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Beitrag vom 20.05.2025

NZZ

Statt über verfolgte Christen sprechen sie lieber über Islamophobie – wie westliche Kirchen ihre Gläubigen in Afrika und Asien verraten

In Nigeria massakrieren Islamisten Tausende Christen. Die Reaktionen im Westen sind bezeichnend.

Kacem El Ghazzali

Der siebenjährige Nenche Steven überlebte wie durch ein Wunder. Islamistische Fulani-Milizen brachen am 13. April nachts in sein Zuhause ein. Sie erschossen seinen Vater, hackten seiner Mutter die Arme ab und versuchten, Nenche und seine beiden Geschwister mit Macheten zu enthaupten. Nur Nenche überlebte. Sein Schicksal wird in westlichen Medien kaum erwähnt, und die hiesigen Kirchen sprechen kaum über ihn.

Der Palmsonntag 2025 begann in der christlichen Gemeinde Zike im nigerianischen Gliedstaat Plateau wie jeder Feiertag – mit Gebeten und Vorbereitungen für den Gottesdienst. Was folgte, war eines der brutalsten Massaker in der jüngeren Geschichte Nigerias: Die Fulani-Milizen töteten 56 Menschen, unter ihnen zahlreiche Kinder, mit unvorstellbarer Grausamkeit.

Aus religiösem Hass wird ein Konflikt zwischen Bauern und Hirten

Dies war kein isolierter Vorfall. Innerhalb von nur drei Wochen wurden in dieser Region 126 Christen getötet und etwa 7000 Menschen vertrieben. Die Statistik ist erschütternd: Seit 2009 wurden in Nigeria über 50 000 Christen durch islamische Extremisten ermordet. John Eibner, internationaler Präsident von Christian Solidarity International (CSI), kommt zu einem vernichtenden Urteil: Für viele westliche Politiker schienen schwarze, christliche Opfer keine Rolle zu spielen. Eine Einschätzung, die durch die spärliche Medienberichterstattung und die politische Reaktion auf diese Gewalt bestätigt wird.

Die nigerianische Regierung hat die brutalen Übergriffe lange als Konflikt zwischen Hirten und Bauern dargestellt, in dem es um knappe Ressourcen gehe. Eine Interpretation, die von internationalen Medien und manchen NGO weitgehend übernommen wurde. Doch für die Überlebenden ist diese Deutung eine zynische Verharmlosung. Wenngleich Konflikte um Land und Ressourcen eine Rolle spielen, darf die islamistische Ideologie als treibende Kraft nicht geleugnet werden. Gerade sie erklärt, weshalb die Angriffe gezielt während religiöser Messen stattfinden, warum Kirchen systematisch zerstört werden und die Gewalt von Rufen wie «Allahu akbar» begleitet wird.

Zwangsbekehrungen und -heiraten in Pakistan

Die Gewalt in Nordnigeria ist Teil eines globalen Musters. Nach Angaben des christlichen Hilfswerks Open Doors werden derzeit etwa 380 Millionen Christen weltweit wegen ihres Glaubens diskriminiert oder verfolgt. In 78 Ländern erleben Christen ein hohes Mass an Verfolgung.

Besonders prekär ist die Situation in Pakistan, das im Weltverfolgungsindex von diesem Jahr den achten Platz belegt. Religiöse Minderheiten werden nicht als gleichberechtigte Bürger behandelt. Jährlich werden mehr als tausend christliche und hinduistische Mädchen entführt, zur Konversion gezwungen und mit muslimischen Männern verheiratet.

Die berüchtigten Blasphemiegesetze, die unter General Zia-ul-Haq in den 1980er Jahren verschärft wurden, sehen für angebliche Beleidigungen des Islams oder des Propheten Mohammed drakonische Strafen vor – bis hin zur Todesstrafe. Diese Gesetze werden regelmässig instrumentalisiert, um persönliche Konflikte auszutragen und religiöse Minderheiten einzuschüchtern.

Im Nahen Osten, der historischen Wiege des Christentums, schwindet die christliche Präsenz dramatisch. Im Irak ist die christliche Bevölkerung seit 2003 von etwa 1,5 Millionen auf weniger als 150 000 geschrumpft. In Syrien sind Hunderttausende Christen vor dem Bürgerkrieg und islamistischen Milizen geflüchtet. In Ägypten erleben koptische Christen regelmässig Diskriminierung und Gewalt.

