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Beitrag vom 19.06.2024

ALGERIEN UND DIE EWG

Eurafrikanische Spiele

Von Alexandra Kemmerer

Die Gründung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft war keine Abkehr von kolonialen Visionen. Warum interessiert sich die Rechtswissenschaft erst neuerdings für den Zusammenhang von wirtschaftlicher Expansion und geopolitischer Sicherung?

Der „Spiegel“ illustrierte am 27. Februar 1957 in Nr. 9 des Jahrgangs seinen mit „Bananen für die Affen“ überschrie­benen Abschlussbericht von der Pariser Konferenz über den Gemeinsamen Europäischen Markt und die Europäische Atomgemeinschaft mit ei­ner als Nachdruck aus der „Deutschen Zeitung und Wirtschaftszeitung“ ausgewiesenen Zeichnung des Karikaturisten Hanns Erich Köhler, der von 1958 an jahrzehntelang für die F.A.Z. zeichnete. Die Karikatur, die Köhler in seine im gleichen Jahr als Buch publizierte Sammlung „Pardon wird nicht gegeben“ aufnahm, brachte eine verbreitete bundesrepublikanische Skepsis ge­genüber der Einbeziehung afrikanischer Gebiete in die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) auf den Punkt, die durch die am 25. März 1957 unterzeichneten Römischen Verträge begründet wurde. Die forsche Marianne, Personifikation der Kolonialmacht Frankreich, ermutigt den zögerlichen deutschen Michel, sein üppig mit Hundertmarkscheinen bestücktes Füllhorn („jährlich 160 Millionen Kolonialzuschuss“) großzügig in ein loderndes Feuer mit dem Etikett „Nord­afrika“ auszuschütten. „Los, Michel – Schließe die Augen und denk an Europa!“, so die Devise, die der integrationsskeptische Karikaturist seiner couragierten Französin in den Mund legte.

Noch lange nach der Unterzeichnung der Römischen Verträge und sogar noch nach ihrem Inkrafttreten am 1. Januar 1958 wurde um den in den Assoziierungsbestimmungen vorgesehenen „Entwicklungsfonds für die überseeischen Länder und Hoheitsgebiete“ gefeilscht. Erst im Dezember 1958 stellten die sechs Mitgliedstaaten Mittel für die Territorien bereit, in denen Frankreich, Belgien, Italien und die Niederlande weiter koloniale Interessen verfolgten. Und dann musste erst einmal der Verteilungsschlüssel festgelegt werden.

Den Entwicklungsfonds sah man beim „Spiegel“ noch 1960 als „System, durch Treueprämien aus gesamteuro­päischen Steuergeldern die französische Suprematie in Afrika zu konservieren“. Mit der „Affäre Allardt“, über die das Hamburger Nachrichtenmagazin detailliert berichtete, kulminierte im Juni 1960 eine Auseinandersetzung des deutschen Generaldirektors der General­direktion VIII – „Überseeische Entwicklungsfragen“ – bei der EWG, des Diplomaten Helmut Allardt, mit seinem französischen Vorgesetzten Robert Lemaignen über die künftigen Beziehungen der Gemeinschaft zu den zwischenzeitlich unabhängig gewordenen afrikanischen Staaten. Wollten diese sich un­mittelbar, ohne ein über Frankreich vermitteltes Assoziationsverhältnis, mit der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft verbinden, sollten sie nach Auffassung der Franzosen keinen Anspruch mehr auf europäische Investitionshilfen geltend machen können.

Auch in Bonn kommt es zu einem Kurswechsel

Allardt hielt dem entgegen, dass die EWG sich als „echte supranationale Organisation“ konstituieren müsse, wenn sie nicht riskieren wolle, „in den assoziierten Gebieten als Exekutivorgan einzelner Regierungen angesehen und in ihrem Bemühen, etwas Neues zu schaffen, etwas, was neben den direkten Beziehungen zwischen Überseegebiet und Mutterland seinen gültigen Bestand hat, von vornherein diskreditiert zu werden“. Die Wogen schlugen hoch, vom Kommissionspräsidenten Walter Hallstein bekam Allardt keinen Rückhalt, sodass er sich zum Rückzug entschloss. Allardts Nachfolger wurde Hallsteins Kriegskamerad Heinrich Hendus, der als Generalkonsul in Algier beste Beziehungen zu den französischen Autoritäten gepflegt hatte.

