Beitrag vom 03.11.2023
NZZ
Der Fluch des Erdöls
Nigeria verliert einen grossen Teil seines Erdöls durch Diebstahl. Noch schlimmer: Das Delta des Nigers wird durch all die lecken Pipelines und minderwertigen Raffinerien verpestet. Ausgerechnet ein ehemaliger Rebellenführer soll jetzt das illegale Milliardengeschäft stoppen – gegen entsprechende Bezahlung.
VON Samuel Misteli
1. Der General
Der Mann, den sie den General nennen, rollt in seinem Pick-up den Strand entlang – links das Meer, rechts Palmenwald, auf dem Beifahrersitz ein Soldat mit Kalaschnikow. Vor der Küste treiben Ölplattformen, der General kann sie benennen: «Diese da ist von Shell, die dort von Chevron.» Um die Ölfirmen zu bekämpfen, verliess der General vor zwei Jahrzehnten die Schule. Die Konzerne saugten das Öl aus dem Boden und verdienten Millionen, die Bewohner des Nigerdeltas dagegen blieben arm. So sah er das. Und schloss sich den Rebellen an, die Ölarbeiter entführten und Pipelines sprengten, um die Ölfirmen zu erpressen. Er trieb Schutzgeld ein, wurde zum Kommandanten – dem General. Richtig heisst er Freedom Adowei, es ist ein passender Name für einen Widerstandskämpfer.
Nur dass der General kein Rebell mehr ist. Denn die Zeiten im Nigerdelta haben sich geändert.
Der Pick-up stoppt, der General steigt aus. Er stapft durch den Sand auf die Palmen zu und sieht Zerstörung. Schwarz verfaulte Baumteile zwischen Tümpeln mit rostbraunem Wasser verstreut. Ein beissend giftiger Dampf hängt in der Luft, er macht innert Sekunden Kopfschmerzen.
«Das war eine grosse Anlage», sagt der General, «jemand hat hier viel Geld verdient. Aber wir haben alles zerstört.» Bis vor kurzem stand hier eine illegale Ölraffinerie, ihre Betreiber destillierten Diesel aus Rohöl, das sie aus Pipelines gestohlen hatten. Die Raffinerie leckte und vergiftete Bäume und Boden. Ein paar rostige Metallplatten liegen noch da, Teile eines Ofens. Der General und seine Männer zerlegen solche Öfen gerade überall in der Gegend. «Schon mehr als 3000», sagt er.
Nigeria ist Afrikas grösste Volkswirtschaft – dank Erdöl. 1956 entdeckten Ingenieure von Shell erstmals Öl im Land, in den folgenden Jahrzehnten stieg Nigeria zu einem der wichtigsten Produzenten weltweit auf. Nigerias Öl kommt aus dem Nigerdelta, wo der Niger, einer der grossen Flüsse Afrikas, in unzählige mit Mangroven gesäumte Arme ausfranst und sich in den Atlantik ergiesst. Ein undurchdringliches Labyrinth, doppelt so gross wie die Schweiz, 30 Millionen Menschen leben hier.
Doch seit 1956 läuft vieles furchtbar schief. Der Elite spülte das Öl viele Milliarden Dollar auf die Bankkonten, den Fischern und Bauern im Delta blieb mit Benzol vergiftetes Trinkwasser. Viele starben an Krebs, die Lebenserwartung liegt bei knapp 50 Jahren.
Die Leute im Delta wehrten sich. Ende der 1990er Jahren griffen Tausende von jungen Männern zu den Waffen und gründeten mehrere Rebellengruppen. Sie kämpften gegen den Staat und die Ölkonzerne und dafür, dass die Region mehr Geld aus dem Ölgeschäft erhielt.
Viele gingen ins illegale Ölgeschäft. Sie zapften Pipelines an, stahlen das Öl, verkauften es weiter. Der Staat verlor die Kontrolle über das Nigerdelta, und er verlor jeden Tag Zehntausende Fass Öl. Ein Fünftel der gesamten Produktion, laut Schätzungen. 2022 förderte Nigeria offiziell nicht einmal halb so viel Erdöl wie noch zehn Jahre zuvor.
