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Für eine andere Entwicklungspolitik!

Beitrag vom 09.07.2014

Badische Zeitung

Stammeskriege haben den Südsudan in eine Hölle verwandelt

Johannes Dieterich

Eigentlich könnte der neue Staat Südsudan heute seinen dritten Geburtstag feiern - doch Stammeskriege haben ihn in kürzester Zeit in eine Hölle verwandelt.

Sie kommen zweimal am Tag, morgens um neun und nachmittags um drei. Sie halten kleine Bündel in den Armen, drei, manchmal sechs. Sie gehen im Gänsemarsch durch das Sorghum-Feld, bis sie die containergroßen Gruben erreichen. Die meisten davon sind mit Regenwasser gefüllt. Eine wurde trockengelegt. In ihr sind Erdhäufchen zu sehen, auf denen Kreuzchen aus Sorghum-Stengeln stecken. Behutsam legt ein Mann eines der Bündel in die Grube, vier Männer schaufeln lehmige Erde darauf. Keiner spricht, keiner singt, die Frauen weinen. Die kurze Prozedur wird wiederholt, bis schließlich alle Bündel begraben sind. Eine Grube ist für 15 tote Kinder gedacht. In spätestens zwei Tagen ist sie voll.

Darryl Stellmach schaut zum Himmel und legt die Stirn in Falten. "Sieht nicht gut aus", sagt der Nothilfekoordinator der "Ärzte ohne Grenzen" düster, "womöglich geht es schon heute Abend wieder los." Damit meint der Kanadier ausnahmsweise nicht das Geschützfeuer, das die Arbeit der Hilfsorganisation zuletzt immer wieder unterbrochen hat. Dann nämlich müsste sich das Lagerpersonal schleunigst in die mit Sandsäcken befestigten Bunker zurückziehen. Doch weil gerade Feuerpause herrscht, gelten Stellmachs Sorgen einer anderen Gefahr: dass sich der Himmel wieder öffnet und das riesige, wenige Kilometer außerhalb der Provinzhauptstadt Bentiu gelegene UN-Camp vollends in einen unpassierbaren Morast verwandelt.

Schon jetzt ist das drei Quadratkilometer große Gelände ein Sumpf. Hinter dem Stahltor stehen Radpanzer bis zur Achse im Schlamm, heulend suchen sich Allradwagen einen Weg durch teichgroße Pfützen. Die Bewohner des hoch umzäunten Camps - 200 Mitarbeiter von Hilfsorganisationen und ein Blauhelmbataillon aus der Mongolei - tragen Gummistiefel, ihre Wohncontainer stehen auf Betonklötzen, unter denen ganze Froschdivisionen quaken.

Mehr als 40 000 Flüchtlinge, die sich nahe dem Camp niedergelassen haben, müssen auf den Luxus erhöhter Container verzichten. Sie hausen unter Plastikplanen, an denen stinkendes Schlammwasser entlangfließt. Solche Zustände habe er noch nie erlebt, versichert Darryl Stellmach, und er ist seit zehn Jahren mit den Ärzten ohne Grenzen unterwegs. Dabei hat die Regenzeit noch gar nicht richtig begonnen. Bald wird auch die Landepiste nicht mehr zu gebrauchen sein. "Dann sind wir hier vollends abgeschnitten", sagt Stellmach. Schon jetzt sind die ausschließlich ungeteerten Straßen im Norden des Südsudans fast unpassierbar: Von einem Nahrungsmittelkonvoi, der vor zwei Wochen im tausend Kilometer entfernten Juba aufgebrochen ist, fehlt jede Spur. Unterdessen spitzt sich die Lage der Flüchtlinge zu. Nur wenige kommen an sauberes Trinkwasser, Kinder baden im Abwasserbecken des Camps, ein Ausbruch der Cholera scheint nur eine Frage der Zeit zu sein. Eben wurde eine erste verdächtige Stuhlprobe an ein Labor in Kenia geschickt. Bestätigt sich der Verdacht, ist das Desaster perfekt. Toby Lanzer, UN-Beauftragter für humanitäre Angelegenheiten im Südsudan, sieht eine Katastrophe kommen: "Wenn wir nicht schleunigst mehr tun, werden wir hier die entsetzlichsten Szenen erleben."

