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Beitrag vom 27.07.2024

Die Tagespost

Afrikas Dornröschen

Trotz der unsicheren Lage im Sahel könnte Westafrika zum Entwicklungsmotor werden.

Michael Gregory

Der übergeordnete Blick auf Afrika zeigt eine Vierteilung, die sich immer mehr verfestigt: ein potenziell besonders reiches, aber von regionalen Machtkämpfen zerrüttetes Herz im Inneren des Kontinents; ein einst stabiler, nach den jüngsten Wahlen in Südafrika und einer Serie von Dürren jedoch zunehmend unberechenbarer Süden; ein nach Jahren des Aufbruchs inzwischen an vielen Stellen erneut ins Kriegschaos gestürzter Osten; aber auch ein sich stabilisierender Westen am Golf von Guinea bis hinauf nach Mauretanien an der Grenze zum Maghreb. Manches deutet darauf hin, dass Westafrika trotz der unsicheren Lage im Sahel zu einem neuen Entwicklungsmotor Afrikas werden könnte.

Allen Pessimisten zum Trotz festigen sich die demokratischen Systeme in der Region. Das haben zuletzt die Präsidentenwahlen in Mauretanien und im Senegal gezeigt. Die Wahlen am 24. März im Senegal seien „ein großer Beweis für die Demokratie der Senegalesen“, sagte Bruno Favero, seit 30 Jahren katholischer Missionar im Senegal, dem Nachrichtendienst Fides. Wahlsieger in Dakar ist der frühere Oppositionspolitiker Bassirou Diomaye Faye, der noch kurz vor der Abstimmung im Gefängnis saß. Viele sagen, auf Geheiß der Vorgängerregierung.

Auftrieb für die demokratischen Kräfte

Freilich muss sich zeigen, was Faye umsetzen wird, doch seine Ankündigungen lassen aufhorchen. „Ich setze mich dafür ein, mit Bescheidenheit und Transparenz zu regieren und die nationale Versöhnung zu fördern“, sagte er. „Ich richte einen besonderen Gedanken an Frauen und junge Menschen. Ein wichtiger Teil der Ressourcen des Landes wird dazu verwendet, ihr Leid und ihre mangelnden Erwartungen zu lindern“, fuhr der gewählte Präsident fort und betonte die Notwendigkeit, „die kreativen Energien aller Senegalesen freizusetzen“.

In Afrika, das vielerorts unter Regierungen leidet, die sich weniger dem Gemeinwohl verpflichtet fühlen als persönlichen Interessen, überraschen solche Sätze. Die bisherige politische Klasse sei nicht mehr attraktiv gewesen und wurde von den Bürgern abgelehnt, „insbesondere unter jungen Menschen, die eine tiefgreifende Veränderung im Land wollen“, sagt Pater Favero. Aber klar, man müsse abwarten, wie sich der neue Präsident künftig verhält. Es gebe viele Herausforderungen, erklärt der Missionar.

Zwar müssen im Senegal nach hitzigem Wahlkampf die Wogen geglättet werden, doch der friedliche Machtwechsel könnte Strahlkraft auf die gesamte Region Westafrika entfalten. Er steht, bei allen Mängeln, für die Funktionstüchtigkeit eines demokratisch legitimierten Systems. Senegals Nachbarn im Sahel – Mali, Niger und Burkina Faso – werden derzeit von Putschregimen regiert. Fayes Sieg könnte den demokratischen Kräften in diesen Ländern und darüber hinaus Auftrieb geben und den Militärs dort klar machen, dass politische Macht nicht ewig währt.

Überdies bekennt sich Faye zum Panafrikanismus. Man muss dieser oft mit linken Forderungen gespickten Idee nicht in allem folgen, doch wenn ein demokratisch gewähltes Staatsoberhaupt eines wichtigen Landes zu mehr Zusammenarbeit in einer Region aufruft, die aus vielen kleineren Einzelstaaten mit zahlreichen Interessen besteht, kann das positive Wirkung entfalten.

Es schwelt noch manche Krise in Westafrika

Auch die Präsidentenwahl in Mauretanien Ende Juni 2024 entsprach demokratischen Regeln. Gewinner ist der bisherige Amtsinhaber, Mohammed Ould Ghazouni. Er erzielte 56 Prozent der Stimmen. Sein Hauptkonkurrent Biram Dah Abeid landete mit rund 22 Prozent auf dem zweiten Platz. Ould Ghazouni wurde 2019 zum ersten Mal gewählt. Nach drei Militärputschen seit 1978 war es damals die erste Abstimmung in Mauretanien, die einen friedlichen Wechsel an der Staatsspitze bedeutete.