Für die nigerianische Regierung wurde das illegale Geschäft existenzbedrohend. Sie finanziert die Hälfte des Staatshaushalts aus den Öleinnahmen. In ihrer Ratlosigkeit wagte die Regierung eine verzweifelte Wette.
Im August 2022 schlug sie einem Rebellenführer ein verzweifeltes Geschäft vor: Der Warlord würde 110 Millionen Dollar erhalten. Dafür sollten seine Männer das illegale Ölgeschäft stoppen.
Einer dieser Männer ist Freedom Adowei, der General, er ist ein Weggefährte des Warlords. Er und Hunderte von ehemaligen Rebellen tragen keine Gewehre mehr, sie haben sich stattdessen Leuchtwesten übergezogen. Sie patrouillieren nun mit Funkgeräten und Booten in den Kanälen und den Mangroven. Sie beschlagnahmen Boote, halten Diebe fest, schweissen Öfen auseinander. «Wir arbeiten Tag und Nacht», sagt der General.
Nigerias Regierung hat aus Staatsfeinden Staatsangestellte gemacht, um ihren wichtigsten Wirtschaftszweig zu retten. Kann das gutgehen?
2. Die Firma
Als die Rebellen noch eine Guerillaorganisation waren, hiessen sie Movement for the Emancipation of the Niger Delta (Bewegung für die Emanzipation des Nigerdeltas, MEND). Nun sind sie eine Sicherheitsfirma, sie heisst Tantita. Den Hauptsitz hat sie in Warri, einer von vielen wuchernden Millionenstädten in Nigeria. Der Tantita-Hauptsitz im Zentrum sieht aus, als ob man sich nicht hätte entscheiden können, ob man eine Villa oder eine Festung bauen solle: hohe Mauern, ein Säulenportal, Rundtürme, alles unverputzt. Im Innern hängen Überwachungskameras an blau gestrichenen Wänden, sie filmen Mitarbeiter in schwarzblauen Hemden. Schwarzblau wie Rohöl, es ist die Farbe von Tantita.
Auch Emmanuel Jakpa trägt Blau, er ist der Chefjurist von Tantita. Er war nie bei den Rebellen, er arbeitete als selbständiger Anwalt. Aber bei Tantita braucht es nicht nur die Leute mit den Walkie-Talkies auf den Flüssen, sondern auch die mit den Laptops im Büro.
Jakpa öffnet auf seinem Computer einen der Berichte, die er nun jeden Monat an das Erdölministerium in der Hauptstadt Abuja schickt. Er sagt: «Das illegale Ölgeschäft war wie Krebs, es metastasierte überall.»
Er scrollt durch den Bericht, es ist eine Erfolgsbilanz. Fotos von illegalen Raffinerien, von Tantita-Mitarbeitern, die angezapfte Pipelines betrachten, von ertappten Öldieben. Gegen Ende eine Tabelle mit den Erfolgszahlen: demontierte Raffinerien, zerstörte Boote, Liter sichergestelltes Rohöl. Jakpa sagt: «Die illegalen Raffinerien sind zu, wir sehen es sogar auf Satellitenbildern.»
Es genügt tatsächlich, Google Maps zu öffnen, um eine Vorstellung davon zu erhalten, wie gross das illegale Ölgeschäft war. Überall im Nigerdelta sind über das Dunkelgrün der Mangroven und Palmen schwarze Flecken gesprenkelt: ausgelaufenes Öl. Es läuft nicht nur aus illegalen Öfen und angezapften Pipelines, sondern auch aus altersschwachen Röhren und Bohrlochköpfen, die die Ölfirmen nicht ersetzt haben. Allein zwischen 2006 und 2019 lief bei fast 8000 Lecks Öl aus.
