bleiben ambulante Marktfrauen oder spielende Kinder vor den Fotos stehen. Es sind Themen, mit denen hier jeder vertraut ist: der Blick eines Flüchtlingskindes aus einem mit Plastikplanen improvisierten Zelt; eine Fotografin, die die Inhalte des Schmuckkästchens ihrer verstorbenen Mutter zeigt. Oder Frauenkörper, die unter übereinandergelegten Schichten von Kleidung fast ersticken – Symbol für den sozialen Druck, sich für jedes Fest neue kostspielige Kleider schneidern zu lassen: «Wir von Yamarou», erklärt Camara, «haben einen sozialen Auftrag: vermeintliche Selbstverständlichkeiten und Rollenbilder infrage zu stellen. Und die Menschen so zum Reden zu bringen.»
Auch deshalb veranstaltet Camara, selbst ein international renommierter Fotograf, mit Yamarou regelmässig Fotoworkshops für Kinder und Jugendliche. Das Medium Foto sei nicht zuletzt deshalb so wichtig, weil es in einer Gesellschaft von 70 Prozent Analphabeten von allen gelesen werden könne. Letztes Wochenende habe Yamarou ein Marionettentheater, eine Modenschau und Musiker ins alte Kino gebracht. «Die Strassen ringsum sind aus allen Nähten geplatzt. Danach haben wir alle zusammen sauber gemacht.» Es sind solche Off-Aktionen, die das Ufo der Biennale dann doch in den populären Quartieren der Stadt landen lässt. «Wenn in Mali etwas funktioniert», erklärt Camara, «dann ist es der Gemeinschaftsgeist. Deshalb habe ich trotz allen Krisen Hoffnung für unser Land.»