Direkt zum Inhalt
Für eine andere Entwicklungspolitik!

Beitrag vom 22.10.2024

NZZ

Deutschland finanziert Seenotretter mit mehreren Millionen Euro

Seit Jahren retten private Initiativen Migranten im Mittelmeer und erhalten dafür Steuergelder

Nathan Giwerzew, Berlin

Seenotrettungs-NGO wie SOS Humanity erhalten von 2024 bis 2026 weitere sechs Millionen Euro. Das Geld stammt aus dem Etat des Aussenministeriums und entspricht der Fördersumme der Vorjahre. Valeria Ferraro / Imago

Deutschlands Bundeskanzler Olaf Scholz wollte eigentlich nicht mehr, dass private Seenotretter auf dem Mittelmeer mit Steuergeldern finanziert werden. Zu laut war die Kritik von Mittelmeer-Anrainerstaaten wie Italien geworden, der deutsche Staat arbeite damit kriminellen Schleppern zu. Finanzminister Christian Lindner stellte es dem Bundestag frei, über die Verwendung der Gelder abzustimmen.

Doch jetzt fliessen die Gelder weiter. Laut einem Bericht der «Bild»-Zeitung erhalten Seenotrettungs-NGO von 2024 bis 2026 weitere sechs Millionen Euro an Steuergeldern. Das Geld stammt aus dem Etat des Aussenministeriums, es entspricht der Fördersumme der Vorjahre. Derzeit werden die Nichtregierungsorganisationen Sea Eye, SOS Humanity und Méditerranée mit jeweils Hunderttausenden Euro an Steuergeldern finanziert.

Die NGO betreiben Schiffe, deren Besatzungen schiffbrüchige Migranten auf dem Mittelmeer aufgreifen und in europäische Gewässer überführen. Dort werden sie an Schiffsbesatzungen der jeweiligen nationalen Küstenwache oder der europäischen Grenzschutzagentur Frontex übergeben, die die Migranten an Land bringen.
Gefährliche Überfahrt

Für viele Migranten ist die Seenotrettung zunächst ein Glücksfall. Denn die Überfahrt ist gefährlich, immer wieder kommen Migranten auf hoher See ums Leben. Zwischen 2013 und 2023 starben rund 26 000 Menschen bei der Überquerung des Mittelmeers, wie der Migrationsforscher Ruud Koopmans recherchiert hat.

Doch laut einer Studie mehrerer Ökonomen im «American Economic Journal» senkt die Seenotrettung für Schlepper die Anreize, die Migranten sicher über das Mittelmeer zu transportieren. Demnach setzen sie Migranten eher in billigere Boote – in der Erwartung, sie würden ohnehin gerettet. Die EU-Grenzschutzagentur Frontex schreibt ähnlich lautend in einem Bericht, private Seenotretter würden «ungewollt Kriminellen helfen, ihre Ziele mit minimalen Kosten zu erreichen».
Union gegen Finanzierung

Auch ein anderes Problem sorgt für Streit in Europa. Die Migranten werden von den Seenotrettern in der Regel nicht zurück nach Nordafrika, sondern in die EU verbracht. Damit umgehen sie das Seerecht, das von ihnen verlangt, den nächsten sicheren Hafen anzusteuern. Auch wenn die wenigsten Migranten Anspruch auf Asyl haben – für einen subsidiären Schutzstatus oder die Duldung in einem EU-Staat reicht es meistens.

Aus Sicht der CDU/CSU-Fraktion betreiben damit die Seenotretter das Geschäft der Schlepper. Jürgen Hardt, aussenpolitischer Sprecher der Fraktion, sagt der NZZ: «Private Seenotretter vor der libyschen Küste produzieren Fehlanreize für Menschen, ihr Leben auf dem Mittelmeer zu riskieren.» Die Haushaltspolitiker der Unionsfraktion hätten versucht, die weitere Finanzierung für private Seenotretter zu verhindern.

Die privaten Rettungsorganisationen sind seit Jahren ein Politikum. Der Fall der deutschen Seenotretterin Carola Rackete machte international Schlagzeilen. Ein italienisches Gericht klagte die damalige Kapitänin der «Sea Watch 3» der Beihilfe zur illegalen Einwanderung an, nachdem sie 2019 unerlaubt in den Hafen von Lampedusa eingefahren war. Erst 2020 wurde sie aus der Untersuchungshaft entlassen.
Viele kommen über den Balkan

Doch jüngst sind die meisten Migranten nicht von privaten Rettern, sondern von staatlichen Rettungsschiffen aufgegriffen worden. Der Migrationsforscher Matteo Villa von der Mailänder Denkfabrik Istituto per gli studi di politica internazionale (Ispi) hatte hierfür die Zahlen für den Zeitraum zwischen Oktober 2022 und September 2023 veröffentlicht. Gemäss diesen entfielen nur rund acht Prozent der nach Italien eingewanderten Migranten auf private Seenotrettungsmissionen. Die Anzahl der Migranten, deren Rettung mit deutschem Steuergeld organisiert wurde, belief sich in diesem Zeitraum auf einige Tausend.

In den Jahren nach der Corona-Pandemie nahm die Migration über die Mittelmeerroute zusehends ab. Das hatte auch mit neuen Grenzschutzmassnahmen zu tun: Mehrere Mittelmeer-Anrainerstaaten setzten unter anderem auf sogenannte Pushbacks, um Migranten an der Einreise in die EU zu hindern. Derzeit kommen die meisten Migranten nicht über das Mittelmeer in die Europäische Union, sondern über den Balkan oder Weissrussland.