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Für eine andere Entwicklungspolitik!

Beitrag vom 24.12.2023

FAS

ENTWICKLUNGSZUSAMMENARBEIT

Deutsche Helfer in Not

Von Jochen Buchsteiner

Nirgendwo in Europa wird so viel Entwicklungshilfegeld ausgegeben wie in Berlin. Jetzt müssen 800 Millionen gespart werden. Nur ein Anfang?

Vor etwa zwanzig Jahren hatten Deutschlands Entwicklungshelfer ein Problem in Indien. Die Regierung in Delhi wollte sie nicht mehr. In den Zeitungen des Landes maßen sich die Inder in farbigen Statistiken mit dem erfolgreichen Nachbarn China, und voller Genugtuung nahmen sie zur Kenntnis, dass in Europa endlich Bücher über die „Wirtschaftsmacht Indien“ oder gar die „Weltmacht Indien“ erschienen. Entwicklungsgelder aus dem Westen wurden jetzt als erniedrigend empfunden; das böse Wort vom Postkolonialismus fiel. Lieber baute das moderne Indien eine eigene Entwicklungsagentur auf und trat selbst als „Geber“ auf. Bei deutschen Entwicklungshelfern herrschte Alarmstimmung.

Sie hätten dem selbstbewusst gewordenen „Partner“ natürlich ade sagen, die Mission beenden und viel Geld sparen können. Doch sie taten das Gegenteil. Sie verstärkten die Anstrengungen. Berater wurden angeheuert und dafür entlohnt, dass sie raffinierte Entwicklungsprojekte entwarfen, die vielleicht die Zustimmung der indischen Regierung erhalten könnten. Die Projektjäger suchten nach Lücken, sie gingen mit indischen Beamten essen, sie studierten Ansätze anderer Hilfsländer und loteten Kooperationen aus. Man könnte auch sagen: Sie suchten mit Kräften nach Möglichkeiten, das Geld aus Berlin weiter fließen zu lassen.

Damit waren sie erstaunlich erfolgreich. Indien ist heute „unser wichtigster Partner in der bilateralen Entwicklungszusammenarbeit“, wie der Parlamentarische Staatssekretär im Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit (BMZ), Niels Annen, im Gespräch mit der F.A.S. hervorhebt. Vieles wurde in den vergangenen zwei Dekaden umgeschichtet und neuen Moden angepasst. Es gibt weniger direkte Hilfen und mehr Kredite (zu günstigen Konditionen), „Empowerment“-Hilfen sind tendenziell „Nachhaltigkeitsprojekten“ gewichen. Aber im Kern bleibt es bei demselben Paradox: Deutschland greift einem Land finanziell unter die Arme, das ein eigenes Raumfahrtprogramm hat, eigene Atomwaffen produziert und als Mitglied der BRICS-Gruppe zunehmend kritisch auf die westliche Ordnung blickt.

Großer Abstand zu den europäischen Nachbarn

Kein europäisches Land gibt auch nur annähernd so viel Entwicklungshilfe für Indien aus. Deutschland machte im letzten Berechnungszeitraum laut OECD Gesamtzusagen von mehr als 1,2 Milliarden Euro. Frankreich wird dagegen mit etwas mehr als 300 Millionen Euro aufgeführt, Großbritannien mit 36 Millionen Euro. Ein ähnliches Bild zeigt sich in China, wo Deutschland die westlichen Geberstaaten ebenfalls weit hinter sich lässt. Allerorten wird das entwicklungspolitische Engagement überprüft, aber die Bundesregierung scheint sich davon nicht beeindrucken zu lassen. Auch wenn der Entwicklungshilfeetat des Bundesministeriums für wirtschaftliche Zusammenarbeit (BMZ) schrumpft – der deutsche Staat als Ganzes hat im vergangenen Jahr mehr Entwicklungshilfe in der Welt geleistet als je zuvor: 31,8 Milliarden Euro (laut jüngsten OECD-Zahlen).

Im BMZ, das von vielen weiterhin Entwicklungshilfeministerium genannt wird, begründet man den überraschenden Anstieg der Gesamtmittel in Zeiten knapper Kassen mit den Hilfen für die Ukraineflüchtlinge. Aber das erklärt nicht den eklatanten Abstand zu den europäischen Nachbarn. Deutschland ist die globale Entwicklungshilfe mehr als doppelt so viel wert wie Großbritannien oder Frankreich und mehr als fünfmal so viel wie Italien. In der Welt haben nur die wirtschaftlich ungleich stärkeren USA mehr ausgegeben (etwa 50 Milliarden Euro).