Wenig später kam es auch in Bonn zu einem Kurswechsel: Bundeskanzler Adenauer sprach sich im Kabinett für die zuvor blockierten Zuwendungen aus dem Europäischen Entwicklungsfonds an Algerien aus, das nicht als asso­ziiertes überseeisches Territorium galt, sondern seit 1848 in die franzö­sische Département-Struktur integriert war. Administriert wurde das Land mit mehrheitlich muslimischer Bevölkerung weiterhin wie eine Kolonie. Ein komplexes System rassistischer Rechtszersplitterung, das nur euro­päischen Siedlern vollen Genuss ihrer Bürgerrechte erlaubte, ermöglichte hier, was auch in den deutschen Kolonialgebieten bis 1919 an der Tagesordnung gewesen war: „koloniale Herrschaft durch Ambivalenz“ (Jochen von Bernstorff). In den Regierungsverhandlungen über den EWG-Vertrag wurde das Dekolonisierungsprogramm der Vereinten Nationen absichtlich ausgeklammert, wie die Europarechtlerin Hanna Eklund soeben in einer archivbasierten Studie nachweisen konnte („Peoples, Inhabitants and Workers: Colonialism in the Treaty of Rome“, in: European Journal of International Law, Bd. 34, Nr. 4, 2023).

Wie die ambivalente Beziehung Algeriens zur französischen Metropole in der Frühphase der europäischen Integration gezielt zur Sicherung imperialer Interessen genutzt werden sollte, zeigt jetzt die amerikanische Historikerin Megan Brown in einem Buch über die Zuge­hö­rigkeit Algeriens zur Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft, die nach der Unabhängigkeit des Landes 1962 faktisch noch bis zum Abschluss eines bilateralen Kooperationsabkommens 1976 fortbestand („The Seventh Member State“. Algeria, France and the European Community. Harvard University Press, Cambridge, Mass., 2022, geb., 368 S., 36,95 €).

Der Beginn des Unabhängigkeitskrieges änderte die Lage

Natürlich ist, das gesteht die Autorin ein, die Rede vom „Siebten Mitgliedsstaat“ plakativ. Vielerorts wird aber derzeit das Desiderat einer neuen, „kri­tischen“, multiperspektivischen Integrationsgeschichtsschreibung formuliert, die auch koloniale und imperiale Kontinuitäten in den Blick nimmt – da kann ein Tribut an die Aufmerksamkeitsökonomie des akademischen Buchmarkts nicht schaden. Megan Brown löst ihr Versprechen einer überraschenden historiographischen Erkundung in den Tiefenschichten des europäischen Projekts mit einer archivgesättigten, spannend zu lesenden Studie diplomatischen Taktierens und bürokratischen Entscheidens ein. Botschafter, Außenminister und Aktivisten nationaler Unabhängigkeitsbewegungen sind das Personal, aber auch namenlose Beamte der mittleren Ebene, die im Prozess der formalen Dekolonisierung zuweilen nahtlos von Posten in Afrika zu Verwendungen in Brüssel wechseln.

Brown schildert, wie sich Frankreich während der Verhandlungen über die 1951 begründete Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl (EGKS) zunächst bemühte, Algerien aus dem Inte­grationsprozess herauszuhalten. Der Beginn des Unabhängigkeitskrieges änderte die Lage; auf der Bandung-Konferenz im April 1955 solidarisierten sich 29 afri­kanische und asiatische Staaten mit den Unabhängigkeitsbewegungen in Französisch-Nordafrika. Von einer „Europäisierung“ Algeriens versprach sich Frankreich Legitimationsgewinne für die eigenen imperialen Herrschaftsansprüche – und aus einem gemeinsamen Fonds der Mitgliedstaaten wollte man Mittel für eine wirtschaftliche „Entwicklung“ der Algérie française generieren, die nicht nur lokale Unabhängigkeitsbestrebungen besänftigen, sondern der Metropole und ihren europäischen Partnern auch satte Gewinne bescheren sollte.

