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Beitrag vom 10.08.2013

Zeit Online

Glück im toten Winkel der Welt

Die internationale Gemeinschaft kümmert sich nicht um Somaliland. Darum gedeiht es prächtig.

Von: Andrea Böhm

Ein leises, flatterndes Rascheln. So klingt dieses Land an seiner Grenze. Der Wajaale führt kein Wasser, das Flussbett ist übersät mit Plastiktüten, in denen sich an diesem Morgen der Wind verfängt. Man könnte jetzt einfach weiterlaufen, vorbei an billigen Hotels, Handyshops und Imbissbuden, hinein in die Savanne, schallte da nicht ein "Stop!" aus dem Containerbüro des Grenzbeamten. "Willkommen in der Republik Somaliland!" Er stempelt den Pass und deklamiert noch einmal "Soo-maa-liland". Damit man auch ja weiß, wo man sich befindet.

Willkommen in einem Staat, den es offiziell nicht gibt. Gelegen am Horn von Afrika, mit 137.000 Quadratkilometer Fläche gut dreimal so groß wie die Schweiz, mit geschätzten dreieinhalb Millionen Einwohnern deutlich dünner besiedelt. Er besitzt eine eigene Währung, eine Landesfahne und eine Nationalhymne mit dem Titel "Ein langes Leben in Frieden". Das ist ein kühnes Versprechen in dieser Region. Denn offiziell befindet man sich auf dem Territorium Somalias, was als Synonym gilt für Staatszerfall, Terrorismus und Piraterie. Aber hier, in dieser selbst ernannten Republik im Nordwesten, ist angeblich alles anders. Außer Hymne und Fahne soll es eine funktionierende Polizei und Armee geben, eine freie Presse, eine gewählte Regierung, mehrere Parteien und demokratisch gesinnte Klan-Älteste. Das klingt gut für ein Land, das international niemand anerkennt.

Der Reiseführer (den gibt es wirklich) empfiehlt als Erstes einen Spaziergang durch die Hauptstadt. In Hargeisa leben - genau weiß es keiner - um die 500.000, vielleicht 800.000, vielleicht auch eine Million Menschen. Läden, Cafés und Straßen sind voll. Anders als in Mogadischu sieht man keine Soldaten hinter verbarrikadierten Checkpoints. Pick-up-Trucks transportieren keine Bewaffneten, sondern Gemüse oder Zement. Auf der Independence Avenue trägt man Handy statt Kalaschnikow. Polizisten regeln den Verkehr mit Trillerpfeifen. In einer Nebenstraße pinseln zwei Reklamemaler ein mannshohes Nutella-Glas an die Fassade eines Supermarktes. Einzig das Nationaldenkmal mitten im Zentrum wirkt bedrohlich: Ein russisches MiG-Jagdflugzeug ragt mit rostiger Nase gen Himmel. Darunter, auf dem Sockel in Stein gehauen und bunt bemalt, eine Frau auf einem mit Toten und Verwundeten bedeckten Schlachtfeld - den Kopf hoch erhoben, die Nationalfahne von Somaliland in der Hand, ein Kleinkind auf dem Rücken. Eine afrikanische Marianne mit züchtig bedecktem Busen, denn dies ist ein streng muslimisches Land.

Somalilands wahre Mutter der Nation findet man nicht auf dem Sockel eines Denkmals, sondern im Krankenhaus. Edna Adan Ismail hat als Hebamme mehr Staatsbürger zur Welt gebracht als sonst jemand in dieser Republik. Zwischendurch war sie First Lady, Exilantin, Außenministerin. Jetzt, mit 75 Jahren, leitet sie in Hargeisa ihr eigenes Hospital und wohnt der Einfachheit halber gleich über der Entbindungsstation. Fragt man, wie ihre Heimat inmitten einer kriegszerrütteten Region ein solches Maß an Ruhe hergestellt hat, antwortet sie: "Weil wir unsere Angelegenheiten immer schon selbst geregelt haben - im Gegensatz zu den anderen." Sie macht eine ausladende Handbewegung zum Fenster ihres Büros. Irgendwo da draußen, in Richtung Süden, liegt Mogadischu, die Hauptstadt der "anderen" Somalias.