Aber auch von den illegalen Raffinerien gibt es Tausende, sie sind mal besser versteckt, mal weniger gut. Emmanuel Jakpa sagt, das Geschäft habe einst im Geheimen stattgefunden, sei aber immer weiter gewachsen und schliesslich offen gewesen. Die Regierung konnte wenig tun, das Delta war feindliches Gebiet, voll mit Rebellen und Kriminellen. Und die Soldaten, die sie in die Kanäle schickte, waren käuflich.
Jakpa misst den Erfolg von Tantita an der Menge Rohöl, die Nigeria jeden Monat fördert. Je höher die offizielle Produktion, desto weniger gehe durch Diebstahl verloren. Die Fördermenge stieg in den sechs Monaten nachdem Tantita die Arbeit aufgenommen hatte, um fast 50 Prozent. Dann sackte sie wegen eines Streiks wieder zusammen. Jakpa ist trotzdem siegessicher.
Er spricht viel von Technologie, wenn er erklärt, weshalb die früheren Rebellen erfolgreich seien. Von Satellitenaufnahmen, von Drohnen, von denen sie ein Dutzend hätten. Nach dem Gespräch zeigt er eine, die gerade eingetroffen ist.
Ist es tatsächlich so einfach? Man stattet eine ehemalige Rebellengruppe mit ein paar Millionen Dollar aus, diese kaufen Drohnen und Walkie-Talkies und stoppen innerhalb von wenigen Monaten das Milliardengeschäft des illegalen Ölhandels?
Was sicher ist: Wichtiger als die Drohnen sind die Mitarbeiter, das heisst die früheren Rebellen. Emmanuel Jakpa beschreibt sie als «Leute mit hohem Level an lokalem Wissen». Man könnte es auch direkter formulieren: Die Mitarbeiter von Tantita können den Öldiebstahl stoppen, weil sie die Diebe kennen. Und oft selber welche waren. Der General zum Beispiel sagt, er habe keine Pipelines angezapft. Aber er habe Schutzgeld erhalten von den Öldieben, dafür, dass er und seine Männer das Geschäft in Ruhe liessen.
Tantitas Chef heisst Tompolo. Das ist sein «nom de guerre». Tompolo ist vermutlich der mächtigste Warlord in einer Gegend, in der es mehrere mächtige Warlords gibt. Das brachte ihn zuerst auf die Liste der meistgesuchten Kriminellen Nigerias. Dann brachte es ihn auf die Lohnliste des Staates.
Tompolo, 52, ist ein Phantom. Er gibt kaum je Interviews. Er kommt selten nach Warri, meist bleibt er in seinem Dorf draussen am Wasser. Aber es gibt Fotos, sie zeigen einen ernsten Mann mit Baseballmütze. Anfang der nuller Jahre stieg er zum Kommandanten der Organisation auf, die als MEND bekannt wurde. Er führte Tausende von jungen Männern an, die Pipelines sabotierten, Mitarbeiter von Ölfirmen entführten, Soldaten attackierten. Sie sahen sich als Freiheitskämpfer, der Staat sah sie als Verbrecher, die die Wirtschaft des Landes abwürgten. 2009 gewährte die Regierung Amnestie, um die eingebrochene Erdölproduktion nicht weiter zu gefährden. 30 000 Rebellen gaben in den folgenden Jahren ihre Waffen ab, sie erhielten im Gegenzug ein monatliches Stipendium. Auch Tompolo erhielt Amnestie, er wurde vom Warlord zum Powerbroker.
Jene, die Tompolo kennen, sprechen über ihn, als wäre er der Messias. «Ein integrer Mann» sei er, sagt ein Umweltschützer in Warri, «hoch respektiert von seiner Gemeinschaft». Ein geborener Anführer, leidenschaftlich und empathisch, sagt ein Tantita-Mitarbeiter. Tompolo reisse alle mit, sagt der General, nur wegen Tompolo sei er bei Tantita.