Eine volle Einbeziehung in die Grundfreiheiten des EWG-Vertrages und insbesondere in die Arbeitnehmerfreizügigkeit war damit allerdings nicht beabsichtigt, aus Rücksicht auf die eigene Wirtschaft und Gesellschaft in der Metropole, aber auch auf die Interessen der anderen Mitgliedstaaten. Italien fürchtete Nachteile für die Strukturentwicklung des Mezzogiorno, Belgien und die Niederlande wollten keine Konkurrenz für die eigenen Kolonien, in der Bundesrepublik war die Begeisterung für ein imperial auf den afrikanischen Kontinent ausgreifendes Europa nicht allgemein: Ludwig Erhard hielt das Binnenmarktprojekt insgesamt für „volks­wirtschaftlichen Unsinn“, Adenau­er und sein Außenminister Heinrich von Brentano befürworteten aus geopolitischen Gründen die „Einbeziehung“ überseeischer Territorien in die EWG.

Erst Anfang 1957, als die Verhandlungen unter dem Eindruck der Suezkrise in den Endspurt gingen und sich die Westeu­ropäer als Mittelmacht zwischen den Blöcken des Kalten Krieges behaupten wollten, wendete sich das Blatt: Frankreich machte eine explizite Nennung Algeriens im Vertragstext (Artikel 227 EWG-Vertrag) zur Bedingung seiner Un­terschrift – als Antwort, wie Brown überzeugend argumentiert, auf die wach­sende Popularität der Nationalen Befreiungsfront (FLN) in der Weltöffent­lichkeit und die Kritik an der franzö­si­schen Algerienpolitik in der UN-Gene­ralversammlung.

Die anderen Fünf lenkten ein, doch die Lage blieb unübersichtlich. Und die in der Rückschau zutage tretenden rechtlichen Grauzonen lassen Hallsteins vielbeschworene Rede von der „Rechtsgemeinschaft“ so ambivalent erscheinen wie die unisono gepflegte europapolitische Meistererzählung eines kontinen­talen Friedensprojekts der westeuro­päischen Staaten. Die europäische Inte­gration war, wie Browns Befunde zeigen, immer schon ein „kaleidoskopisches“, Unterfangen, bei dem oft ganz verschiedene, mitunter gegenläufige Interessen und Motivationen entscheidende politische und rechtliche Entwicklungen in Gang setzten. Das haben auch die Untersuchungen des Münchner Historikers Kiran Klaus Patel zum langen Abschied Algeriens aus der EWG belegt („Projekt Europa“. Eine kritische Geschichte, C.H. Beck, München 2018).

Megan Brown legt nun dar, wie die in der Zwischenkriegszeit unter dem Stichwort „Eurafrika“ von Richard Coudenhove-Kalergi und der Paneuropa-Union propagierte geopoli­tische Konzeption eines europäisch-afrikanischen „Doppelkontinents“ mit asym­metrischen Machtstrukturen im Pro­zess der europäischen Integration reale Kontur gewann. Sie schließt damit an die schwedischen Politikwissenschaftler Peo Hansen und Stefan Jonsson an, die 2015 in einem Buch nicht nur das lange Fortwirken Eurafrikas nachgewiesen, sondern auch die Notwendigkeit einer von Geopolitik, Politischer Ökonomie und Kulturwissenschaften informierten Ana­lyse der Integrationsgeschichte herausgearbeitet haben („Eurafrica“. The Untold History of European Integration and Colonialism. Bloomsbury, London). Auch bei ihnen spielt übrigens, wie bei Megan Brown, die Karikatur von Hanns Erich Köhler eine wichtige bildpolitische Rolle: Sie illustriert deutsche Skepsis, aber auch die Profilierung nationaler Interessen im eurafrikanischen Integrationsprojekt. Dass Köhler vor 1945 einer der erfolgreichsten Karikaturisten der NS-Propaganda war, bleibt bei Brown ebenso unerwähnt wie bei Hansen und Jonsson.

Das Thema ist gar nicht so neu

Deren Thesen erfahren derzeit eine intensive Rezeption in den Europawissenschaften. Das spiegelt gegenwärtige geopolitische Machtverschiebungen im Nord-Süd-Verhältnis, dürfte aber durchaus auch in einer Verbindung mit der anhaltenden Rechtsstaatskrise in der EU und den Debatten um die EU als Empire und den (neo-)kolonialen Charakter der EU-Osterweiterung zu sehen sein. Bezeichnend sind die geschichts- und erinnerungspolitische Verknüpfung und Überlappung verschiedener Zeit- und Ereignisebenen in einer von aktuellen (Krisen-)Ereignissen zugespitzten Perspektive der Dringlichkeit, die häufig auch eine ethische Notwendigkeit der Bearbeitung markierter Forschungsdesiderate hervorhebt.

