Direkt zum Inhalt
Für eine andere Entwicklungspolitik!

Beitrag vom 06.01.2025

FAZ

Mischen possible

Von Sandra Kegel

Im afrikanischen Inselstaat Mauritius leben Muslime, Christen, Hindus, Buddhisten und Juden friedlich miteinander. Inzwischen sucht auch die Wissenschaft in dem kleinen Palmenparadies nach der Formel für den Frieden unter den Völkern.

Man stelle sich vor, Hindus, Muslime und Christen, Buddhisten, Juden und Atheisten leben einträchtig Tür an Tür in einem Staat, dessen Polizei per Gesetz keine Waffen tragen darf und der sich mit einem Vogel identifiziert, der in die Geschichte einging, weil er das Konzept Feindschaft nicht kannte und deshalb ausgestorben ist. Die Bewohner dieses Staates respektieren die Religionen der anderen, deren Feste sie nicht nur mitfeiern. Sie heiraten auch untereinander. Und sie können sich, anders als manche Schweizer oder Inder, verständigen, weil vom Chefarzt bis zum Laufburschen in diesem Staat alle mindestens drei Sprachen sprechen; Englisch und Französisch sowieso, die meisten auch Kreolisch sowie eine der Herkunftssprachen Hindi, Urdu, Tamil, Marathi, Bhojpuri, Telugu oder Chinesisch.

Vier Flugstunden von Johannesburg entfernt liegt dieses sagenumwobene Eiland Mauritius. Vor mehr als acht Millionen Jahren auf einer Fläche von gut vierzig mal sechzig Kilometern aus vulkanischer Erde entstanden, erheben sich die dramatisch zerklüfteten Berge wie gefaltetes Origami aus dem Indischen Ozean. Noch in den Siebzigerjahren verirrten sich nur einige Zehntausend Abenteurer hierher. Heute kommen jedes Jahr eine Million Besucher, vor allem zur Weihnachtszeit, wenn es in Europa, Russland und Amerika nass und kalt ist. Auf Mauritius finden sie weiße Strände, türkisblaues Meer, Lagunen, Palmen, Delfine und Stille. Schriftsteller von Joseph Conrad über Alexandre Dumas bis zu Baudelaire und Le Clézio sind der Insel verfallen. „Erst wurde Mauritius erschaffen, dann der Himmel nach seinem Vorbild“, lautet ein Bonmot Mark Twains, das jedes mauritische Kind kennt.

Neben den Touristen begibt sich neuerdings ein weiteres Völkchen auf Erkundungstour unter die Inselbewohner: Wissenschaftler. Denn Mauritius ist viel interessanter und facettenreicher als seine Parasailing-Angebote und Luxus-Massageöle. Der Inselstaat im Südpazifik ist zum Forschungsobjekt geworden, seit es auf der Welt wieder rauer zugeht und man dem Geheimnis von Mauritius auf den Grund gehen will. Das Land besticht eben nicht nur durch Schönheit, sondern auch durch das friedliche Zusammenleben seiner knapp 1,3 Millionen Einwohner. Angesichts des Sammelsuriums aus Ethnien, Religionen, Kulturen und Sprachen ist das bemerkenswert – die Mauritier sind so bunt wie der kreolische Eintopf Rougaille.

Frieden, Wohlstand und politische Stabilität

Wer unter wogenden Zuckerwattewolken im Land unterwegs ist, stößt überall auf Kirchen, Moscheen und Hindutempel. Besonders die Muttergottes hat es den Mauritiern angetan. Die vielen kleinen Altäre bilden einen malerischen Kontrast zum Hindugott Shiva, der meist als Megaskulptur in den Himmel ragt. In der Hauptstadt Port Louis steht in Chinatown direkt neben dem buddhistischen Schrein eine Moschee. Niemand hier stört sich an den Rufen des Muezzin.

Im Jahr 2021 hat die Columbia University Wissenschaftler auf die Insel vor der Küste Afrikas entsandt, um zu erforschen, wie sie den Frieden sowie Wohlstand und politische Stabilität bewahrt, was schon im benachbarten Madagaskar nicht mehr selbstverständlich ist. Die Studie ist Teil des Projekts „Sustaining Peace“ des „Advanced Consortium on Cooperation, Conflict, and Complexity“. Heute sei es mehr denn je relevant, so die Forscher, von friedlichen Ländern zu lernen, „wie Frieden funktioniert, aussieht und sich anfühlt“.