Tompolos richtiger Name ist so ungewöhnlich wie sein «nom de guerre»: Government Ekpemupolo, er trägt die Regierung schon im Namen. Der Tantita-Anwalt Emmanuel Jakpa sagt: «Government – das war eine Prophezeiung.» In den Mangrovensümpfen des Nigerdeltas ist Tompolo mächtiger als der nigerianische Staat.
Deshalb sind sich viele einig: Der Einzige, der den Öldiebstahl stoppen kann, ist Tompolo. Das glaubt offenbar auch Nigerias Regierung. Vordergründig hat sie eine Sicherheitsfirma engagiert, tatsächlich bezahlt sie ehemalige Kriminelle dafür, Polizei zu spielen. Es ist eine der gewagteren Public-private-Partnerschaften der Geschichte.
In einem seiner seltenen Interviews sagte Tompolo vor einem Jahr: «Wir tun es, um unser Land vor dem Kollaps zu bewahren.»
Die Frage ist, ob er mächtig genug ist.
3. Der Öldieb
Noah, der Öldieb, ist ein dürrer Mann mit heiserer Stimme, und er ist wütend. Er kommt vom Hafen in Warri zum Treffen in einer Hotelbar, er verbringt die Tage gerade damit, mit anderen arbeitslosen Öldieben Scrabble zu spielen. Für ihn ist Tompolo kein Messias, er sagt: «Tompolo hat sein Handwerk vom Teufel gelernt.»
Noah sagt: «Als das Geschäft lief, waren alle glücklich, meine Mutter, mein Vater, wirklich alle. Wir nahmen das Öl und schöpften es wie mit Löffeln, wir machten gutes Geld.» Doch jetzt gebe es keine Arbeit mehr, Tantita habe Hunderte von Booten beschlagnahmt. Sie verdienten kaum noch genug, um sich Trinkwasser zu kaufen.
«Als die Regierung einfach die Armee und die Polizei schickte, war es anders», sagt er. «Du gabst ihnen ein wenig Geld, sie liessen dich in Ruhe. Aber jetzt geht das nicht mehr. Wir leiden – wegen Tantita.»
Noah besass zwei Boote. Er kaufte Diesel von illegalen Raffinerien in den Mangroven, transportierte es mit seinen Booten aufs offene Meer. Dort warteten seine Kunden mit grösseren Schiffen. Sie pumpten den Treibstoff auf ihre Boote, um ihn weiterzuschmuggeln. Nigerias illegales Ölgeschäft ist an die internationale organisierte Kriminalität angedockt. Noah sagt, seine Kunden seien Nigerianer gewesen, andere Afrikaner, auch Weisse. «Wir fragten nicht nach dem Namen der Länder, ich weiss nur, dass sie meine Kunden waren.»
Noah sagt, mehr als 20 Leute hätten für ihn gearbeitet, wenn ein Transport anstand. Er sagt, er habe ihnen umgerechnet über 200 Franken für einen Tag Arbeit bezahlt. Ein guter Lohn. Noah sagt, an manchen Tagen seien ihm mehr als 5000 Franken geblieben – nachdem er die Arbeiter bezahlt und die Sicherheitskräfte bestochen hatte.
Noah ist keine grosse Figur im illegalen Geschäft, in der legalen Wirtschaft wäre er ein Kleinunternehmer. Es gibt viele wie ihn, und das zeigt das Ausmass des Öldiebstahls. In den Dörfern draussen in den Kanälen sagen manche, jeder Dritte sei am illegalen Geschäft beteiligt. Andere sagen, jeder zweite. Und wer nicht direkt beteiligt ist, ist es indirekt: weil einem zum Beispiel ein Öldieb den Fisch abkauft, den man gefangen hat. Viele sprechen schlicht von der «Arbeit», wenn sie den illegalen Ölhandel erklären. Niemand sieht ein moralisches Problem. Es ist eine der wenigen Arten, in einer Region zu überleben, in der die Mehrheit der Jungen keine oder kaum Arbeit hat.