Dabei ist das Thema gar nicht so neu: Geforscht und geschrieben wurde über Eurafrika und die kolonialen Kontinuitäten im europäischen Integrationsprozess schon vor zwei Jahrzehnten. Im April 2004 organisierten Marie Thérèse Bitsch und Gérard Bossuat in Paris ein Kolloquium der Historiker-Verbindungsgruppe bei der Europäischen Kommission, dessen Ergebnisse zum Gleichlauf von afrikanischer Dekolonisierung und europäischer Integration 2005 publiziert wurden („L’Europe unie et l’Afrique“. De l’idée d’Eurafrique à la Convention de Lomé I).

Nicht nur die EWG sei 1957 gegründet worden, sondern auch eine „Eur­afri­ka­nische Gemeinschaft“, hatte der Histo­riker Thomas Moser schon 2000 in einer materialreichen Studie festgestellt („Eu­ro­päische Integration, Dekoloni­sation, Eurafrika“. Eine historische Ana­lyse über die Entstehungsbedingungen der Eurafrikanischen Gemeinschaft von der Weltwirtschaftskrise bis zum Jaunde-Vertrag, 1929–1963. Nomos, Baden-Baden). Er konnte dem eur­­afri­kanischen „Integrationsleitbild“ damals Po­sitiveres abgewinnen als später Hansen und Jonsson: „Ähnlich wie der Schumanplan einen innereuropäischen Frieden stiftete, beabsichtigte die Euroafrikanische Gemeinschaft unter anti­­­koloniali­sti­schen Vorzeichen, erstmals in der Geschichte ihrer Beziehungen, eine gleichberechtigte Entwicklungspartnerschaft zwischen Europäern und Afrikanern.“ Schnell dominierte allerdings, wie Martin Rempe gezeigt hat, das Leitbild des Homo Europaeus Oeconomicus (F.A.Z. vom 16. September 2009).

Belastete Geschichte des Kolonialismus wird ausgeblendet

Mit dessen Kolonialamnesie soll es nun vorbei sein: Von einer „Auslöschung“ des europäischen Gewissens, der sich nur mit bewusster Wahrnehmung der eigenen Vergangenheit begegnen lasse, spricht der in Bologna lehrende Politikwissenschaftler Gustavo Gozzi, der die neokolonialen Strukturen der EU bis hin zum Abkommen von Cotonou nachgezeichnet hat („Eredità Coloniale e Construzione dell’Europa“. Una questione irrisolta: il „rimosso“ della conscienza europea. Il Mulino, Bologna, 2021). Eine „Pflicht, den Gründungsmythos unserer Disziplin zu hinterfragen“, konstatiert die Europarechtlerin Signe Rehling Larsen („European public law after empires“, in: European Law Open, 1. Jahrgang, Ausgabe 1, März 2022): „Das offizielle Narrativ der europäischen Integration hat es den Mitgliedstaaten ermöglicht, eine schöne Geschichte über sich selbst zu erzählen, in der ihre belastete Geschichte des Kolonialismus und des Imperialen ausgeblendet wird.“

Warum aber wird die koloniale Vergangenheit und Gegenwart der Euro­päischen Union und ihres Rechts von Rechtswissenschaftlern jetzt erst thematisiert, nach nun schon fast zwei Jahrzehnten eifriger (Selbst-)Historisierung des europäischen Integrationsprojekts? Gründe der Amnesie liegen, gibt die an der Universität Leeds lehrende Europarechtlerin Iyiola Solanke in ih­ren Schlussbemerkungen zum Sammelband „Researching the European Court of Justice. Methodological Shifts and Law’s Embeddedness“ (Cambridge University Press 2022) zu be­denken, auch in den Personen der Forschenden. Solanke fordert, dass die empirische Erforschung des Rechts der EU sich an der „Black Lives Matter“-Be­wegung ausrichten soll: „Ein nächster Schritt wird dann folgen, wenn Stimmen junger rassifizierter und minorisierter schwarzer europäischer Wissenschaftler auch in diesen Raum ein­bezogen ­wer­den.“