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Beitrag vom 10.07.2025

NZZ

Statt Kenya zu erneuern, spaltet Präsident Ruto das Land

Die Massenproteste in einer der grössten Volkswirtschaften Afrikas reissen nicht ab

Samuel Misteli, Nairobi

Vor wenigen Tagen, als sich wieder Zehntausende von Kenyanerinnen und Kenyanern anschickten, gegen ihn zu demonstrieren, identifizierte Präsident William Ruto den eigentlichen Gegenspieler: «Ein böser Geist ist schuld an Gewalt, Zerstörung, Verwirrung und Unruhe.» Ruto sprach, wie so oft, in einer Kirche. Der Präsident demonstriert gern seine Frömmigkeit. Die versammelten Priester rief er zum Beten auf: um den bösen Geist zu besiegen, der «unser geliebtes Land Kenya» bedrohe.

Millionen von Kenyanerinnen und Kenyanern stimmen dem Staatspräsidenten zu, dass ihr Land von einem bösen Geist bedroht werde. Allerdings trägt dieser ihrer Meinung nach den Namen William Ruto.

Vor allem Junge demonstrieren

Seit mehr als einem Jahr protestieren in Kenya – der drittgrössten Volkswirtschaft der Länder südlich der Sahara?– vor allem junge Leute gegen Rutos Regierung. Sie demonstrieren gegen Korruption, Polizeigewalt, Arbeitslosigkeit und hohe Lebenskosten. Mehr als hundert Personen haben bei den Protesten bereits ihr Leben verloren.

Auch am Montag, dem Tag nach Rutos Predigt, wurden bei Demonstrationen im ganzen Land mindestens 31 Personen getötet. Die meisten von ihnen wurden von der Polizei erschossen. Die Proteste fanden am Jahrestag von grossen Demonstrationen im Jahr 1990 statt: Damals forderten die Kenyanerinnen und Kenyaner ein Ende der Einparteiherrschaft unter Präsident Daniel arap Moi.

Viele Einwohner glauben heute, ihr Land habe seit 1990 kaum Fortschritte gemacht. Laut einer Umfrage von Ende Mai sind nur 14 Prozent der Befragten der Meinung, Kenya bewege sich in die richtige Richtung.

Dabei hatte Rutos Präsidentschaft im September 2022 mit grossen Versprechen begonnen. Nach seinem überraschenden Wahlsieg versprach der damals 55-Jährige den Bruch mit der alten Politik: mit den korrupten Eliten, die das Land seit der Unabhängigkeit 1963 beherrschten und ihm Arbeitslosigkeit und Überschuldung beschert hatten. Ruto inszenierte sich als «hustler», als Anführer der Millionen Kenyaner, die von früh bis spät schuften und ihre Familien trotzdem kaum ernähren können. Er führte dabei seine Biografie ins Feld. Als Jugendlicher hatte er an der Landstrasse Hühner verkauft. Dann war er zum schwerreichen Geschäftsmann und Politiker aufgestiegen. Ruto erzählte eine kenyanische Version des amerikanischen Traums.

Heute empfinden viele in Kenya Rutos Präsidentschaft als Albtraum. Seine Regierung – bestückt mit vielen schlecht qualifizierten Loyalisten – senkte nicht wie versprochen die Lebenskosten. Sie kündigte stattdessen eine Reihe neuer Steuern an, um dringend benötigtes Geld einzutreiben. Steuern auf Brot und Speiseöl etwa, die Niedrigverdiener am härtesten trafen.

Eine Kirche mit 8000 Plätzen

Gleichzeitig schien sich Rutos Regierung noch schamloser zu bereichern als frühere. 2024 beklagte sich Washington, es sei für US-Firmen schwierig, in Kenya Geschäfte zu machen, weil Regierungsmitglieder hohe Bestechungsgelder forderten bei der Auftragsvergabe. Von der versprochenen neuen Politik war nichts zu sehen. Es regte sich Widerstand. Vor allem junge Leute, die etwa nach dem Universitätsabschluss keine Stelle fanden, gingen auf die Strasse. Am 25.?Juni 2024 erreichten die Proteste ihren Höhepunkt, Demonstranten stürmten das Parlament in Nairobi. Die Polizei erschoss mehr als zwanzig Personen.

Seither rumort es unablässig in Kenya. Die Medien berichten über immer neue Skandale. Der jüngste wurde Anfang Juli bekannt: Der Präsident will in seiner Residenz eine Kirche bauen lassen, angeblich mit 8000 Plätzen. Umgerechnet acht Millionen Franken soll das kosten. Ruto zeigte nach dem öffentlichen Aufschrei keine Reue: Allenfalls der Teufel werde es ihm verübeln, dass er eine Kirche baue.

Hatte der Präsident vor einem Jahr noch Verständnis für den Frust vieler junger Kenyaner geäussert, beschuldigt er inzwischen die Demonstranten, das Land in die Anarchie zu stürzen. Rutos Gegner glauben, der Präsident führe das Land zurück in die Zeit vor 1991, als Kenya autoritär geführt wurde. Im vergangenen Jahr haben Kenyas Polizei und Geheimdienste Dutzende von Aktivisten entführt und zum Teil gefoltert. Journalisten werden eingeschüchtert. Am Montag versuchte die Polizei die Proteste zu stoppen, indem sie die üblicherweise geschäftige Innenstadt von Nairobi mit Stacheldraht absperrte. Die Proteste explodierten daraufhin in Aussenquartieren.

Jene, die dem Präsidenten von Anfang an skeptisch gegenüberstanden, fühlen sich bestätigt. Ruto war nie der Aussenseiter, als den er sich bei der Wahl 2022 gab. Er ist seit den 1990er Jahren Teil des politischen Establishments. Er begann in der Jugendorganisation der einstigen Monopolpartei Kanu, wurde später Abgeordneter und Minister. Als Ruto 2022 den Klassenkämpfer gab, war er als Vizepräsident der zweitmächtigste Mann im Land.

Angeklagt in Den Haag

Rutos Karriere war auch von Vorwürfen politischer Gewalt begleitet. 2011 wurde er vom Internationalen Strafgerichtshof (ICC) angeklagt, weil er vier Jahre zuvor nach einer umstrittenen Präsidentschaftswahl ethnisch motivierte Attacken orchestriert haben soll. Mehr als tausend Personen wurden damals getötet. Der ICC liess die Anklage gegen Ruto 2016 fallen. Zuvor waren Zeugen bestochen oder eingeschüchtert worden, mehrere kamen unter ungeklärten Umständen ums Leben.

Rutos schärfste Kritiker sagen, der Präsident sei schon immer über Leichen gegangen. Und tue dies auch jetzt wieder. 2027 findet die nächste Wahl statt, Ruto will sich bestätigen lassen. Manche Beobachter mahnen schon jetzt, es werde zu Gewalt kommen. Und bei der Umfrage im Mai sagte die Hälfte der Befragten, sie glaubten nicht, dass die Wahl fair verlaufen werde.

«Wenn es kein Land gibt für William Ruto, gibt es auch kein Land für euch», mit diesen Worten richtete sich der Präsident noch im Juni an die Demonstranten. Er meinte: Wir sitzen alle im selben Boot, brennt das Land nicht nieder. Die Demonstranten aber verstanden den Satz als Drohung: Eher geht das Land unter, als dass ihr mich loswerdet.