Als einzige große Industrienation (über-)erfüllt Deutschland das UN-Ziel, 0,7 Prozent des Bruttoinlandsprodukts für Entwicklungshilfe auszugeben. Diese Ausnahmestellung lässt sich nicht ohne die deutsche Geschichte verstehen. Jahrzehntelang sahen sich die Bundesregierungen in einer speziellen Verantwortung. Sie wurzelte in der Wiedergutmachungsidee, dass Deutschland nach den Menschheitsverbrechen im Zweiten Weltkrieg das Wohl der Welt mehren müsse. Zu Teilen wurde damit auch der Phantomschmerz überwunden, den der Verlust globalen Einflusses hinterlassen hatte. Moralische Supermacht war immerhin ein bisschen Supermacht.

Die Prämissen der Entwicklungshilfe gelten nur noch eingeschränkt

Doch das Konzept ist in Widerspruch zu den neuen geopolitischen Realitäten geraten. Jahrzehntelang fußte die Entwicklungshilfe auf zwei Prämissen. Die erste lautete: Der Süden ist, im Gegensatz zum Norden, arm und machtlos. Die zweite lautete: Entwicklungshilfe bringt etwas. Aus der ersten leitete sich die moralische Verpflichtung zur Hilfe ab, aus der zweiten deren Sinnhaftigkeit. Beide Prämissen gelten nur noch eingeschränkt.

Als die Entwicklungshilfe in den 1960er Jahren eingeführt wurde und bald ein eigenes Ministerium erhielt, erwirtschafteten Europa und die USA mehr als die Hälfte des Weltbruttosozialprodukts; heute ist es weniger als ein Drittel. Der Welthandel befand sich vor 60 Jahren zu mehr als zwei Dritteln in westlicher Hand; dieser Anteil ist nach WTO-Zahlen etwa auf die Hälfte gesunken. Der Aufholprozess früherer „Entwicklungsländer“ wurde zum Teil sträflich unterschätzt. Noch zu Beginn des Jahrhunderts musste Spott ertragen, wer China zutraute, zur Gewichtsklasse der G-7-Staaten aufzuschließen. Heute ist China die zweitgrößte Volkswirtschaft der Welt, viermal größer als die deutsche, während Indien auf Platz fünf geklettert ist (und die frühere Kolonialmacht Großbritannien abgehängt hat). Das bedeutet nicht, dass in diesen Riesenreichen Wohlfahrtsstaaten europäischer Prägung entstanden wären. Es gibt noch immer viel Armut, gerade in Indien. Aber diese Länder haben Regierungen, die für ihre Gesellschaften verantwortlich sind und keiner Hilfe mehr bedürfen.

Umgekehrt – und damit zusammenhängend – stehen die Länder des Westens vor wirtschaftlichen Herausforderungen, die sie seit Hunderten Jahren nicht mehr kannten. Vielerorts wird kaum noch Wachstum erzielt, in Deutschland gerade gar keines, während die überalterten Bevölkerungen die Kosten treiben. Obwohl (und auch weil) die Sozialsysteme gegensteuern, lässt sich der Trend abnehmenden Wohlstands in unseren Breitengraden schwer aufhalten.

„Es bringt im Mittel etwas, aber nicht viel“

Verändert hat sich auch die zweite Prämisse. Zweifel an der Wirksamkeit von Entwicklungshilfe sind mit der Zeit gewachsen, nicht geschrumpft. Tobias Heidland, Direktor für Internationale Entwicklung am Kieler Institut für Weltwirtschaft, fasst die jüngere Literatur in dem trockenen Satz zusammen: „Es bringt im Mittel etwas, aber nicht viel.“ In einigen Ländern und Sektoren hat Entwicklungshilfe Impulse gesetzt, aber die wahren Erfolgsmodelle basieren nicht auf Hilfen von außen, sondern auf Initiativen aus eigener Kraft. Ein herausragendes Beispiel ist Singapur, das nach der Unabhängigkeit in den 1960er Jahren ein malariageplagtes Sumpfgebiet war und nun schon seit geraumer Zeit dem Westen, trotz demokratischer Defizite, als Wirtschafts- und Bildungsnation den Rang abläuft. Zu verdanken haben die Singapurer ihren Aufstieg im Wesentlichen einem weitblickenden Regierungschef, Lee Kuan Yew, ihrem Arbeitsethos und dem geschickten Ausnutzen der Hochglobalisierungsphase.