Es ist der unsinnigste Konflikt von allen. Eigentlich sollten die Südsudanesen am heutigen 9. Juli den dritten Jahrestag ihrer bejubelten Unabhängigkeit feiern. Stattdessen versinkt der jüngste Staat der Welt im Chaos. Auf die Befreiten wartet der Tod auf dem Schlachtfeld oder der Hungertod. Drei Jahrzehnte lang kämpfte die Südsudanesische Befreiungsarmee SPLA für ein Ende der Unterdrückung der christlich afrikanischen Bevölkerung durch die von arabischen Muslimen dominierte Regierung in Khartum - und als sie schließlich erfolgreich war, bringen sich die ehemaligen Waffenbrüder jetzt gegenseitig um.

Ein Konflikt um die Führung des Landes zwischen Präsident Kiir und dessen Ex-Stellvertreter Machar eskalierte 2013 zum blutigen Bruderkrieg. Seitdem versuchen Angehörige der beiden größten Volksstämme - die Dinka von Kiir und die Nuer von Machar - einander auszulöschen.

Bentiu ist einer der Brennpunkte. Die Hauptstadt der erdölreichen Unity-Provinz wechselte seit Dezember viermal die Seiten, jeder neue Fall der Stadt wurde von immer blutigeren Grausamkeiten begleitet. Bentius schwärzeste Stunde kam, als Machars Rebellen im März wieder die Kontrolle über die Stadt errangen. In der Moschee, der Kirche und dem Hospital wurden Hunderte massakriert, während Einpeitscher die Nuer-Bevölkerung über Radio Bentiu FM zur Jagd auf Dinka-Männer und die Vergewaltigung von deren Frauen aufriefen. Heute sind fast alle Einwohner in den Busch oder das Camp geflohen. Dort sind sie - in Dinka und Nuer getrennt - gemeinsam dem Elend ausgeliefert.

Nyabuath Machgar sitzt auf dem Boden vor ihrer aus Ästen und Plastik zusammengebastelten Hütte und mahlt zwischen zwei Steinen Getreidekerne. Sie lebt mit ihren acht Kindern schon seit vier Monaten im Lager, ihr Mann wurde bereits bei den ersten Unruhen von Regierungssoldaten erschossen. Die spindeldürre Nuer-Frau kann weder ihr Feld bestellen noch ihre Rinder hüten (falls diese überhaupt noch leben). Außerhalb des UN-Camps ist dieser Tage keiner sicher. In weiten Teilen des Landes wurde vor der jetzt beginnenden Regenzeit keinerlei Saat ausgebracht. Eine Ernte wird es hier nicht geben. Zehn Millionen Ziegen und Rinder irren herrenlos durch die Gegend, der Viehbestand des Landes ist um 40 Prozent geschrumpft.

Hier im Lager erhält Frau Machar für sich und die Kinder immerhin 50 Kilogramm Sorghum im Monat, zwei Liter Öl und ein Säckchen Bohnen. Davon kann die Familie gerade so überleben. Doch werden im Südsudan bald mehr als vier Millionen Menschen auf Nahrungsmittelhilfe angewiesen sein - und wie das bewerkstelligt werden soll, steht in den Sternen. UN-Experte Toby Lanzer rechnet vor, dass das Welternährungsprogramm (WFP) für die nächsten zwölf Monate 1,8 Milliarden Dollar benötigt, um den Bedarf an Hilfsgütern zu decken - nicht einmal die Hälfte davon ist derzeit gesichert. Das WFP musste bereits seine Rationen reduzieren, die Zahl der Unterernährten steigt drastisch. Spätestens für Weihnachten rechnet er mit der höchsten Alarmstufe der Helfer: Dann werden - wenn nichts Entscheidendes passiert - täglich mindestens drei von zehntausend Südsudanesen den Hungertod sterben.

Thijin Dak ist neun Monate alt und wiegt knapp vier Kilo. Seine spitzen Knochen drohen die faltige Haut zu durchbohren, in seiner Nase steckt ein Plastikschlauch, über den ihm Sauerstoff zugeführt wird. Thijin liegt neben seiner Mutter in der Intensivstation des Hospitals, das die Ärzte ohne Grenzen zwischen den UN-Containern und dem Flüchtlingslager eingerichtet haben: In dem weißen Mannschaftszelt liegen noch weitere 25 Kinder neben ihren Müttern auf Matratzen auf dem Boden. Es ist still hier: Die Kinder haben keine Kraft zum Schreien mehr, sie sind mit dem Kampf gegen den Tod beschäftigt. Thijin hat die Augen aufgerissen, er atmet flach und schnell. Neben Mangelernährung leidet der Junge an einer Lungenentzündung, sein Mund ist weiß von Pilz. "Ich glaube nicht, dass er es schafft", sagt Nora Echaibi, eine holländische Krankenschwester marokkanischer Herkunft.

