Beitrag vom 23.02.2023
NZZ
Die grösste Wahl in Afrika ist auch die wichtigste
93 Millionen Nigerianerinnen und Nigerianer küren am Samstag einen neuen Präsidenten – ein Aussenseiter hat gute Chancen
Samuel Misteli
Superlative sind schnell zur Hand, wenn es um Nigeria geht: Das westafrikanische Land ist Afrikas grösste Volkswirtschaft, und es ist mit mehr als 200 Millionen Menschen das bevölkerungsreichste des Kontinents. In den nächsten dreissig Jahren wird Nigeria zum Land mit der drittgrössten Bevölkerungszahl weltweit aufsteigen – hinter Indien und China, vor den USA. Nigeria ist wichtig, und es wird noch wichtiger werden.
Nun hält Nigeria die grösste demokratische Wahl ab, die in Afrika je stattgefunden hat. 93,5 Millionen registrierte Wählerinnen und Wähler werden am Samstag unter anderem einen neuen Präsidenten küren – so es denn einer der 18 Kandidaten im ersten Wahlgang schaffen sollte, die nötigen 50 Prozent zu überschreiten. Das Magazin «Foreign Policy» hat die Wahl zur wichtigsten in diesem Jahr erklärt – nicht in Afrika, sondern weltweit.
Die Wahl ist wichtig, weil Nigeria im Guten wie im Schlechten eine Vorreiterrolle einnimmt: Ein demokratisches, wirtschaftlich stabiles Nigeria könnte eine ganze Region mitziehen, auch über seine unmittelbare Nachbarschaft hinaus. Ein wankendes Nigeria aber ist ein Gigant, der droht, seine Nachbarn unter sich zu begraben, falls er ganz fallen sollte.
Zwei Drittel leben in Armut
Doch das heisst nicht, dass die Demokratie in Nigeria den Bürgerinnen und Bürgern ein besseres Leben beschert hätte. Laut einer Umfrage des Meinungsforschungsinstituts Afrobarometer glauben 89 Prozent der Nigerianerinnen und Nigerianer, das Land bewege sich in die falsche Richtung. Man kann das mit einer langen Liste von Kennzahlen plausibel machen.
Laut dem nigerianischen Statistikamt leben zwei Drittel der Bevölkerung – 133 Millionen Menschen – in Armut. Eine Folge davon: Die Lebenserwartung beträgt 53 Jahre, es ist eine der tiefsten in Afrika. Zwischen 2014 und 2021 ist das jährliche Durchschnittseinkommen von rund 3000 auf 2000 Dollar gefallen. Das Wirtschaftswachstum pro Kopf tendiert gegen null, die Schuldenlast des Staates steigt dafür stark.
Die wirtschaftliche Misere kommt vor allem daher, dass Nigeria sich nicht von der Abhängigkeit vom Erdöl befreit hat. Die Preisstürze 2014 und 2020 wirkten sich verheerend auf die nigerianische Wirtschaft aus. Und in jüngster Zeit schaffte es das Land nicht, vom gestiegenen Ölpreis zu profitieren: Nirgendwo ging die Erdölproduktion im vergangenen Jahr stärker zurück als in Nigeria. Der desolate Zustand der Industrie kommt daher, dass Nigeria rund 10 Prozent des Erdöls durch organisierten Diebstahl verliert – von dem unter anderem Politiker und einflussreiche Militärs profitieren. Die Infrastruktur ist hoffnungslos veraltet.
Auch die Sicherheitslage ist an vielen Orten dramatisch. Wer es sich leisten kann, fliegt zwischen den Städten, statt die gefährlichen Strassen zu benützen. Entführungen zur Erpressung von Lösegeld sind zu einer Industrie geworden – im vergangenen Jahr wurden über 3000 Personen entführt. Am stärksten davon betroffen war der Nordwesten des Landes. Derweil hält im Nordosten die Gewalt durch jihadistische Gruppen an, mehr als zwei Millionen Menschen sind dort intern vertrieben. Im Südosten wiederum sind separatistische Gruppen aktiv, sie haben zuletzt Wahllokale angegriffen. Die Konfliktdatenbank Acled zählt allein seit Anfang 2022 mehr als 4000 Vorfälle von Gewalt im ganzen Land.