«Tausende sind wütend auf Tantita», sagt Noah, «Männer, Frauen, du kannst sie nicht zählen». Er liess sich gerade ein Haus bauen, als Tantita ihm seine Boote nahm und sein Einkommen wegbrach. Nun ist der Bau gestoppt, und er sagt, er könne die Schulgebühren für seine Kinder nicht mehr bezahlen. Er ist längst nicht der Einzige. Er sagt, andere Öldiebe würden ihre Autos verkaufen, um zu Geld zu kommen. Manchen hätten die Banken die Häuser beschlagnahmt.
Bei Tantita wissen sie, dass Zehntausende Menschen vom Öl abhängig sind. Emmanuel Jakpa, der Chefjurist, spricht deshalb nicht nur über Drohnen und über seine Mitarbeiter mit hohem Level an lokalem Wissen. Er spricht auch über: Wohlfahrtsstaaten.
Jakpa beziffert die Zahl der Tantita-Angestellten auf 17 000. Sie ist so hoch, weil er alle dazurechnet, die je Geld von Tantita erhalten haben. Er sagt: «Am Anfang sagten die Skeptiker, Tantita sei einfach ein Job, um die Boys bei Laune zu halten. Aber wir haben ein soziales Sicherheitsnetz nach europäischem Vorbild geschaffen.» Sie würden zum Beispiel auch Frauen bezahlen, die sonst kein Geld verdienten. Das heisst, ihnen eine Art bedingungsloses Grundeinkommen verschaffen.
Die grosse Wette ist auch ein Sozialexperiment. Tantita und Tompolo sind nicht nur die Polizei im Delta, sie sind auch das Sozialamt. Sie versuchen, einen Staat zu schaffen, wo Nigerias Regierung versagt hat. Nigerias Regierung hat ihnen die Lizenz dazu gegeben. Ein Stück weit haben die Rebellen gewonnen, die für die Autonomie des Nigerdeltas kämpften.
Das Problem: die Dimension. In der Region leben 30 Millionen Menschen, mehr als dreimal so viele wie in der Schweiz. Tompolo hat 110 Millionen, um einen Staat zu bauen. Die Stadt Zürich gibt allein für ein neues Schulhaus das Doppelte aus.
Ein NGO-Mitarbeiter in Warri sagt: «Tompolo kann vielleicht an zehn Prozent der Leute Geld verteilen. Was ist mit den anderen 90 Prozent?»
Noah, der Öldieb, der jetzt im Hafen von Warri Scrabble spielt, sagt: «Ich habe meinen Arbeitern an einem Tag bezahlt, was Tantita ihren Leuten in einem Monat bezahlt. Und Tantita zahlt nicht einmal jeden Monat.»
4. Die Frauen
Wie das Sozialexperiment Tantita funktioniert, lässt sich draussen in den Kanälen beobachten. In der Welt am Wasser, wo überall metallene Bohrköpfe wie metallene Blüten aus dem Wasser ragen. Das Öl hat ein grünes Paradies in eine schwarzbesudelte Hölle verwandelt. Bei Tantita behaupten sie, die Hölle sei inzwischen wieder ein Paradies. «Die Garnelen springen aus dem Wasser», sagt einer in der Zentrale, «die Mangroven wachsen, und die Fische kehren zurück.»
Tatsächlich ist in den Kanälen bei Warri einiges anders geworden. Boote, die Öl schmuggelten, transportieren jetzt Holz. Bewohner, die in Kanus fischen, sagen, die Verschmutzung sei weniger geworden. Soldaten auf Kanonenbooten haben die Läufe ihrer Maschinengewehre mit Schutzhüllen überzogen, weil Ruhe eingekehrt ist. Sie winken.