Nur schwer lässt sich ein Land finden, dessen Entwicklungserfolg auf internationale Hilfe zurückzuführen ist. Gerade in Ländern Afrikas mehren sich warnende Stimmen, dass Zuwendungen von außen oft korrupte Regierungen belohnen und schlechte Strukturen zementieren. Vor allem die humanitäre Hilfe kennt das Dilemma: Nutzt sie am Ende den Falschen?

In Staaten wie Afghanistan und Syrien – nach Indien die beiden Hauptempfänger deutscher Entwicklungshilfe – wurde die Doktrin, Hilfen an politische Mindeststandards zu knüpfen, außer Kraft gesetzt. In vielen anderen Ländern ist sie schlicht gescheitert. Die Zahl der Demokratien sank in den vergangenen Jahrzehnten. Gleichzeitig haben konditionierte Hilfen auch im Sinne strategischer (Eigen-)Interessen wenig erreicht. China verfügt mit seinem merkantilistischen Ansatz, Entwicklungshilfen nicht an Werten auszurichten, sondern an gegenseitigem Nutzen, über engere Beziehungen mit vielen Ländern Afrikas als der Westen.

Realismus zwingt zum sparen

Die Ernüchterung nach sechzig Jahren Entwicklungshilfe stößt nun auf einen Haushaltsnotstand. Schon Ende November deutete Bundesfinanzminister Christian Lindner an, wohin die Reise in der Entwicklungszusammenarbeit geht: „Wir können gerne auf Platz eins bleiben, aber vielleicht lässt sich der Abstand zu Platz zwei reduzieren“, sagte er. In dieser Woche wurde dann bekannt, dass die Entwicklungshilfe im kommenden Jahr um weitere 800 Millionen Euro gekürzt wird: 400 Millionen im BMZ-Haushalt, jeweils weitere 200 Millionen aus den Etats des Auswärtigen Amtes und des Wirtschaftsministeriums. Damit rückt die Ampel stillschweigend von einem weiteren Irrtum ab. Im Koalitionsvertrag war noch festgehalten worden, dass für jeden Euro, der mehr für die Verteidigung ausgegeben werde, ein Euro für Entwicklungshilfe und Diplomatie draufgelegt werden müsse. Nun zwingt der Realismus dazu, für jeden Euro, der in die Rüstung gesteckt wird, gleich mehrere Euro auf der weichen Seite der Außenpolitik abzuzwacken. Damit ereilt die Entwicklungspolitik ein ähnliches Schicksal wie die Migrationspolitik, deren unrealistische Ausrichtung ebenfalls von der Regierung korrigiert werden musste.

Dabei könnte das nur der Anfang sein. Im Gespräch mit der F.A.S. verlangt der FDP-Politiker Wolfgang Kubicki viel weitreichendere Einsparungen. Kubicki, auch Vizepräsident des Bundestages, wirbt dafür, „die Projekte im Ausland vollständig auf den Prüfstand zu stellen und die Höhe deutscher Entwicklungshilfe auf durchschnittliches G-7-Niveau zu senken, was einen zweistelligen Milliardenbetrag einsparen würde“. Kubicki wünscht sich, dass das kostspielige Feld der Entwicklungshilfe als Ganzes neu vermessen wird und plädiert dafür, sie „als eigenständigen Bereich aufzulösen und dem Auswärtigen Amt zu unterstellen“. Das hatte die FDP schon oft gefordert, bis sie dann 2009 die Chance erhielt, mit Dirk Niebel einen eigenen Entwicklungshilfeminister zu stellen. Jetzt ist die Forderung wieder im Raum. Auch in der Union dreht sich der Wind. Noch im Sommer kritisierten CDU-Politiker die Kürzungen im BMZ-Haushalt, jetzt fordert Thorsten Frei, Geschäftsführer der Unionsfraktion im Bundestag, eine „Konzentration und Neupriorisierung“ in der Entwicklungspolitik. „Angesichts notwendiger Investitionen in die Bundeswehr müssen die Aktivitäten des BMZ in unseren 65 Partnerländern auf den Prüfstand“, sagt er dieser Zeitung.

