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Beitrag vom 13.05.2014

Tagesanzeiger, Zürich

Nigerias lethargischer Präsident

Das Geiseldrama in Nigeria kommt Goodluck Jonathan höchst ungelegen. Der nigerianische Präsident offenbart im Krisenmanagement eklatante Schwächen, meinen Sicherheitsexperten.

Von Martin Sturzenegger

Goodluck Jonathan hat zurzeit ein grosses Problem: Es flucht, grölt, droht und nennt sich Abubakar Shekau. Dabei handelt es sich um den Anführer der Boko-Haram-Gruppe, der die Verantwortung für die Entführung der über 200 nigerianischen Schulmädchen übernahm - per Videobotschaft und mit irritierender Inbrunst.

Wenn Shekau seine Botschaften verkündet, haftet ihm stets etwas Wahnsinniges an: «Ich werde die Mädchen auf dem Markt verkaufen - so Gott will!», sagte der radikale Islamist. Shekau scheint verrückt genug, seine Ankündigungen zu verwirklichen. Das hat er schon mehrfach bewiesen: Waffenschieberei, Drogenschmuggel, Sklavenhandel und immer wieder Bombenanschläge - seit 2010 macht Shekau dem nigerianischen Präsidenten das Leben schwer.

Weltweite Empörung

Im nächsten Jahr möchte sich Jonathan wiederwählen lassen. Liesse man die ökonomische Schlagkraft des Landes sprechen, würden seine Chancen keinesfalls schlecht stehen - im Gegenteil: Nigeria löste Südafrika in diesem Jahr als grösste Wirtschaftsmacht auf dem schwarzen Kontinent ab - das versprechen zumindest die Zahlen.

Das interessiert heute niemanden mehr. In den Medien existiert Nigeria zurzeit vor allem als Land der entführten Schulmädchen. US-First-Lady Michelle Obama bildet dabei die Speerspitze jener Millionen Menschen, die sich weltweit mit den Geiselopfern solidarisieren. Unter dem Twitter-Hashtag #BringBackOurGirls vereint sich die weltweite Empörung.

Ungelegene Aufmerksamkeit

So viel Solidarität sollte Jonathan eigentlich zugutekommen. Doch für den Präsidenten ist die mediale Aufmerksamkeit eher Fluch als Segen. Seit dem Tag der Entführung versucht Jonathan, den Ball flach zu halten. Zwei Wochen vergingen, bis er sich erstmals dazu äusserte. Schliesslich verkündete der Präsident, die Mädchen seien wohlauf und in Sicherheit - woher seine Gewissheit rührte, sagte er nicht. Stattdessen verfestigte sich in der Bevölkerung das Gefühl, man werde von der Regierung nicht ernst genommen.

«Jonathan kommuniziert schwach und träge», sagt Jennifer Giroux gegenüber Tagesanzeiger.ch/Newsnet. Die Afrika-Expertin am Center for Security Studies der ETH Zürich fühlt sich an die Zeit erinnert, als Nigeria eine Militärdiktatur war: «Die Sicherheitskräfte vertreten nur die Interessen der Regierung und nicht diejenigen der Bevölkerung», sagt Giroux. Auch Carlo Koos vom Giga-Institut für Afrikastudien stellt dem Präsidenten ein schlechtes Zeugnis aus: «Er gilt als äusserst führungsschwach.»

Bizarrer Auftritt der Präsidentengattin

Innenpolitisch steht Jonathan schon länger auf wackligen Beinen. Seit dem Geiseldrama erst recht. Die Menschen können nicht begreifen, weshalb es dem milliardenschweren Militärapparat nicht gelingt, die vermissten Mädchen aufzuspüren. Das Unverständnis entlädt sich in der Wut Tausender Demonstranten, die seit Wochen auf die Strassen ziehen, um die Regierung zum Handeln aufzufordern.

Alles andere als deeskalierend wirkte dabei der Auftritt von Patience Jonathan. Die Präsidentengattin griff vergangene Woche zu einer Verschwörungstheorie und behauptete, die Entführung habe gar nie stattgefunden. Stattdessen handle es sich um eine erfundene Geschichte, damit die Wiederwahl ihres Mannes verhindert werden könne. An der Echtheit der Entführung zweifelt aber inzwischen niemand mehr.

Der bizarre Auftritt der First Lady sollte allerdings nicht darüber hinwegtäuschen, dass hinter der Entführung politische Motive stecken könnten. Boko Haram wird zwar nicht müde, ihre religiösen Ziele zu verkünden, doch die Islamwissenschaftlerin Nesrine Jamoud vermutet die politische Schwächung Jonathans als das eigentliche Ziel der Gruppierung: «Sie wollen den Präsidenten als hilflos vorführen», sagt die Mitarbeiterin der Berliner Stiftung Wissenschaft und Politik gegenüber dem «Spiegel» (Artikel online nicht verfügbar).

Gewalt statt Deeskalation

An der Abwahl Jonathans hat Boko Haram grösstes Interesse. «Die Regierung gibt Milliarden aus, um die Islamisten aus ihren nördlichen Hoheitsgebieten zu verdrängen», sagt Giroux. In drei Provinzen hat Jonathan inzwischen den Notstand ausgerufen. Mit Guerillataktiken versucht die Regierung, die Kontrolle wiederzuerlangen. Statt den Unruhen deeskalierend entgegenzuwirken, setze die Regierung auf rohe Gewalt, sagt Giroux: «Das ist Jonathans grösster Fehler.»