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Beitrag vom 22.10.2011

FAZ

"Europa fehlt eine Strategie für Afrika"

Frederik Willem de Klerk, der in Südafrika die Apartheid abgeschafft hat, spricht über die Zukunft des Kontinents. Und Merck-Chef Kley verspricht mehr Investitionen in Afrika.

Herr de Klerk, wie fällt zwanzig Jahre nach dem Ende der Apartheid in Südafrika Ihre Bilanz für den Kontinent aus?

Die Situation ist alles in allem immer noch enttäuschend, aber besser, als es den Anschein hat. Bei allen gängigen Kriterien zur Bewertung der menschlichen Entwicklung - sei es Bildung, sei es gute Regierungsführung, sei es Korruptionsbekämpfung - schneidet Afrika schlecht ab. Gleichzeitig ist Afrika aber viel dynamischer, als viele denken. Insgesamt überwiegt in meiner Bilanz das Positive deshalb bei weitem das Negative.

Tatsächlich?

Ja. Die Wirtschaft zum Beispiel wächst in Afrika zwar langsamer als in China und Indien, aber schneller als in Brasilien. Die Bodenschätze und das Potential der Landwirtschaft sind vielversprechend. Die Welt wird ohne sie nicht auskommen. Europa und Amerika können es sich nicht leisten, dass der Kontinent so strauchelt und stolpert wie bisher.

Und was Ihr eigenes Land angeht?

Südafrika kann trotz aller Rückschläge als Vorbild betrachtet werden. Wir haben eine Katastrophe abgewendet, alte Konflikte überwunden, eine vernünftige Verfassung ausgehandelt. Wir werden die verbleibenden Schwierigkeiten überwinden, aber wir brauchen dafür eine Neugewichtung der auseinanderstrebenden politischen Kräfte. Was sie im der Vergangenheit zusammengehalten hat, war der Kampf gegen die Apartheid. Aber der ist inzwischen beendet.

Wenn Sie die Kritikpunkte an Südafrika, die Sie anmahnen - also hohe Arbeitslosigkeit, Mängel in Ausbildung, Infrastruktur und Gesundheitswesen, Korruption - betrachten und die positiven Punkte wie eine solide Wirtschaftspolitik: Ist der Saldo positiv oder negativ?

Positive Elemente überwiegen deutlich. Südafrika hat die Apartheid friedlich überwunden und sich auf eine der besten Verfassungen der Welt geeinigt. Das hätte ganz anders ausgehen können. Südafrika ist ein viel, viel besserer Ort als vor zwanzig Jahren, ein Modell für andere. Die Wirtschaft wächst seit 17 Jahren ununterbrochen. Südafrika hat seine Stellung als angesehenes und einflussreiches Mitglied der Staatengemeinschaft wiedererlangt. Von der Regierung geplante Gesetzesänderungen, Gefährdungen rechtsstaatlicher Momente, wurden mehrfach durch eine starke Zivilgesellschaft verhindert.

Wie könnte die Neuordnung der politischen Kräfte aussehen, die Sie erwarten?

Der Afrikanische Nationalkongress, der ANC, besteht aus widerstrebenden Flügeln von Linksdogmatikern bis zu sozialdemokratischen und liberalen Denkrichtungen. Mit dem ANC sind teils militante Gewerkschaften und die Kommunistische Partei verbündet. Wenn es zu einer Spaltung und Neuausrichtung kommt, ist wichtig, dass der Markenname ANC bei dem demokratischen Flügel bleibt. Selbst wenn die Linke im ANC nach einer Spaltung die Oberhand gewinnen, den Namen ANC übernehmen sollte, wird die politische Mitte wie bisher die Richtung bestimmen. Die wirtschaftliche und politische Lage wird sich nach einer Spaltung im ANC verbessern. Der ANC muss seinen moralischen Kompass, den er verloren hat, wiedergewinnen.

Trifft das im weiteren Sinne auch auf den gesamten afrikanischen Kontinent zu?