Mindestens ein Stück Hölle ist noch übrig. Das Dorf Ekpogbene besteht aus ein paar wenigen Hütten, sie stehen auf ölgeschwärztem Grund, manche auf Pfählen, die das Öl zu verschlingen scheint. Manche baufällige Hütten brechen ins Wasser. Es war ein Dorf von Öldieben, Leute aus der Umgebung kamen hierher, um das Öl zu raffinieren. Nun leben keine 20 Personen mehr in den Hütten.
«Sie haben uns keine Arbeit gegeben, nichts, zero», sagt Helen Couple, die mit zwei anderen Frauen auf einem Steg steht. Denn das war die Erwartung hier: Wenn Tompolos Leute Geld erhalten, um das Ölgeschäft zu stoppen, sollen sie das Geld teilen. Doch das passiert offensichtlich nicht überall.
Helen Couple und die anderen Verbliebenen überleben, indem sie Fische verkaufen, für eine Handvoll Naira pro Woche, das ist Nigerias Währung. Doch sie sagen, das Geld reiche nicht einmal mehr, um die Schulgebühren der Kinder zu bezahlen.
Die Schuldigen sind in Sichtweite: Am anderen Ufer des Kanals, zweihundert Meter entfernt, dümpelt ein Boot von Tantita.
Den Frauen bleibt ein kleiner Trost. Auch den Mitarbeitern von Tantita am anderen Ufer geht es nicht viel besser als ihnen. Helen Couple sagt: «Sogar die kaufen den Fisch auf Kredit.»
Vielleicht gelingt es tatsächlich, den Öldiebstahl zu stoppen und die Natur zu heilen. Die offiziellen Fördermengen steigen, das Delta sieht an vielen Orten nicht mehr wie die Hölle aus, an manchen gar wie das Paradies. Aber im Paradies hungert man nicht.
Wenn das Tantita-Geld irgendwo ankommen sollte, dann in Oporoza, zwanzig Minuten entfernt vom Dorf der Öldiebe. Es ist das Herz von Tompolos Reich, er kommt einmal pro Woche hierher, um in einem Tempel zu beten, auf dessen Dach eine riesige Krone installiert ist. 5000 Leute leben in Oporoza. Es hat ein paar mehrstöckige Häuser und eine geteerte Strasse, das ist mehr als in den meisten Dörfern am Wasser. Im Hafen liegen mehrere Dutzend Boote, die Tantita von Öldieben beschlagnahmt hat.
«Tantita gibt der Gemeinde neuen Schub, viele Leute arbeiten dank der Firma», sagt Ekomieyefa Uduboh, der Tantita-Chef im Dorf. Er trägt ein Trikot von Manchester United, ist umringt von jungen Männern, es ist die Belegschaft. Rund 500 Leute im Dorf seien bei Tantita beschäftigt, sagt Uduboh.
Tatsächlich kommt hier Geld an. Ein junger Mann neben der Teerstrasse sagt, er verdiene 150 000 Naira im Monat, 180 Franken. Fast jeden Monat wird er bezahlt. Er sagt, seine Arbeit bestehe darin, einen Generator anzuwerfen und ihn zu bewachen.
Weiter vorne im Dorf liegen die Hütten der Fischerinnen, dort klingt es anders. Vero Aluzu zum Beispiel wohnt in einer Hütte auf Stelzen am Wasser. Die Hütte hat keine Wände, aber zwischen die Stelzen ist ein Transparent mit dem Gesicht von Tompolo gespannt: «Hoher Chief und Held» steht darauf.
Vero Aluzu ist um die 70, sie hat 10 Kinder, sie sagt: Bis vor kurzem sei das Wasser voller Öl gewesen, man habe kaum atmen können, weil die Buschraffinerien giftige Partikel in die Luft trieben. Nun sei die Luft reiner, die Fischernetze nicht mehr verschmutzt vom Öl. Der Fisch aber immer noch spärlich.
Die saubere Luft kann Vero Aluzu nicht essen. Dafür sollte das Geld von Tantita helfen, doch Aluzu hat nur ein einziges Mal Geld erhalten. Im November, 100 000 Naira in bar, 120 Franken. Sie kaufte sich Maniokknollen damit, «doch bevor ich es wusste, war das Geld zu Ende».