Zuerst brachten die Kolonialherren Sklaven aus Madagaskar auf die Plantagen, dann Arbeiter aus Indien. Später zogen Händler aus China nach. Deren Nachfahren sowie Gastarbeiter aus Bangladesch, China und Südafrika schufen das heutige Mosaik aus Sprachen, Ethnien, Religionen und Kulturen. Nicht immer war Mauritius so harmonisch wie heute, wie ethnische Unruhen in den Sechzigern zeigen. Doch seit den Neunzigerjahren gehört es zu den friedlichsten Ländern der Welt. Mit Ausnahme des Jahres 1999, als der kreolische Sänger Kaya in Polizeigewahrsam starb, was viele als rassistisch motiviert ansahen, ist das Land frei von ethnischer Gewalt geblieben und hat zugleich ein hohes Maß an Vielfalt bewahrt.

Ein bemerkenswert friedlicher Ort

Nach Angaben des Institute for Economics and Peace ist Mauritius heute eines von nur vier Ländern der Welt, in dem es keinen anhaltenden internen oder internationalen Konflikt gibt. Mauritius ist das afrikanische Land mit dem höchsten Rang im Global Peace Index. Auch im Positive Peace Index schneidet es hinsichtlich wirtschaftlicher Entwicklung und politischer Freiheit sehr gut ab. In diese Untersuchungen fließen Indikatoren wie das Ausmaß politischer Instabilität und Korruption ein.

Die Fragen der Wissenschaftler an die Fokusgruppen vor Ort, lauteten: Was braucht es, um in Frieden zu leben? Wie können verschiedene Ethnien zusammenleben, ohne dass die Unterschiede zu Brüchen, Spaltung und Gewalt führen? Wie können multikulturelle Gesellschaften existieren, in denen man nicht nur nebeneinander überlebt, sondern Beziehungen eingeht, die allen weiterverhelfen?

Ein paradiesischer Ort: „Frieden – das ist bei uns ein Verb. Man muss ihn sich verdienen.“
Interessant ist die Studie auch deshalb, weil friedliche Gesellschaften nur selten erforscht werden, und wenn es doch geschieht, wird Frieden in der Regel als Abwesenheit von Gewalt betrachtet. Das Forscherteam räumt in seinem Bericht zwar ein, dass auch Mauritius „keine Utopie“ sei und wirtschaftliche Ungleichheit als Erbe der Sklaverei fortbestehe. Auch bei diesem glücklichen Inselvolk gebe es Spannungen, und Hierarchien von Kasten und Klassen spalteten oft stillschweigend, die Rede ist von einem „fragilen“ Frieden. Und doch sei Mauritius, so das Fazit, ein bemerkenswert friedlicher Ort. Oder, wie es der Befragte einer Fokusgruppe formulierte: „Mauritius ist sehr kompliziert, aber friedlich, während (Süd-)Afrika einfach ist, aber gefährlich.“

Die Schönheit des Ganzen

Das starke soziale Netz auf der Insel trägt maßgeblich dazu bei. Und von Kindesbeinen an wird man dazu ermahnt, Konfrontationen aus dem Weg zu gehen. Vom, ein Mauritier indischer Herkunft, dessen Familie seit fünf Generationen auf der Insel lebt, kann viele Geschichten von der Überwindung religiöser und kultureller Gräben erzählen. „Wenn es etwas zu feiern gibt – Diwali, Weihnachten, das chinesische Neujahrsfest oder Eid al Fitr nach Sonnenuntergang –, sind wir dabei, wenn es Streit gib, sind wir ganz schnell weg“, erzählt er im Gespräch. Die gesellschaftliche Harmonie wird nicht nur in den Stadtvierteln gelebt, sondern von Entscheidungsträgern, sei es im Parlament oder in den Gotteshäusern, gepredigt. Vor einigen Jahren wurde eine Wahrheitskommission eingesetzt, um das Erbe der Leibeigenschaft aufzuarbeiten, und 2023 in der Hauptstadt ein Museum zur Geschichte der Sklaverei auf Mauritius eröffnet.

Man dürfe nicht glauben, dass es automatisch friedlich zugehe, sagt eine Mauritierin: „Frieden – das ist bei uns ein Verb. Man muss ihn sich verdienen.“ Dann erzählt sie eine Geschichte, um zu erklären, wie ihre Landsleute tickten: Jede Gruppe gleiche einer Frucht, Apfel, Birne oder Mango. Zusammen ergebe das keine Marmelade, sondern Obstsalat, in dem jede Frucht Geschmack und Farbe behält und so zur Schönheit des Ganzen beitrage.