Somaliland und Somalia - das waren einst ein britisches Protektorat und eine italienische Kolonie, die sich kurz nach beider Unabhängigkeit 1960 zu einem Staat vereinten. Edna Adan war da schon berühmt: Sie hatte in London ein Ausbildung zur Krankenschwester absolviert - für eine somalische Frau damals unerhört. Und sie hatte einen Politiker, den ersten Premierminister des Landes, geheiratet. Die Fotos von Staatsbesuchen bei Lyndon B. Johnson in Washington oder Kurt Georg Kiesinger in Bonn hat sie aufgehoben. Schwarz-Weiß-Bilder aus einer scheinbar aufgeräumten Welt, in der Somalia als halbwegs demokratisch und uneingeschränkt prowestlich galt. Dann putschte 1969 ein Offizier namens Siad Barre, rief den "wissenschaftlichen Sozialismus" aus, und Edna Adan verbrachte viel Zeit im Ausland, ihr Mann mehrere Jahre im Gefängnis. "Barre", sagt sie, "kennen Sie doch in Deutschland." Siad Barre hat 1977 einem GSG-9-Kommando erlaubt, auf dem Flughafen von Mogadischu zu landen und eine Lufthansa-Maschine in der Gewalt palästinensischer Terroristen zu stürmen. Die 20 Millionen Mark Belohnung aus Bonn investierte er in die Aufrüstung seiner Armee, die erst gegen den Nachbarn Äthiopien, dann gegen das eigene aufbegehrende Volk Krieg führte. Als Barre 1991 ins Exil floh, hatten seine Soldaten vor allem den Norden verwüstet, über 50.000 Zivilisten getötet, das Weideland vermint, die Brunnen vergiftet. Hargeisa hieß nach monatelangen Bombardements durch MiG-Kampfbomber "Afrikas Dresden".

"Das war unsere Stunde null", sagt Edna Adan. Somaliland erklärte sich 1991 erneut unabhängig, Adans Mann wurde Präsident, sie später Sozial- und dann Außenministerin - die erste Frau im Kabinett. Sie flog ohne diplomatischen Status durch die Welt, um für die Anerkennung ihrer Republik zu werben. Die walisische Nationalversammlung zeigte sich aufgeschlossen, der Rest der Welt schüttelte freundlich, aber bestimmt den Kopf. Edna Adan kramt ihren Pass aus der Handtasche, der an keiner Grenze akzeptiert wird. Sie kann immer noch nicht verstehen, warum für ihr Land nicht gelten soll, was im Fall des Kosovo und des Südsudan möglich war; und warum die internationale Gemeinschaft "trotz bescheidener Resultate" Abermillionen Dollar in das chaotische Somalia mit seinen Al-Kaida-nahen Islamisten und Klan-Milizen pumpt und die Republik Somaliland mit ihrer jungen Demokratie links liegen lässt.

Von außen könnte man das Parlamentsgebäude in Hargeisa mit seiner schmucklosen sandfarbenen Fassade und den blau verspiegelten Fenstern glatt übersehen. Rechter Hand liegt das Repräsentantenhaus, dessen Abgeordnete gewählt sind; linker Hand die zweite Kammer, die Guurti, bestehend aus Klan-Ältesten, die auf Lebenszeit ernannt werden.

"Kein Khat, keine Zigaretten, nur einheimisches Essen", sagt Abdi Karim Hussein, der unbestrittene Senior der Guurti, der sein Alter mit "wahrscheinlich 116" angibt. Dank seines hennarot gefärbten Bartes, seiner Goldzähne und des erstaunlich glatten Teints schätzt man ihn auf höchstens 80 - eine Bemerkung, die er nicht als Kompliment auffasst. Hussein gilt als legendärer Friedensstifter, seit er in jungen Jahren darauf verzichtete, die Blutrache am Mörder seines Vaters zu vollstrecken, und sich stattdessen eine seiner Töchter nahm. So jedenfalls will es die Legende - was das Mädchen damals wollte, spielt in der Geschichte keine Rolle. Inzwischen hat Hussein drei Frauen und "ungefähr dreißig Kinder", von denen das kleinste angeblich vier Jahre alt ist, was bei seinen jüngeren Guurti-Kollegen anerkennendes Raunen hervorruft.