Wir brauchen jedenfalls Verbesserungen in der Qualität der Regierungsarbeit. Deshalb geben die 30 oder 40 früheren Staatsmänner, mit denen ich in der "Global Leadership Initiative" zusammenarbeite, den daran interessierten Staaten diskrete Ratschläge. Ich glaube an Afrikas Potential. Aber ich bin besorgt darüber, dass weder die Europäische Union noch Amerika eine kohärente Afrikapolitik verfolgen.

Warum hat Europa keine vernünftige Strategie?

Zum Teil liegt das daran, dass die früheren Kolonialmächte fälschlicherweise dachten, ihr Status werde einfach so erhalten bleiben. Außerdem haben die vielen militärischen Auslandseinsätze die Bereitschaft zum außenpolitischen Engagement sinken lassen. Für die Zukunft hoffe ich aber, dass Amerika und Europa erkennen, dass die Entwicklung Afrikas in ihrem ureigensten Interesse liegt. Wäre ich Bundeskanzler oder Präsident der Vereinigten Staaten, würde ich für jede Region Afrikas ein oder zwei Länder identifizieren, die hinsichtlich ihrer politischen und wirtschaftlichen Struktur als Vorbild dienen können, und die Beziehungen zu ihnen ausbauen, damit sie Wachstumsmotoren werden können. Aber bislang reagieren Amerika und Europa immer nur auf Veränderungen in einzelnen Staaten, anstatt die Initiative zu ergreifen.

Das machen die Chinesen besser, richtig?

Ja, es gibt heute schon rund 750.000 chinesische Arbeiter in Afrika.

Sind die Chinesen auch in Südafrika so präsent?

Nein. Denn Südafrika ist ein Hybrid, ein Entwicklungsland und ein Industriestaat gleichermaßen. Unsere Infrastruktur entspricht bestem europäischen Standard. Aber der Handel mit China wächst stark. Und der chinesische Einfluss auf die südafrikanische Politik ist offenbar groß. Der Dalai Lama zum Beispiel hat in den drei vergangenen Jahren zweimal erfolglos versucht einzureisen.

Locken China nur die Rohstoffe?

Das Interesse ist wirtschaftlich motiviert: Es geht China vor allem um Kohle, Öl und Bauxit.

Welche Länder stehen auf Ihrer Liste der afrikanischen Vorbildstaaten?

Ich habe keine solche Liste in der Schublade. Aber Nigeria hat als bevölkerungsreichstes Land des Kontinents das Potential, diese Rolle für Westafrika zu übernehmen, wenn es politisch stabiler wird. Im Süden ist neben Südafrika Botswana zu nennen, auch Angola bewegt sich in die richtige Richtung. Für Ostafrika ist die Entwicklung von Kenia entscheidend. Und zu Südafrika: Wer weiß schon, dass der Tourismus heute doppelt so viel zum Bruttoinlandsprodukt beiträgt wie die Minenbetreiber? Dass die Ausfuhr von Autos inzwischen genauso wichtig ist wie der Rohstoffexport? Die deutschen Autohersteller sind schon alle vertreten. Die Bedeutung der Minen nimmt ab, die Wirtschaftsstruktur ist differenziert, die Manager sind gut qualifiziert.

Herr Kley, Präsident de Klerk fordert zu Investitionen auf. Wie attraktiv ist Afrika zurzeit für ein Dax-Unternehmen wie Merck?

Kley: Derzeit erlösen wir nur 2 Prozent unseres Konzernumsatzes in Afrika. Damit dürften wir im Durchschnitt deutscher Konzerne liegen. Afrika erinnert mich heute an eine Reihe asiatischer Staaten wie Japan, Korea, Malaysia und Indonesien in den sechziger Jahren - damals wurde auch viel über Zweifel und negative Statistiken berichtet. Niemand hat daran geglaubt, dass die Region einen solch rasanten Aufschwung nehmen würde.