Dass Mauritius multikulti war, lange bevor das Wort aufkam, und heute Inder, Pakistaner, Chinesen, Afrikaner und Europäer das Straßenbild prägen, liegt an der bewegten Geschichte der Insel. Im zehnten Jahrhundert erstmals von arabischen Seefahrern besucht, machten sechs Jahrhunderte später die Portugiesen als erste Europäer hier halt. Ihnen folgten die Holländer, die das Land besiedelten und nach Prinz Maurice Van Nassau benannten. Als sie 1710 wieder abzogen, kamen die Franzosen, die Port Louis sowie zahlreiche Zuckerplantagen gründeten, für die sie Sklaven aus Madagaskar holten, bis sie 1810 von den Briten vertrieben wurden, die die Sklaverei abschafften und Arbeiter aus Indien und China beschäftigten. 1968 erlangte Mauritius seine Unabhängigkeit und wurde 1992 Republik. Heute ist es eine Demokratie mit freien Wahlen, freier Presse, kostenloser Schulbildung und Gesundheitsversorgung. Die Alphabetisierungsrate liegt bei über neunzig Prozent, unter den Jugendlichen bei 99 Prozent.

Auf Mauritius sind alle Migranten

Die Geschichte hat zur Heterogenität der Insel geführt, der Lebensstandard, die politische und wirtschaftliche Freiheit zum Selbstbewusstsein der Mauritier, die stolz auf ihre Errungenschaften sind und im Gespräch mitleidig auf die benachbarte Schwesterinsel La Réunion verweisen, die bis heute zu Frankreich gehört und von Paris aus verwaltet wird. In Mauritius beruft man sich lieber auf Gandhi, der das Land 1912 besuchte und sagte: „Keine Kultur kann überleben, wenn sie Exklusivität für sich beansprucht.“

Der ethnische Frieden funktioniert trotz aller Pluralität aber noch aus einem anderen Grund: Weil Mauritius bis zur Entdeckung durch die Osmanen unbewohnt war und diese auch nicht blieben, gibt es keine Ureinwohner, die für sich in Anspruch nehmen können, schon immer hier gewesen und von Neuankömmlingen übervorteilt worden zu sein. Auf Mauritius sind alle Migranten. Das eint sie über alle Verschiedenheit hinweg.

„Nous sommes tous des migrants“, beschwört dies an einem warmen Dezemberabend auch der mauritische Vizepremier Paul Béranger in einer Rede am Strand von Le Morne. Der fast Achtzigjährige hat sich mit dem Premierminister Navin Ramgoolam sowie Hunderten Mauritiern am Fuße des symbolträchtigen Tafelbergs Le Morne Brabant versammelt, um das Internationale Kreol-Festival zu eröffnen, das mit Musik, Tanz und Kulinarik die aus der Sklaverei hervorgegangene kreolische Kultur feiert.

Das wichtigste Element der Sega

Das Festival wird als positives Beispiel für Zusammenhalt auch im Bericht der amerikanischen Universität genannt, weil das Kreolische über die exotische Küche hinaus, die in den Hotels serviert wird, heute als Kultur aller Mauritier gilt. Die kreolische Sprache wird von vier Fünfteln der Bevölkerung gesprochen und ist heute die Lingua franca für das Volk ohne gemeinsame Muttersprache.

Als am Strand von Le Morne der offizielle Teil der Festivaleröffnung und die Reden – natürlich auf Kreolisch – vorüber sind und der Premierminister am Strand ein Feuer entfacht hat, beginnt endlich die Sega, die kreolische Musik, die alle hier so lieben. Die stimmungsvollen Lieder wurden einst von den Sklaven gesungen, um ihre Traurigkeit und ihr Elend zu vertreiben. Der Tanz der Frauen in flamboyanten Gewändern zu den wehmütigen Rhythmen ist minimalistisch – mehr Bewegung war für die an Händen und Füßen gefesselten nicht möglich. Der Wiegeschritt ist deshalb das wichtigste Element der Sega.

Die Musik, eine Teufelsaustreibung im Sechsachteltakt, wird begleitet von den traditionellen Perkussionsinstrumenten. Im Schatten von Le Morne sieht es bald so aus, als lausche selbst der Indische Ozean dem Treiben – und nicke dem Moment großer Freude und Einigkeit in Wellen freundlich zu.