Beitrag vom 15.09.2023
NZZ
Die französische Afrikapolitik wird von einem Geist verfolgt
Nach der Unabhängigkeit seiner einstigen Kolonien hat Frankreich mit Hinterzimmerabsprachen, Militär und Geheimdienst die Länder an sich gebunden. Seither wurde diese Françafrique, der dafür kreierte Begriff, unzählige Male beerdigt. Ihr Geist lebt aber weiter. Das zeigen die jüngsten Militärputsche in Niger und Gabon.
Erika Burri
Wer hätte das gedacht: Zwei Präsidenten in Westafrika sitzen nach zwei Militärputschen in ihren Palästen fest. Ali Bongo in Libreville in Gabon und Mohammed Bazoum in Niamey in Niger. Von dort aus setzten sie jeweils einen Hilferuf ab. Bongo veröffentlichte ein Video, Bazoum einen Artikel, in dem er sich als Geisel der Militärjunta bezeichnet, die ihn jüngst stürzte. Und sie tun das nicht etwa auf Französisch, nein, sie tun das auf Englisch.
Bongo, der Gabonese, hat einen Akzent, wenn er Englisch spricht. Französisch dagegen spricht er akzentfrei. Bazoum veröffentlichte seinen Hilferuf in der «New York Times» und nicht etwa in der französischen Tageszeitung «Le Monde». Das zeigt: Von Frankreich, das beide Gebiete kolonialisierte, die Grenzen dieser Länder mitbestimmte, die Staaten in den frühen 1960er Jahren in die Unabhängigkeit entliess und bis zum Ende des Kalten Krieges aus der Ferne steuerte, erwarten die beiden Geputschten nicht mehr viel – einzig vielleicht, dass die Franzosen inzwischen gut genug Englisch sprechen, um zu verstehen, was sie sagen.
Bazoum fordert «die USA und die ganze internationale Gemeinschaft» auf, dem Land zu Hilfe zu eilen und dafür zu sorgen, dass die konstitutionelle Ordnung wieder hergestellt wird. Ali Bongo, der seine Macht von seinem Vater erbte und schon als Präsidentensohn viel Sinn für Musik zeigte, fordert «alle meine Freunde auf der ganzen Welt auf, Lärm zu machen, Lärm, richtig Lärm».
Totgesagte leben länger
Wieder heisst es, die Ereignisse zeigten, dass die «Françafrique» tot sei. Kaum ein politisches Konzept wurde in den letzten zwei Jahrzehnten so oft zu Grabe getragen. Einerseits weil man sich dieses Politikmonster vom Hals schaffen wollte. Andererseits weil sich die Zeiten – und das zeigen die Hilferufe in englischer Sprache – tatsächlich geändert haben. Doch Totgesagte leben bekanntlich länger. Das zeigen nun auch die jüngsten Putsche.
Der Begriff Françafrique wurde erst in den neunziger Jahren kreiert, um die französische Afrikapolitik der letzten Jahrzehnte zu benennen, mit der man sich fortan kritisch auseinandersetzte. Er setzte sich sogleich im Bewusstsein der französischen Gesellschaft fest. Françafrique beschreibt die Afrikapolitik nach der Unabhängigkeit der Kolonien bis zum Fall der Berliner Mauer. Diese Afrikapolitik trägt die persönliche Handschrift von Charles de Gaulle.
Der Gründer der Fünften Republik entliess ab 1960 die Kolonien zwar in die Unabhängigkeit, nicht aber ohne Gegenleistung. Frankreich installierte Machthaber, die der ehemaligen Kolonialmacht weiter Zugang zu Rohstoffen sicherten. Im Gegenzug garantierte Frankreich ihre Sicherheit durch französische Militärpräsenz. Das wurde in Verträgen festgehalten, die teilweise bis heute gültig sind. Gabon gibt bestes Anschauungsmaterial: Hier herrschte seit 1967 die Familie Bongo, die dem französischen Erdölkonzern Elf Aquitaine (heute Totalenergies) den Zugang zum schwarzen Gold garantierte. Sie wurde dabei steinreich, während der Rest der Bevölkerung kaum über die Runden kommt.