Das sind die Chancen. Wie steht es mit den Risiken?

Kley: Für europäische Unternehmen ist das Engagement in Afrika durchaus riskant. Man muss zum Beispiel sehr genau auswählen, in welchen Ländern der rechtliche Rahmen verlässlich ist. Aber wer die richtigen Nischen findet und die richtigen Produkte anbietet, für den ist dieser Markt schon jetzt interessant - und diese Investitionen werden sich auszahlen. Wenn alles gutgeht, dann sollte Merck seinen Umsatz in Afrika mit den richtigen Investitionen in den kommenden fünf Jahren verdoppeln können.

de Klerk: Ich bin kein Fachmann für die Pharmabranche. Aber unsere medizinischen Bedürfnisse sind gewiss andere als in Europa. Die Krankheiten, unter denen wir leiden, sind HIV, Malaria, Tuberkulose. Daran sterben Millionen von Menschen. Südafrikanische Unternehmen sind im Rest von Afrika sehr erfolgreich - die Telekommunikationsanbieter, die Fernsehkanäle, die Baukonzerne. Ihr Vorteil ist, dass sie mit Afrika umzugehen wissen, während viele Unternehmen aus der nördlichen Hemisphäre Afrika für einen dunklen, gefährlichen Ort halten.

Kley: Zurzeit stammen mehr als 70 Prozent unserer Umsätze in Afrika aus unserer Pharmasparte. Unser Produktportfolio sieht dort anders aus als in reifen Märkten wie in Westeuropa. Merck gehört zu den führenden Anbietern von Arzneimitteln gegen multiple Sklerose, aber in Asien und Afrika spielt diese Krankheit keine besonders große Rolle. Auch Krebsmedikamente stehen in Afrika nicht an erster Stelle. Aber wir stellen in unserem Konzern nicht nur Arzneimittel her, sondern bieten auch Laborausrüstung an - und jeder Minenbetrieb, jedes Stahlwerk hat ein Labor. Es gibt also Möglichkeiten weit über das hinaus, was wir zurzeit in Afrika tun. Und wer früh in solchen wachsenden Märkten Fuß fasst, hat immer einen Vorteil gegenüber den Nachzüglern.

Geht es dabei vor allem um eine Ausweitung der Handelsbeziehungen? Oder wollen Sie auch neue Arbeitsplätze schaffen?

Kley: Wir investieren typischerweise nicht in Fabriken, sondern in die Entwicklung von Produkten und Talenten. Da sind wir nicht vergleichbar mit Autoherstellern. Gerade haben wir als Teil eines Austauschprogramms die ersten afrikanischen Nachwuchskräfte in Darmstadt begrüßt, um sie auszubilden.

Die größten Anstrengungen im Kampf gegen Malaria unternimmt die Stiftung von Microsoft-Gründer Bill Gates. Gibt es darüber hinaus überhaupt ein nennenswertes Engagement seitens der Pharmabranche, um die Tropenkrankheiten zu bekämpfen?

Kley: Ja. Wir selbst arbeiten in einem Forschungsprojekt an einem Wirkstoff gegen Malaria. Außerdem spenden wir seit vier Jahren für eine gemeinsam mit der Weltgesundheitsorganisation betriebene Kampagne Tabletten gegen die von Würmern ausgelöste Krankheit Bilharziose, an der in Afrika 200 000 Menschen im Jahr sterben. Wir haben einen Wirkstoff dagegen erfunden und uns verpflichtet, ihn so lange kostenlos zur Verfügung zu stellen, bis diese Krankheit ausgelöscht ist. Der Schlüssel dazu ist aber nicht die Tablette, sondern sauberes Wasser.

Wohltätigkeit in allen Ehren, aber zu welchen Preisen wollen Sie in Afrika künftig echtes Geschäft betreiben?

