Beitrag vom 18.10.2023
welt.de
KIELER FORSCHER ZUR FLÜCHTLINGSDEBATTE
„Entwicklungshilfe ist für irreguläre Migration nicht die Lösung“
Von Jörn Lauterbach
Mehr Geld aus Deutschland und der EU für die ärmsten Länder, damit die Menschen dort für sich eine Zukunft sehen – dieser allgegenwärtige Politikansatz ist ein Mythos, sagen jetzt Forscher des Kieler Instituts für Weltwirtschaft. Stattdessen sei ein Blick auf die Fakten wichtig.
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Bei allen Streitigkeiten rund um die richtige Migrationspolitik ist ein Baustein quer durch alle Parteien so gut wie unumstritten: Gezielte Entwicklungshilfe in den Herkunftsländern hilft dabei, den Flüchtlingsdruck zu reduzieren. Das Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (BMZ) hat deswegen allein im Jahr 2020 rund 5,5 Milliarden Euro für Fluchtursachenminderung und die Unterstützung von Flüchtlingen, Binnenvertriebenen und aufnehmenden Gemeinden bereitgestellt.
„Ein großer Teil der Mittel wurde für die klassische bilaterale, multilaterale und nichtstaatliche Entwicklungszusammenarbeit verwendet“, heißt es auf der Internetseite des Ministeriums. Forscherinnen und Forscher des Kieler Instituts für Weltwirtschaft (IfW) kommen in einer aktuellen Studie allerdings zu ganz anderen als den von der Politik erhofften Schlüssen: „Entwicklungshilfe ist weitgehend ineffektiv bei der Reduzierung irregulärer Migration“, heißt es da.
Entwicklungshilfe könne die Zahl der Asylsuchenden nur vorübergehend senken – „und in den instabilsten Ländern wirkt sie zu diesem Zweck überhaupt nicht“, lautet die Bilanz. Im Laufe der Zeit führe Entwicklungshilfe vielmehr zu einem Anstieg regulärer Migration. „Da die Flüchtlingszahlen stark steigen, stehen europäische und amerikanische Politikschaffende unter Druck, Lösungen zu finden, um die Zahl der Flüchtlinge und anderer Asylsuchender zu begrenzen. Fast täglich werden neue Vorschläge zur Eindämmung irregulärer Migration diskutiert. Ob sie wirksam sind, ist oft unklar, da Belege fehlen“, sagt dazu Moritz Schularick, Präsident des IfW Kiel. „Aus diesem Grund haben unsere Forscher den Einfluss von Entwicklungshilfe auf Migration mit neuen und außergewöhnlich detaillierten Daten erneut untersucht – und dabei eine der sehr häufig in der Politik vertretenen Annahmen widerlegt.“
Zum Vorgehen: Die Studie verwendet nach Angaben des Instituts national repräsentative Umfragen des Gallup World Poll. Diese decken demnach fast eine Million Menschen in 106 Ländern ab und wurden anschließend mit regional zugeordneten Daten zur Zuweisung von Weltbank-Hilfsprojekten zwischen 2008 und 2019 verbunden. Auswirkungen von Entwicklungshilfe ließen sich so einzeln mit Blick auf verschiedene Aspekte der Migration auswerten, etwa auf die Gründe für Migration und auf die Fähigkeit, eine Ausreise auch umzusetzen.
Die Forscher kommen zu dem Ergebnis, dass Entwicklungshilfeprojekte allenfalls kurzzeitig zu einer Verringerung von Migration führenb. Weltweit senkten die Hilfszahlungen zwar die Migration von Asylsuchenden. Aber: „Im Falle eines durchschnittlichen Herkunftslands und der durchschnittlichen jährlichen Entwicklungshilfezahlung von 130 Millionen US-Dollar finden wir in den folgenden zwei Jahren eine Reduktion der Zahl der Asyl-Erstanträge um je 8 Prozent. Dieser dämpfende Effekt verschwindet jedoch bereits nach zwei Jahren. Darüber hinaus ist die Entwicklungshilfe in Subsahara-Afrika zu diesem Zweck unwirksam und senkt die Zahl der Asylsuchenden gar nicht“, heißt es in der Studie.
Längerfristig betrachtet könne Entwicklungshilfe, sofern sie wichtige Migrationsursachen wie den Lebensstandard und das Einkommen der Menschen tatsächlich erhöhe, Migrationsmöglichkeiten sogar vergrößern, „da mehr Menschen die damit verbundenen Kosten tragen können.“ Diese kämen dann nicht zwingend als Asylsuchende; stattdessen nehme zwei bis drei Jahre nach den Zahlungen die reguläre Migration zu, da mehr Menschen sicher, mit Arbeitsvisum, fürs Studium oder die Familienzusammenführung migrieren können. Das Fazit: „Die Wirkung der Entwicklungshilfe gegen irreguläre Migration ist nicht das Allheilmittel, wie es politische Entscheidungsträger oft darstellen oder sich erhoffen, und sollte nicht überschätzt werden.“
„Das Problem ist komplex – und erfordert daher einen umfassenden, mehrschichtigen Ansatz“, sagt auch Tobias Heidland, Leiter des Forschungszentrums „Internationale Entwicklung“ und Mitautor der Studie. „Man kann versuchen, irreguläre Migration mit Entwicklungshilfe einzudämmen, aber man muss realistisch hinsichtlich der Wirksamkeit sein. Entwicklungshilfe ist nicht die Lösung. Zäune zu bauen und Grenzen zu überwachen wird irreguläre Migration ebenfalls nicht vollständig stoppen – insbesondere angesichts der Situation am Mittelmeer.“
Seine Schlussfolgerung lautet vielmehr: „Wir müssen mehr Flüchtlingsschutz in der Nähe von Konfliktzonen bieten und gleichzeitig die Anreize für irreguläre Migration senken.“ Stattdessen sollten die Europäischen Länder mehr legale Kanäle öffnen. Nötig sei ein Bewusstsein für evidenzbasierte Politik „mit kosteneffektiven, kombinierten Ansätzen, um eine maximale Wirkung zu erzielen, anstatt Werkzeuge isoliert einzusetzen.“
Damit ist aber kein Votum für eine Reduzierung der Entwicklungshilfe verbunden, denn deren primäres Ziel sei die Förderung nachhaltiger Entwicklung und die Reduzierung der Armut in den Empfängerländern – unabhängig von indirekten Auswirkungen auf die Migration. Aber, so Heidland: „Wenn sie auch irreguläre Migration bremst, indem sie einige der Ursachen der Migration reduziert, ist das großartig, aber es sollte nicht das Hauptmotiv für Entwicklungshilfe sein.“