Präsidenten haben Besserung gelobt
Erst in den neunziger Jahren kam in vollem Umfang ans Licht, wie Frankreich sich immer wieder in mehreren westafrikanischen Staaten an Wahlfälschungen beteiligte, an Putschversuchen und geheimen Militäroperationen. Demokratie war ein Deckmantel. Es galt, die Pfründen Frankreichs zu sichern und während des Kalten Krieges auch dafür zu sorgen, dass die ehemaligen Kolonien im Block des Westens verharrten.
Seither hat jeder französische Präsident Besserung gelobt und neue Konzepte vorgestellt. Emmanuel Macron tat es in seiner bisherigen Amtszeit bereits zwei Mal. Seine Afrikapolitik soll zukunftsgerichtet sein. Sie bindet die Zivilgesellschaft der Länder ein und fokussiert sich längst nicht mehr nur auf die ehemaligen Kolonien. Er wünscht Partnerschaften auf Augenhöhe und verspricht, auf die jüngeren Generationen zu hören.
Frankreich hat in einer globalisierten Welt den exklusiven Zugang zu seinen ehemaligen Kolonien längst verloren. Um Rohstoffe konkurriert die ehemalige Kolonialmacht mit den USA, Japan, den Türken, den Russen und selbstverständlich mit den Chinesen. Frankreich eilt auch längst nicht mehr zu Hilfe, wenn ein Putsch droht. Es kann nicht mehr viel ausrichten in seinem ehemaligen «Hinterhof».
Es fehlt längst an Akzeptanz dafür in den jeweiligen Ländern, in der internationalen Gemeinschaft und letztlich auch in Frankreich selber. Das so entstandene Machtvakuum machte Platz für andere, die russischen Wagner-Truppen zum Beispiel, die keinen Anspruch darauf haben, für politische Ordnung zu sorgen. Und es weckt, wie man nun sieht, Gelüste der nationalen Militärs.
Frankreich wird von der Geschichte eingeholt
Der Sturz der beiden Regierungen in Gabon und Niger sind Putsch Nummer sieben und acht in ehemaligen französischen Kolonien in etwas mehr als drei Jahren. Immer war es das Militär, das sich der Regierung entledigte.
So unterschiedlich die Länder sind, eine Gemeinsamkeit haben die Putschisten: Sie machen Frankreich für das Elend in ihren Ländern verantwortlich und benutzen ein Zerrbild der ehemaligen Kolonialmacht, um ihre eigene Macht zu legitimieren. Frankreich ist in ihren Augen schuld daran, dass ein grosser Teil der Sahel- und Subsahara-Länder, die einst unter Frankreichs Schutzschirm standen, die hintersten Ränge vieler Länderlisten nicht verlassen können. Dass es keine Jobs gibt, keine Schulen, keine Spitäler und keine Sicherheit vor islamistischen Banden. Frankreich ist der Sündenbock. Die Putschisten streuen teilweise gezielt Gerüchte, um dieses Image zu bewirtschaften. Aktiv ist auch die russische Propaganda. So wird Frankreich in Niger vorgeworfen, mit den Islamisten zu kooperieren, um das Land zu schwächen und wieder an sich zu binden.
Das ist eine dreiste Lüge. Doch muss sich eine ehemalige Kolonialmacht fragen, wie es so weit kommen konnte. Schliesslich war es Frankreich, das 2013 Mali zu Hilfe eilte, um Timbuktu, eine der ältesten Städte Afrikas, vor der Zerstörung durch die Islamisten zu bewahren. Seither hat Frankreich Milliarden investiert, um islamistische Gruppierungen in der Weite des Sahel zu bekämpfen. Statt Dank erntet Paris aber den Rauswurf seiner Truppen aus Mali, aus Burkina Faso und vermutlich bald aus Niger.