Kley: Die Preise werden niedrig sein. Aber wenn wir die richtigen Produkte anbieten, wird es sich für uns dennoch lohnen. In China sind wir einer der Marktführer für Medikamente gegen Schilddrüsenfehlfunktionen. Die Preise dafür sind dort auch nicht höher, als sie in Afrika wären. Trotzdem ist das ein profitables Geschäft.

de Klerk: Dazu kommt, dass die Mittelschicht und damit der Markt für anspruchsvolle Produkte in ganz Afrika schnell wächst - auch weil viele Emigranten in ihre Heimatländer zurückkehren. Das ist eine der Tatsachen, die Pessimisten gerne unterschlagen. Wir rechnen für dieses Jahr mit einem Wirtschaftswachstum von fast 5 Prozent.

Der Merck-Konzern befindet sich in einem Prozess der Veränderung. Herr de Klerk, lässt sich dafür eine Lehre aus Ihrer Erfahrung mit einem fundamentalen politischen Wandel ziehen?

de Klerk: Ja, das glaube ich schon. Denn Wandel ist in einer globalisierten Welt unvermeidbar. Am Anfang muss das Eingeständnis stehen, dass eine wirklich tiefgreifende Veränderung nötig ist. Sonst scheuen wir vor dem Wandel, das ist uns offenbar angeboren. Viele Regierungen und viele Manager geben deshalb nur vor, etwas verändern zu wollen, ohne den Mut zu schmerzhaften Entscheidungen zu haben. Ich musste damals genauso viel Energie einsetzen, um meine eigenen Anhänger zu überzeugen, wie für die Verhandlungen mit der Opposition und die gewöhnlichen Regierungsgeschäfte. Das ist die Aufgabe von Führungskräften: Sie müssen ihre Basis von ihrer Vision überzeugen. Wir hatten damals eine besondere Methode dafür, die "Buschkonferenzen". Wir haben uns an abgeschiedenen Orten getroffen, wo nicht einmal die Mobiltelefone mehr funktionierten, damit wirklich alle miteinander reden mussten. Die Diskussionen gingen ans Eingemachte. Aber am Ende haben alle an diese Vision des geeinten Südafrika ohne Apartheid geglaubt. Die Lehre ist also, dem unvermeidlichen Wandel offen ins Gesicht zu sehen - und das Team mitzunehmen.

Kley: Das ist genau, was wir zurzeit versuchen - ohne gewusst zu haben, dass wir uns auf Ihren Spuren bewegen. Das gilt sogar für die Details: Ich schalte in wichtigen Gesprächen und zum Nachdenken mein Telefon aus, das müssen viele Manager aber erst lernen. Leider haben wir keinen Busch in Darmstadt, wo die Telefone keinen Empfang haben. Ein wichtiger Unterschied ist, dass wir in einem Unternehmen das Personal auswählen können, das ist in der Politik nicht möglich. Und verglichen mit den Herausforderungen, vor denen Südafrika vor 1990 stand, sind unsere Probleme winzig. Ab und zu ist eine solche Relativierung sehr wichtig.

Der 93 Jahre alte frühere Präsident Nelson Mandela - gemeinsam mit Ihnen Friedensnobelpreisträger - ist nicht gesund. Wie wird es sich auf das Land auswirken, sollte er nicht mehr da sein?

de Klerk: Mandela ist ein großer, großer Südafrikaner. Er hat sich schon vor einiger Zeit aus den Geschicken Südafrikas und des ANC völlig zurückgezogen. Sollte er sterben - und wir alle hoffen, dass er noch lange lebt -, wird das die Stabilität Südafrikas nicht gefährden. Das würde aber Südafrikaner über alle Parteigrenzen hinweg zusammenbringen in einem gemeinsamen Gefühl des Schmerzes, in der Würdigung eines großen Lebens und einer überragenden Persönlichkeit. Dann würde Südafrika sein politisches Gezänk vorübergehend vergessen.

Das Gespräch führten Sebastian Balzter, Carsten Knop und Robert von Lucius.