Am Ende des Zelts schreit eine Frau auf - eben ist ihr Kind gestorben. Angestellte suchen die junge Mutter zu beruhigen, trotzdem wird sie noch Stunden schluchzen. Solche Szenen ereigneten sich hier mehrmals am Tag, sagt Nora Echaibi. In den sechs Wochen, die sie hier arbeitet, hat sie das weit über hundertmal erlebt. "Ich darf gar nicht daran denken, wie viele Kinder ich schon sterben gesehen habe", sagt die Krankenschwester: "Es ist ein Skandal."

Dass die 39-Jährige noch nicht völlig verzweifelt ist, liegt an dem Zelt neben der Intensivstation. Dort sind die geretteten Kinder untergebracht. Die Stimmung hier ist gelöst. Die Kinder schreien oder spielen, ihre Mütter plaudern. Nora schäkert mit einem Zweijährigen, den sie ihren kleinen Prinzen nennt. Der dem Tod Entronnene strahlt die Krankenschwester mit den langen dunklen Haaren an - noch immer schwach, aber glücklich.

In den vergangenen Tagen ist es der Hilfsorganisation gelungen, die Todesrate unter den Kindern etwas zu drücken. Statistisch formuliert kommen hier pro Tag nur noch drei von 10 000 Kindern um. Von einem humanitären Notfall spricht man, wenn täglich zwei von 10 000 unter fünf Jahre alten Kindern sterben. Wie sich die Situation weiterentwickelt, hänge vor allem von den Konfliktparteien ab, sagt Toby Lanzer. Wichtigste Bedingung für eine Entspannung sei natürlich, dass die Kämpfe endlich zum Ende kommen. Doch der dritte und jüngste Versuch, eine Waffenruhe auszuhandeln, ist soeben in Addis Abeba gescheitert. Unverrichteter Dinge reisten die Delegationen der Regierung und der Rebellen wieder ab. In Juba geht man davon aus, dass der Krieg noch Monate oder gar Jahre weitergeht: Womöglich hörten die Gefechte erst auf, wenn eine der beiden Seiten bankrott oder ausgeblutet sei, sagen westliche Diplomaten. Das vergangene halbe Jahr habe den Hass zwischen den Bevölkerungsgruppen dermaßen geschürt, dass an Versöhnung gar nicht zu denken sei, sagt UN-Mann Toby Lanzer: Selbst Kabinettsminister zeigten sich von der Brutalität erschreckt, mit der der Krieg geführt wird. Sie töten Frauen und Kinder, als ob sie Fliegen seien, klagt eine Frau in Bentius Flüchtlingslager: "So haben sich nicht einmal unsere arabischen Todfeinde während des Bürgerkrieges verhalten."

Es ist nachmittags um drei - Zeit für die Beerdigungen. Nora Echaibi öffnet die Holztür zu einem Schuppen, der als Leichenschauhaus für Kinder dient. Auf einem Holzgestell liegen vier kleine Bündel: die unter Fünfjährigen, die seit dem Morgentermin gestorben sind. Echaibi nimmt den kleinen Leichen die Kanülen, das Identifizierungsarmband des Krankenhauses und die traditionellen hölzernen Halsketten ab, sie packt die Fliegengewichte vorsichtig in weiße Leichensäcke, die sie - um wertvolle Ressourcen zu sparen - zuvor in zwei Hälften geschnitten hat. Dann werden die Mütter gerufen und zwei Fahrzeuge organisiert. Sie bringen die Frauen mit ihren Bündeln und einer Handvoll männlicher Tagelöhner als Bestatter vor das Lager.

Wenige hundert Meter vom Tor entfernt liegt das Sorghum-Feld, hinter dem die Kinder ihren letzten, feuchten Ruheplatz finden. Nach der stillen Prozedur, die sich heute viermal wiederholt, stellen sich die Bestatter mit den Müttern um das Massengrab, um schließlich doch noch ein Lied zu singen. Es klingt rau und trostlos wie eine Schallplatte, die vom vielen Abspielen bereits abgenützt ist. Dann löst sich die Gruppe auf, und Nora Echaibi kehrt ins Hospital zurück. Dort erfährt sie, dass der kleine Tijin inzwischen gestorben ist. Sein kleiner Körper liegt bereits im Schuppen.