Dramatischer Abstieg des Christentums

Einst versuchten Christen und säkulare Denker während der arabischen Nahda (der Renaissance des 19. Jahrhunderts), die Zugehörigkeit zur arabischen Nation über Sprache, Kunst und Philosophie zu definieren – und nicht über die Religion. Mit dem Aufstieg islamistischer Bewegungen im 20. Jahrhundert erfolgte eine zunehmende Vermischung von Religion und Nationalismus. Damit begann der dramatische Abstieg des Christentums im Nahen Osten.

Autokratische Regime und religiös motivierte Gruppierungen erhöhen systematisch den Druck auf christliche Gemeinschaften. Der Religionssoziologe Philip Jenkins stellt in seinem Werk «The Next Christendom» eine bemerkenswerte Verschiebung fest: Während das Christentum im säkularen Westen zunehmend an Bedeutung verliert, erlebt es im globalen Süden eine Renaissance – oft unter Bedingungen extremer Verfolgung.

Diese paradoxe Entwicklung bleibt im westlichen Diskurs weitgehend unbeachtet. Während das Warnen vor angeblicher Islamophobie in linken und kirchlichen Kreisen populär ist, findet das systematische Leiden von Millionen verfolgten Christen kaum Eingang in die öffentliche Debatte. Ein Schweigen, das verstörende Fragen über die selektive Empathie westlicher Gesellschaften aufwirft.

Christliche Opfer passen nicht ins progressive Weltbild

In der ideologisch verengten Weltsicht mancher progressiver Westler werden Christen aufgrund ihrer historischen Verbindung mit dem westlichen Kolonialismus pauschal als Täter kategorisiert – ungeachtet ihrer tatsächlichen Situation. Während Gewalt gegen christliche Minderheiten systematisch ausgeblendet wird, gilt jede Kritik am politischen Islam reflexartig als «islamophob» oder «rassistisch». Gleichzeitig werden Christen im Gegensatz zu anderen religiösen Gruppen nicht als relevant wahrgenommen. Weder in Bezug auf die Sicherheit noch bezüglich der Wirtschaft oder der Politik.

Der mauretanische Anti-Sklaverei-Aktivist Mohamed Cheikh Ould Mkhaitir, der wegen seiner Kritik an der Tradition der Sklaverei im Islam zum Tode verurteilt wurde, beschrieb dies treffend als «Fluch der Geopolitik»: ein System, in dem humanitäre Prinzipien hinter strategischen, wirtschaftlichen und sicherheitspolitischen Interessen zurückstehen müssen.

Möglicherweise liegt die Erklärung auch tiefer: Vielleicht erinnert das vitale, kompromisslose Christentum der Verfolgten westliche Beobachter an etwas, womit sie nichts mehr zu tun haben wollen. Die Existenz dieser mutigen Glaubensgenossen wirkt auf die zunehmend säkularen Gesellschaften des Westens möglicherweise verstörend. Die verbliebenen Christen werden mit einer Interpretation ihres eigenen Glaubens konfrontiert, die sie als fremd, unbequem und letztlich beschämend empfinden, da sie die Oberflächlichkeit ihres eigenen religiösen Engagements offenlegt.

Modethemen statt Solidarität

Die Frage drängt sich auf: Wo bleiben die Kirchen und die christlichen Theologen im Westen, die doch verpflichtet wären, eine Stimme für ihre Schwestern und Brüder im Glauben zu sein? Wer die hiesigen Kirchen medial verfolgt, wird enttäuscht. Sie schweigen, und in ihren interreligiösen Bemühungen wird das Thema der verfolgten Christen kaum angesprochen. Sie bemühen sich nicht nur, eine theatralische Harmonie nach aussen zu zelebrieren. Sie machen auch gerne mit, wenn es darum geht, aus angeblicher «Islamophobie» einen Popanz zu machen.

Dabei geht es Muslimen jeder Konfession nirgends besser als im Westen. Nicht einmal im vergleichsweise liberalen sunnitischen Marokko können Schiiten ihren Glauben frei leben.

Dies bestätigt der muslimische Rechtsgelehrte und Islamwissenschafter Abdullahi Ahmed an-Na’im in seinem Werk «Islam and the Secular State». Er argumentiert, dass Muslime paradoxerweise nur in säkularen Staaten wahre Religionsfreiheit geniessen könnten. Es sei daher wichtig, dass westliche akademische und religiöse Institutionen ihr Engagement für die verfolgten Christen in vielen Teilen der Welt intensivierten – ohne dabei ihre legitime Kritik an allen Formen religiöser Diskriminierung zu vernachlässigen.