Das Land ist zwar nur dünn besiedelt, hat wegen seiner reichen Ressourcen und seiner Lage an der westlichen Flüchtlingsroute eine wichtige geopolitische Bedeutung. Für die EU ist Ould Ghazouni jedenfalls ein strategisch wichtiger Partner. Anfang des Jahres hat die EU-Kommission eine Migrationspartnerschaft mit Mauretanien geschlossen. Es soll legale Migration fördern und zugleich Schleuserkriminalität und Menschenhandel bekämpfen. Zudem soll Mauretanien bei der Aufnahme von Flüchtlingen unterstützt werden.

Es schwelt noch manche Krise in Westafrika, aber es gibt auch wichtige Fortschritte. Dazu gehört nicht zuletzt die friedliche Entwicklung in der mit knapp 30 Millionen Menschen besonders bevölkerungsreichen Elfenbeinküste im Südwesten. Seit dem blutigen Bürgerkrieg 2010/11 befindet sich das fruchtbare und wirtschaftlich vergleichsweise starke Land seit einigen Jahren auf politischem Konsolidierungskurs, der Volksgruppen und Religionen – also Christen und Muslime – aufeinander zugehen lässt.

Sierra Leone auf dem Weg in eine Zukunft mit weniger Gewalt

So kehrte der frühere Präsident Laurent Gbagbo nach zehnjährigem Exil 2021 zurück. Der mit ihm vor dem internationalen Strafgerichtshof angeklagte und ebenfalls freigesprochene Charles Blé Goudé, ehemaliger Führer einer Pro-Gbagbo-Jugendmiliz, darf sich seit 2022 wieder im Land aufhalten. Dies wird als wichtiger Schritt zur Versöhnung gewertet.

Rund tausend Kilometer weiter westlich hat sich das an Ressourcen und Wald reiche Sierra Leone ebenfalls auf den Weg in eine Zukunft mit weniger Gewalt gemacht. Von 1991 bis 2002 herrschte in dem kleinen Land mit einer Fläche etwa so groß wie Bayern ein blutiger Bürgerkrieg. Er gilt als einer der brutalsten Konflikte der jüngeren Geschichte Afrikas. Zehntausende Menschen wurden getötet, Kinder wurden verschleppt und zu Kindersoldaten gemacht, viele Mädchen und Frauen fielen Vergewaltigungen zum Opfer. 60 Prozent der Bevölkerung waren auf der Flucht.

Zwölf Jahre nach Ende des Bürgerkriegs folgte eine weitere verheerende Katastrophe: Ebola. Von all dem hat sich das Land bis heute nicht völlig erholt. Auf dem aktuellen UN-Index der menschlichen Entwicklung (HDI) liegt Sierra Leone auf Platz 184 von 193 Ländern. Mehr als die Hälfte der Menschen lebt von weniger als 1,25 US-Dollar am Tag.

Aber Sierra Leone, das vor Jahren für seine „Blutdiamanten“ traurige Bekanntheit erlangte, hat seit dem Ende des Kriegs bereits zwei friedliche Machtwechsel nach Wahlen erlebt. Das ist selten in Afrika, auch wenn die Wiederwahl des derzeitigen Präsidenten Julius Maada Bio im Vorjahr bis heute umstritten ist. Zudem erholt sich die Wirtschaft langsam. Es sind kleine Erfolge, die aber größere Wirkung entfalten können, wenn zugleich die Zusammenarbeit im westafrikanischen Staatenbündnis ECOWAS ausgebaut wird.

Westafrikas Länder verfügen über üppig vorhandene natürliche Reichtümer
Westafrikas Länder verfügen über unterschiedliche, oft üppig vorhandene natürliche Reichtümer: fruchtbare Böden, wertvolle Bodenschätze bis hin zu einem riesigen Reservoir an erneuerbaren Energien. Alles nur ein paar tausend Kilometer entfernt von Europa. Manche Staaten haben sich aufgemacht, ihre Trümpfe besser zu nutzen.

Präsident Patrice Talon in Benin etwa – 2016 ebenfalls nach einem demokratischen Wechsel an die Macht gekommen – mit einem pro-westlichen, wirtschaftsliberalen Kurs, der zunehmend Investoren anlockt. Neben der Elfenbeinküste überzeugt das Nachbarland Ghana seit längerem mit politischer Stabilität und wirtschaftlicher Stärke. Wenn es der Region gelingt, die weiter bestehenden Konflikte, etwa die Verfolgung christlicher Bürger und die Entführungen in Nigeria, erfolgreicher zu bekämpfen und überdies die regionale Zusammenarbeit voranzutreiben, spricht viel für das Erwachen eines neuen afrikanischen Hoffnungsträgers aus dem Dornröschenschlaf.