Eine andere Fischerin sitzt auf einem Boot am Wasser. Ebiye Ajama ist 41, sie hat sieben Kinder. Sie sagt: «Das Leben ist hart, wir haben kein Essen und keine Arbeit. Wir leiden.» Ebiye Ajama hat noch nie Geld erhalten von Tantita. Sie würde gerne fragen gehen beim Häuschen am Hafen, wo der Chef und die jungen Männer sich versammeln. Doch sie sagt, sie getraue sich nicht.
110 Millionen Dollar für Tompolo – doch sie reichen nicht einmal in seinem eigenen Reich. Ebiye Ajama sagt trotzdem: «Tompolo ist ein guter Mann.» Denn präsenter als der nigerianische Staat ist er trotz allem.
5. Und nun?
Vielleicht überschätzen sich im Nigerdelta gerade viele: Tompolo, weil er nicht der Messias ist, für den ihn viele halten, sondern ein Lokalfürst, dessen Macht und Mittel begrenzt sind. Der Anwalt Emmanuel Jakpa, weil Tantita kein europäischer Wohlfahrtsstaat ist, sondern ein ziemlich gewöhnlicher nigerianischer Arbeitgeber: häufig klamm, wankelmütig bei Lohnzahlungen, pleitegefährdet. Die nigerianische Regierung, weil ihr verzweifelter Versuch, mit 110 Millionen Dollar eine verlorene Region zurückzuholen, von Anfang an viel zu optimistisch war.
Doch das Experiment geht weiter. Nigeria hat eine neue Regierung. Sie hat es sich mehrere Monate überlegt und dann entschieden: Tompolo und Tantita erhalten einen neuen Vertrag, diesmal für drei Jahre. Noch ist unklar, wie viel Geld fliessen wird.
Tantita hat einiges erreicht: In Tompolos Reich sind der Diebstahl und die Verschmutzung zurückgegangen. Doch Tompolos Reich ist nur ein Teil des Deltas. Andernorts destillieren Öldiebe ungestört Diesel aus Rohöl im Wald. Und aus angezapften Pipelines rinnt Öl ins Wasser.
110 Millionen Dollar reichen nicht, um eine Gegend mit 30 Millionen Menschen dauerhaft zu befrieden, die Nigerias Regierung während Jahrzehnten gleichzeitig als Schatztruhe und Müllhalde behandelt hat. In der Strassen und Schulen fehlen und die einzige grosse Industrie kaum Verwendung für lokale Arbeitskräfte hat. 110 Millionen Dollar sind weniger, als die Sanierung eines Gymnasiums in der Schweiz kosten kann.
Nigeria hat 2022 45,6 Milliarden Dollar eingenommen mit dem Verkauf von Rohöl. Gleichzeitig verliert das Land laut Nigerias Antikorruptionsbehörde jährlich 18 Milliarden Dollar durch Korruption. Auch Tompolos neuer Vertrag wird einen kleinen Bruchteil dieser Summe enthalten.
Was, wenn das Geld weiterhin nicht mehr als ein paar tausend Menschen erreicht? Und dereinst vielleicht gar kein Geld mehr fliesst?
«Sobald Tantita fertig ist, rufe ich all meine Boys, ich borge mir Geld und starte das Business neu», sagt Noah, der Öldieb. Er ist bereit. Und mit ihm Tausende andere.
Möglich auch, dass aus den Staatsangestellten von Tantita wieder Staatsfeinde werden. Freedom Adowei zum Beispiel, der General. Auf der Rückfahrt vom Strand und von der demontierten Raffinerie kommt er an Gebäuden von Shell vorbei, sie sind mit Stacheldraht umzogen. «Schau dir den Compound an», sagt der General, «der ist piekfein. In unserem Dorf dagegen haben wir nichts.»