Im BMZ sieht man Populismus und Kurzsichtigkeit am Werk. Staatssekretär Annen bezeichnet die Forderung nach einer Absenkung der Entwicklungshilfe auf G-7-Durchschnitt als „kontraproduktiv“. Deutschland habe sich zum 0,7-Prozent-Ziel verpflichtet, und der Bedarf an Entwicklungshilfe explodiere gerade wegen wachsender Krisen und des Klimawandels, sagt er. Seine Parteifreundin Svenja Schulze, die das BMZ als Ministerin führt, warnt gegenüber der F.A.S. vor einer „Schneckenhaus-Mentalität“, die für ein Industrieland wie Deutschland „gefährlich“ sei. Vor allem „den weltweiten Klimaschutz voranzubringen“ sei „gut investiertes Geld“, versichert sie und prophezeit, dass schon die bisherigen Kürzungen „nicht ohne Folgen bleiben für Deutschlands Einfluss in der Welt“. Als abschreckendes Beispiel gilt im Haus der Ministerin Großbritannien, das seine Zuwendungen erheblich eingeschränkt und die Entwicklungshilfe ins Außenministerium eingegliedert hat. Es sei deutlich geworden, dass Großbritannien in der Szene keine große Rolle mehr spiele, heißt es im BMZ. Aber besteht die besorgte Szene nicht überwiegend aus NGOs (und halbstaatlichen „Durchführungsorganisationen“), die von den Entwicklungsetats westlicher Hauptstädte leben – und aus den Vertretern der Empfängerländer?

„Ja, sind wir denn irre?“

Kubicki beklagt nicht nur Verschwendung und staatliche Alimentierung einer Helferindustrie, sondern ein politisches Legitimationsproblem. „Weit verbreitet ist das Gefühl, dass der Staat immer Geld für andere hat, aber nicht für die eigenen Bürger“, sagt er und sieht einen „Zwiespalt zwischen dem, worauf sich die Regierung konzentriert, und dem, was die Menschen erwarten dürfen“. Als Beispiel dienen Kubicki die jüngsten Sturmflutschäden in Schleswig-Holstein. „Am selben Tag, an dem wir informiert wurden, dass der Bund keine Sofortkredite zum Wiederaufbau bereitstellt, erfuhren wir, dass Berlin 700 Millionen Euro zusätzlich für den Wiederaufbau in Gaza ausgeben will“, sagt Kubicki. „Da sagen die Leute doch: Ja, sind wir denn irre?“

Kritikern wird von Entwicklungspolitikern oft entgegengehalten, dass man die Hilfen auch in ihrer strategischen Dimension begreifen müsse. Es würden „langfristige Strukturen der Zusammenarbeit mit Ländern aufgebaut, die an Bedeutung zunehmen“, sagt SPD-Mann Annen. Aber was ist die Strategie hinter der Förderung eines Landes, das wir doch als „strategischen Rivalen“ begreifen? „Einerseits schreiben wir eine China-Strategie, die in Wahrheit eine Anti-China-Strategie ist, und andererseits geben wir mehrere Hundert Millionen Euro für den Aufbau des Landes aus“, wundert sich Kubicki.

Offiziell gilt China in Berlin seit 2010 nicht mehr als Entwicklungsland, aber laut der BMZ-Website wird auch noch 13 Jahre danach „Gender-Training für zivilgesellschaftliche Basis-Organisationen und Sozialarbeiterstationen in einer Provinz Chinas“ unterstützt. In der Provinz Shaanxi fördert das Ministerium den „Zugang zu Bildung für Kinder von Migrantinnen und Migranten“. Das meiste Geld fließt mittlerweile in den chinesischen Klimaschutz und in die Studentenförderung. Aber auch hier ließe sich fragen, warum die zweitgrößte Volkswirtschaft der Welt das nicht selbst finanzieren sollte. Immerhin will das BMZ nach 2025 alle Kreditförderungen für China abschaffen.

Schwere Zeiten stehen bevor

Dort, wo es die strategische Zusammenarbeit zu intensivieren gilt, etwa mit Indien, wären andere Maßnahmen zielführender. In Delhi versteht man unter strategischer Partnerschaft Verständnis für die eigenen Interessen, etwa bei der Aufrüstung. Hier tut sich die Bundesregierung aber schwer, entsprechenden Anfragen nachzukommen. Zinsvergünstigte Kredite nimmt die Regierung in Delhi gerne an, aber die Währung, in der sie wertvolle Partner bemisst, ist eine andere.

CDU-Politiker Frei fordert eine „viel stärkere Ausrichtung der Entwicklungszusammenarbeit entlang nationaler Interessen“. Er will sie vor allem auf Nachbarregionen begrenzen und insgesamt „sichtbarer“ machen. Auch solle die deutsche Wirtschaft mehr von Aufträgen profitieren. In Afrika würde deutsche Entwicklungshilfe nur zu zehn Prozent an deutsche Unternehmen zurückfließen – in Frankreich liege die Quote bei 80 Prozent.

Von allen Seiten gerät die deutsche Entwicklungspolitik unter Erklärungsdruck. Ihr stehen schwere Zeiten bevor, finanziell wie institutionell.