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Für eine andere Entwicklungspolitik!

Beitrag vom 10.08.2023

NZZ

Paris droht im Sahel erneut zu scheitern

Rückschlag für Frankreichs Anti-Terror-Strategie

Nach dem Putsch in Niger steht ein Abzug der französischen Truppen aus dem Land zur Debatte – wie zuvor aus Mali und Burkina Faso. Es wäre ein weiterer Beweis für den rasant schwindenden Einfluss Frankreichs in der Region.

Rudolf Balmer, Paris

«Wir kamen als Befreier, wir gehen als angeschuldigte Besatzer» – der konservative Senator Christian Cambon zieht eine ernüchternde Bilanz des französischen Kampfs gegen den Jihadismus in Afrika. Er hat zusammen mit Ratskollegen, namentlich aus den Reihen der Partei Les Républicains, in der Zeitung «Le Figaro» am Dienstag einen offenen Brief publiziert. Sie kritisieren im Kontext des Putschs in Niger die Afrikapolitik der letzten Jahre und bedauern Frankreichs «schwindenden Einfluss» auf dem Kontinent.

Cambon und die weiteren Kritiker sprechen offen von einer Niederlage im Kampf gegen die Jihadisten und suchen nach Verantwortlichen. Erst zogen die französischen Truppen aus Mali und Burkina Faso ab, weil sie bei den neuen Machthabern nicht mehr willkommen waren. Auch in Niger berufen sich die Putschisten auf antifranzösische Ressentiments, die bereits in Mali und Burkina Faso zum Ende der militärischen Präsenz beigetragen hatten. Nun steht also auch ein Rückzug der rund 1500 Soldaten auf der Basis beim Flugplatz in der nigrischen Hauptstadt Niamey zur Debatte. Doch aus Paris heisst es dazu, das stehe nicht auf der Tagesordnung.

Tendenz zur Bevormundung

Das Scheitern der französischen Anti-Terror-Strategie ist mit diesem Dominoeffekt in Westafrika offensichtlich. Im Generalstab der französischen Streitkräfte weist man alle Vorwürfe zurück. Die Militäreinsätze «Serval» und «Barkhane» hätten eine Destabilisierung der Region verhindert und womöglich Tausende von Menschenleben gerettet.

Von einer militärischen Niederlage will auch der französische Verteidigungsminister Sébastien Lecornu nicht sprechen: «Es gereicht Frankreich zur Ehre, den Terrorismus bekämpft zu haben. Vergessen wir nicht, dass wir dabei 58 Soldaten verloren haben.» Er räumt indes ein, es sei in Mali ein «Irrtum» gewesen, an der Stelle des malischen Staats die Verantwortung zu übernehmen.

Diese Tendenz zur Bevormundung der ehemaligen Kolonien ist immer noch der wunde Punkt der Afrikapolitik. Vor sechs Jahren hatte Staatspräsident Emmanuel Macron in Ouagadougou, der Hauptstadt von Burkina Faso, in einer Grundsatzrede seine Vision einer neuen Partnerschaft mit den Staaten West- und Zentralafrikas entwickelt. Diese bekräftigte er 2021 bei einem Afrikagipfel in Montpellier. Nicht nur in Mali, Burkina Faso und Niger hatte man jedoch den Eindruck, dass dies bloss Worte gewesen seien und dass sich an Frankreichs traditioneller Hinterhofpolitik in den ehemaligen Kolonien bis auf den heutigen Tag nicht viel geändert habe.

Auf solche historischen Wurzeln der antifranzösischen Ressentiments können sich Putschisten in Bamako wie Niamey berufen. In Mali wurde die relative Erfolglosigkeit bei der Bekämpfung der Jihadisten gar zum Ausgangspunkt von haltlosen Gerüchten, wonach die französischen Militärs mit den Terroristen unter einer Decke steckten.

Russland und China profitieren

Noch im März hatte Präsident Macron in Libreville, der Hauptstadt von Gabon, einmal mehr erklärt, eine neue Ära der Zusammenarbeit habe begonnen und die «Epoche der Françafrique» sei vorbei. Der Begriff «Françafrique» bezeichnet seit der Unabhängigkeit der Staaten in West- und Zentralafrika die enge Beziehung zur früheren Kolonialmacht. Diese wollte damit nicht nur ihre Interessen wahren, sondern auch den Anschein aufrechterhalten, noch immer eine Weltmacht zu sein.

Vom Ende der neokolonialen «Franç-afrique» sprachen vor Macron schon alle seine Vorgänger seit François Mitterrand. Dennoch wurde die Abkehr von einer paternalistischen Politik gegenüber den ehemaligen Kolonien nie vollzogen. Von den jungen Eliten im Sahel wird sie heute mehr denn je als arrogantes Gebaren abgelehnt.

Vom Nährboden antifranzösischer Ressentiments profitieren letztlich nicht nur die Jihadisten. Auch Russland und China haben ein leichtes Spiel, im entstehenden Vakuum ihren bereits wachsenden Einfluss rasch auszuweiten. Die Frage, die man sich heute in Paris stellt, ist die, ob mit dem Putsch in Niger ein Wendepunkt erreicht sei, nach dem Frankreich nur noch weiter an Bedeutung verlieren kann.

Folgen für Migrationspolitik

Betroffen davon ist nicht allein Frankreich, sondern auch die europäische Flüchtlings- und Migrationspolitik: Niger ist, wie die Zeitung «Le Monde» schreibt, ein «bevorzugtes Transitland» auf dem Weg nach Libyen und Tunesien – und von dort nach Italien. Der gestürzte Präsident Mohamed Bazoum hatte nicht zuletzt unter dem Druck seiner französischen Schutzherren bewirkt, dass die nigrische Stadt Agadez nicht länger als Hochburg von Schleuserorganisationen dient. Allein 2016 sollen mehr als 300 000 Migranten auf ihrem gefährlichen Weg durch die Sahara in Richtung Mittelmeer dort haltgemacht haben.

Inwiefern die Putschisten in Niamey ihre antifranzösische Haltung auch auf die EU ausweiten und mit der unter Bazoum vereinbarten Kooperation brechen, ist derzeit noch ungewiss. Die von General Tchiani angeführten Putschisten haben aber bereits erklärt, dass sie sich nicht an Abkommen gebunden fühlen, die Bazoum mit Frankreich abgeschlossen hatte.