Nicht jeder in Hargeisa findet diese afrikanische Variante des House of Lords heute noch nützlich oder zeitgemäß. Die Guurti ist eigentlich eine Versammlung von Klan-Führern zur Schlichtung von Konflikten, eine Art mobiles Schiedsgericht, entstanden in Zeiten, da es keinen Staat gab. Und genau darin lag ihr Beitrag zum Staatsaufbau. Unmittelbar nach Kriegsende verhinderten Abdi Karim Hussein und andere Klan-Chefs, was so oft nach dem Sturz einer Diktatur passiert: dass einzelne Milizenführer das Machtvakuum nutzen, um mit Gewalt ihre Pfründen abzustecken. "Wir haben alle Parteien zusammengeholt und ausgesöhnt", sagt Abdi Hussein. "Und dann haben sie ihre Waffen abgegeben."

Was aus seinem Mund so einfach klingt, dauerte gut sechs Jahre, bedurfte riskanter Kriseneinsätze dieser alten Männer sowie mehrerer nationaler und lokaler Friedenskonferenzen. Aber niemand schacherte um ausländische Geldtöpfe - es gab keine. Und anders als in Somalia oder Afghanistan hatten weder die UN noch Europa oder die USA für eine Fraktion Partei ergriffen. So baute sich der Norden seinen Staat im toten und geschützten Winkel der Weltpolitik.

"Im Namen Allahs, des Allerbarmers und Barmherzigen" - mit diesen Worten beginnt die Verfassung. Sie beschwört das gemeinsame Leid in Krieg und Diktatur, legt Grundsätze einer parlamentarischen Demokratie und den Islam als Staatsreligion fest. Bei Artikel 33 und Artikel 36 zuckt man zusammen. Religionsfreiheit und Frauenrechte? Im Prinzip ja, heißt es da, Näheres regelt die Scharia. Oder die Tradition der Klans, wie im Fall der Genitalverstümmelung, die hier die meisten Mädchen erleiden müssen.

Darüber würde man mit dem alten Abdi Karim Hussein gerne ausführlicher sprechen, aber Abdi Karim Hussein hat keine Lust mehr. Zum Abschied bedeutet er mit einer Geste in Richtung Notizblock, dass man seinen letzten Satz bitte genau mitschreiben soll: "Er hofft", sagt der Übersetzer, "dass die internationale Anerkennung Somalilands noch zu seinen Lebzeiten erfolgt." Mit diesen Worten schlurft der Alte nach Hause zum Mittagsschlaf. "Und wenn nicht", sagt mürrisch einer seiner Kollegen, "ist es auch egal. Wir brauchen euch nicht. Wir haben das Erdöl, wir haben den Hafen in Berbera, wir schaffen das auch alleine."

Den Traum von der kleinen Petrolmacht träumen derzeit einige in Hargeisa. Man hat Ölfelder entdeckt, doch noch fließt kein Tropfen. Bis auf Weiteres exportiert Somaliland statt fossiler Brennstoffe vor allem Paarhufer aller Art. Wer Schafe braucht, biegt auf dem Viehmarkt von Hargeisa nach rechts, Ziegen gibt's geradeaus, meist im Sechserpack an den Hälsen zusammengebunden, dahinter Rinder. Zu Zeiten des Protektorats hieß Somaliland "die englische Metzgerei", weil Großbritannien vor allem an Verpflegung für seine Truppen auf der Arabischen Halbinsel interessiert war. Jetzt befindet sich hier die Metzgerei der Saudis, die dank Öl-Wohlstand einen enormen Appetit auf Fleisch entwickelt haben. Käufer und Händler feilschen wie vor hundert Jahren, indem sie Finger des Geschäftspartners umfassen und so den Preis signalisieren. Bezahlt wird bargeldlos. Jeder hier hat ein Mobiltelefon - der saudische Großeinkäufer ein teures Smartphone, die einheimischen Viehhirten besitzen billige, solarbetriebene Modelle aus China. Und jeder hier nutzt Zaad, den Geldservice des somaliländischen Netzanbieters Telesom. Bei einem lizenzierten Zwischenhändler lässt man eigenes Geld auf seinem Handykonto gutschreiben, um es dann per SMS an andere zu überweisen. Analphabeten werden per Voicemail angeleitet. Fududeeye nennen die Hirten und Händler dieses System auf Somali: "das Ding, das alles leichter macht". Kamele oder Getreide kaufen, das neue Radio abstottern, tanken. Außerdem Geld von Verwandten aus dem Ausland empfangen und Steuern zahlen.