«Ich bin an der Reihe»
Die meisten Politiker, die nun vor der Wahl versprechen, Nigeria aus der Misere zu holen, sind Teil jener selbstherrlichen Kaste, die die Misere verantwortet. Das gilt für die Präsidentschaftskandidaten der beiden grossen Parteien. Der All Progressives Congress (APC), der die letzten acht Jahre regiert hat, schickt Bola Tinubu ins Rennen, einen früheren Gouverneur der Metropole Lagos. Tinubu gilt als Meisterstratege der nigerianischen Politik. Er zog die Fäden, als der jetzige Präsident Muhammadu Buhari 2015 den Amtsinhaber Goodluck Jonathan besiegte. Nun tritt Tinubu, der Königsmacher, mit dem Slogan an: «Ich bin an der Reihe.»
Tinubu ist der Favorit, doch die Bedenken ihm gegenüber sind zahlreich. Da ist zum Beispiel seine gesundheitliche Verfassung. Tinubu ist offiziell 70 Jahre alt, viele glauben aber, er sei deutlich älter und zu schwach, um als Präsident zu amten. Zu den gesundheitlichen Bedenken kommen die Anschuldigungen wegen Korruption. In seiner Zeit als Gouverneur von Lagos zwischen 1999 und 2007 gelang es Tinubu zwar, das Steueraufkommen zu versechsfachen. Es gibt aber auch Hinweise darauf, dass er als Gouverneur an Geldwäscherei beteiligt war und ausländische Bankkonten unterhielt, auf die öffentliches Geld floss.
Korruptionsgerüchte begleiten auch den Kandidaten der zweiten grossen Partei, der People’s Democratic Party (PDP). Atiku Abubakar ist ein reicher Geschäftsmann, der schon fünfmal erfolglos als Präsident kandidierte. Der 76-Jährige zeigt sich wirtschaftsfreundlicher als Tinubu und gibt sich als Mann, der die ethnischen Gräben des Landes überbrücken kann. Er verspricht, die staatliche Erdölfirma zu privatisieren und Kompetenzen von der Zentralregierung an die 36 Gliedstaaten abzugeben.
Die Tatsache, dass Tinubu und Abubakar zwei der prominentesten Vertreter jener Kaste sind, die Nigeria seit Jahrzehnten dominiert, ohne dass sich die Lebensverhältnisse verbessert haben, hat dazu geführt, dass erstmals ein Kandidat einer dritten Partei reelle Chancen auf den Sieg hat.
Mehrere Umfragen sehen Peter Obi vorne. Seine Chancen auf das Präsidentenamt hängen davon ab, ob seine Anhänger in grosser Zahl zur Urne gehen. Obi verfügt nicht über die landesweite Parteimaschinerie, die es braucht, um die nötigen Stimmen zu mobilisieren – wenn nötig, indem man sie kauft. Er darf aber hoffen, weil die Jungen die grösste Wählerkohorte stellen – 37 Millionen der registrierten Wählerinnen und Wähler sind zwischen 18 und 34 Jahre alt. Diese Altersgruppe stellt auch 84 Prozent der fast 10 Millionen neu registrierten Wähler. Die Lust auf Teilnahme am demokratischen Prozess ist umso bemerkenswerter angesichts der Gleichgültigkeit, mit der Nigerias Regierende die Bevölkerung für gewöhnlich behandeln.
Die Mehrheit will auswandern
Wegen der Stärke von Peter Obi ist es möglich, dass der Präsidentschaft erstmals in einer Stichwahl erkoren wird. Für den Sieg braucht ein Kandidat mehr als 50 Prozent der Stimmen und mehr als 25 Prozent in mindestens 24 der 36 Gliedstaaten.
Wer auch immer Präsident wird, steht vor der Aufgabe, das enorme Potenzial Nigerias endlich zu realisieren – oder zumindest Ansätze davon. Das Land hat schon jetzt eine fast globale Ausstrahlung, vor allem im kulturellen Bereich; Nigerias Musikerinnen und Schriftsteller gewinnen internationale Preise. Und nigerianische Funktionäre bekleiden wichtige Positionen in internationalen Institutionen, zum Beispiel Ngozi Okonjo-Iweala, die Chefin der Welthandelsorganisation.
Doch im Land selber haben die vielen Probleme Folgen. Sieben von zehn Nigerianern würden laut einer Umfrage von 2021 die Chance wahrnehmen, das Land zu verlassen. Allein im vergangenen Jahr erhielten fast 16 000 Nigerianerinnen und Nigerianer Arbeitsvisa im Vereinigten Königreich; unter ihnen viele Ärzte und andere Hochqualifizierte, die Nigeria dringend selber benötigte.
Falls auch der nächste Präsident nicht fähig ist, das Land in eine bessere Spur zu lenken, wird sich der Auswanderungswille der Bevölkerung weiter verstärken – was auch Europa zu spüren bekäme. Auch das macht Nigerias grosse Wahl zur vielleicht weltweit wichtigsten in diesem Jahr.