Frankreich trägt eine Mitschuld
Wer in Frankreich versucht, den Tatsachen ins Auge zu blicken, könnte erkennen, dass Frankreich auch selber eine Schuld trägt, dass es nun am Pranger steht.
Paris hat in den letzten zwei Jahrzehnten keine konzise Afrikapolitik verfolgt. Zu oft wurde ein Neuanfang beschworen, vor allem während Wahlkämpfen, und versprochen, mit der Françafrique aufzuräumen. Und dann wurde die ehemalige Kolonialmacht regelmässig von der Fratze der Realpolitik eingeholt.
Der französische Afrikaexperte Antoine Glaser nennt es die afrikanische Falle, in die auch Macron dutzendfach getappt ist. Wie seine Vorgänger pocht der Präsident auf afrikanische Eigenständigkeit und die Unabhängigkeit der ehemaligen Kolonien und mischt sich dann doch wieder paternalistisch ein, wenn auch mehr mit Worten als mit Taten.
Das hat man auf dem afrikanischen Kontinent selbstverständlich registriert. Von afrikanischen Langzeitherrschern wurden die Franzosen auch mehrfach vorgeführt.
Zudem sind sich die Franzosen nie ganz einig darüber, ob diese Françafrique jetzt tot sei oder man immer noch daran sei, sie zu bekämpfen. Selbst in Macrons Kabinett gibt es verschiedene Interpretationen: Macron sah das Monster offenbar vor wenigen Jahren noch vor sich, wie man Wahlkampfaussagen aus dem Jahr 2017 entnehmen kann. Seine Aussenministerin sagte dagegen kürzlich in einem Interview, die Françafrique sei schon lange tot. Was ist sie nun?
Widersprüchliches Auftreten
Frankreich tritt in dieser Widersprüchlichkeit auf dem afrikanischen Kontinent auf, der für Frankreich so viel mehr ist als eine ehemalige Kolonie. Die Kolonien und später die Einflusssphäre im «Hinterhof» bekräftigten Frankreich in seinem Selbstbild, eine Grossmacht zu sein. Frankreich ist bis heute nicht bereit, sich in die Reihe der anderen europäischen Länder einzufügen. Frankreich will eine Nation sein, die international Einfluss hat, dafür braucht es Afrika.
Paris bewirtschaftet dazu trotz allen Versprechen, sich zurückzuhalten und die Afrikapolitik neu zu gestalten, seine jahrzehntealten Netzwerke. Nach wie vor sind die ehemaligen afrikanischen Kolonien wichtige Absatzmärkte für französische Produkte. Und selbstverständlich ist Frankreich weiterhin an dem interessiert, was alle aus Afrika beziehen wollen: Rohstoffe.
Diese Netzwerke gingen schon immer weit übers Militärische und Wirtschaftliche hinaus. So ist das auch heute: Frankreich ist nach wie vor die Anführerin der Frankofonie, dominiert Medien und ist der kulturelle Referenzpunkt für die französischsprachige Welt. Zudem wird auch heute noch ein grosser Teil der französischsprachigen afrikanischen Elite in Frankreich ausgebildet. So bindet Frankreich diese an sich.
Frankreich braucht Afrika, um gross zu sein oder sich zumindest grösser zu fühlen, als es ist. So wird das Monster als Zombie weiter bewirtschaftet. Doch zu welchem Preis? Diesen zahlt nicht in erster Linie die französische Gesellschaft, sondern die Bevölkerung in Staaten wie Niger und Gabon, die sich von antifranzösischen Ressentiments aufwiegeln lässt.
Die Afrikaner, die die Putschisten unterstützen, wollen das französische Politikmonster nun selber töten, zumindest in ihrer Darstellung. In Tat und Wahrheit geht es aber auch in Afrika nicht um Geschichte und Vergangenheitsbewältigung, sondern um Einfluss und Macht. Die Generäle mit ihren Truppen, teilweise von den Franzosen ausgebildet und bewaffnet, sichern sich ihr Stück vom afrikanischen Kuchen. Es hindert sie niemand mehr daran. Schon gar nicht die Franzosen.