Dies ist nach wie vor ein bitterarmes Land. Geld aus der Diaspora hält viele Familien über Wasser, Steuern sind eine der wichtigsten Einnahmequellen des Staates. Nicht dass die Somaliländer Verfassungsartikel 34, Absatz 3 besonders schätzten, der sie zur "pünktlichen Entrichtung von Abgaben und Steuern" verpflichtet. Gerade erst sind Händler gegen eine 15-prozentige Erhöhung der Einfuhrsteuer für Khat auf die Barrikaden gegangen, das aus Äthiopien importiert wird.

Aber mangels internationaler Anerkennung erhält Somaliland nirgendwo Kredit und nur wenig Entwicklungshilfe. Und irgendwie muss das Geld für den Staatshaushalt 2013 zusammenkommen. Der ist schuldenfrei und liegt mit 180 Millionen Dollar so hoch wie noch nie in der Geschichte der Republik und knapp vor dem einer Stadt wie Rosenheim. Von einer Grundversorgung seiner Bürger ist Somaliland meilenweit entfernt, vom verwaltungslosen Elend anderer afrikanischer Länder allerdings auch. Der Besuch der Grundschule ist kostenlos, in Hargeisa gibt es eine Müllabfuhr, draußen auf dem Land werden Brunnen gebaut. Der größte Teil des Budgets fließt in Armee und Sicherheitskräfte, deren magere Gehälter immer mal wieder erhöht werden müssen. Nichts unterminiert ein Staatsgebilde mehr als erpresserische Polizisten und hungrige Soldaten.

"Glauben Sie bloß nicht, dass wir hier immun sind gegen die Probleme, die der Süden hat", sagt der Mann, der sich im Innenministerium als Ato Kochin, staatlicher Anti-Terror-Koordinator, vorstellt. Neben ihm sitzt sein Chef Abdelahi Abokor Osman, als Vizeminister für Innere Sicherheit zuständig für den Umgang mit Piraterie und militantem Islamismus. Die Piraten, sagt Osman, bekämpfe Somaliland mit seiner Marine und deren vier "eher primitiven Schiffen", die bei 830 Kilometern Küstenlinie ihr Bestes gäben.

Was den Terrorismus betreffe, so verlasse man sich auf Polizei, Geheimdienst und auf die Augen und Ohren von "2.400 unbezahlten Klan-Ältesten". Die Klans üben eine starke soziale Kontrolle aus. Es wird gemeldet, wenn irgendwo Auswärtige auftauchen, wenn aus dem Ausland zurückgekehrte Verwandte militante Sprüche von sich geben oder wenn jemand Waffen oder Sprengstoff auftreiben will. Momentan sei Al-Shabaab nicht in der Lage, in Somaliland zuzuschlagen, sagt Ato Kochin und zählt im nächsten Atemzug seine Sorgen auf: unzählige junge Arbeitslose, radikale Medressen, finanziert mit saudischem Geld, und die jüngsten Rückschläge, die Al-Shabaab im Süden einstecken musste. "Das treibt sie in unsere Richtung, nach Norden." Ausländer dürften jedenfalls nicht allein durchs Land fahren. "Wenn Sie nach Berbera Berbera wollen, bekommen Sie Spezialschutz."

Der letzte Abend. Außerhalb von Berbera befindet sich ein Hotel, bestehend aus militärisch wirkenden Bungalows, einer doppelten Sicherheitsschranke am Eingang und einem weiß getünchten Schuppen, auf dem "Diving Center" steht. Irgendwann einmal, wenn alle Probleme gelöst sind in der Region, soll hier ein Urlaubsparadies für Tauchsportler entstehen. Nicht weit entfernt rauscht das Meer. Ein kurzer Spaziergang, und man steht am Indischen Ozean. Plötzlich taucht in zwanzig Meter Entfernung ein Mann mit einer Kalaschnikow auf. Er winkt freundlich. Der Hotelbesitzer hat ihn zum Schutz hinterhergeschickt. Damit man nicht vergisst: Hier hat alles seine Ordnung. Dies ist Somaliland. Nicht Somalia.