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Für eine andere Entwicklungspolitik!

Beitrag vom 20.08.2014

Süddeutsche Zeitung

Brillen für die Welt

Martin Aufmuth hilft Entwicklungsländern, günstige Gläser und Gestelle herzustellen. Die Technik dafür hat er in seinem Erlanger Reihenhaus entwickelt - im Keller

Von Uwe Ritzer

Robust ist sie, biegsam und leicht. Aus einem hochlegierten Federstahldraht, der nicht rostet. Und mit Linsen aus kratzfestem und schier unzerbrechlichem Kunststoff, die man in drei Sekunden mühelos in die Fassung stecken kann. Bunte Glasperlen am Bügel sorgen für etwas Farbe. "Im Grunde ein Designerstück", sagt Martin Aufmuth und lächelt. Auf jeden Fall aber von der Montage her "die schnellste Brille der Welt".

Neulich habe eine afrikanische Kuh auf solch einer Brille herumgekaut, erzählt er. Die Sehhilfe habe danach reichlich ramponiert ausgesehen. Aber kaputt sei sie nicht gewesen. Robust muss sie auch sein, denn die Menschen, die solche Brillen tragen, leben oftmals weit entfernt von Städten, in denen man defekte Augengläser reparieren lassen kann. Und die Fahrt dorthin wäre für sie zu lang, zu umständlich - und zu teuer.

Martin Aufmuth ist 40 Jahre alt und Realschullehrer für Mathematik und Physik in Erlangen. Doch zurzeit macht er ein Jahr Pause, um sich ausschließlich um das Projekt zu kümmern, dem er sich seit fünf Jahren verschrieben hat: der Ein-Dollar-Brille für Menschen in Entwicklungsländern. Es ist ein soziales Projekt mit einer "großen wirtschaftlichen Komponente", sagt er.

150 Millionen Menschen weltweit können sich keine Brille leisten, obwohl sie eine bräuchten. Allein in Afrika gebe es der Weltgesundheitsorganisation WHO zufolge sechs Millionen Menschen mit schwachen Augen, die arbeiten könnten, wenn sie denn eine Brille hätten, sagt Aufmuth. Dadurch entginge den Volkswirtschaften dieser armen Länder eine jährliche Wertschöpfung von 125 Milliarden US-Dollar. In etwa so viel, wie die Staaten weltweit für Entwicklungshilfe ausgeben.

Aufmuth hat Gleichgesinnte gesucht und sich aufgemacht, den Brillennotstand in armen Ländern zu bekämpfen. Mit kleinem Aufwand maximalen Nutzen generieren, dieser Ansatz fasziniert ihn. "Wir haben viel mehr Möglichkeiten, etwas gegen Armut und Ungerechtigkeit zu tun, als wir immer glauben", sagt Martin Aufmuth. Spenden? "Man kann Menschen nicht aus der Armut herausspenden."

Das klingt stark nach Paul Polak, dessen Buch "Out of Poverty" für den Erlanger so etwas wie ein Erweckungserlebnis war. Polak, ein in Tschechien geborener Kanadier, ist Unternehmer und Entwicklungshelfer und vor allem überzeugt, dass beides nur zusammen funktioniert. Entwicklungshilfe soll nicht nur sozial getrieben sein, sondern auch unternehmerisch unterfüttert. Aufmuth hat "Out of Poverty" verschlungen - und einige Kernsätze daraus gehen ihm nicht aus dem Kopf. Zum Beispiel, dass man eine Idee zur Entwicklungshilfe besser fallenlassen sollte, wenn man damit nicht Minimum 30 Millionen Menschen erreicht. Weil es sonst an Wirksamkeit fehlt.

In seinem Buch beklagt Polak auch den Brillenmangel in armen Ländern, der Millionen sehschwache Menschen daran hindere, ihren Lebensunterhalt selbst zu verdienen. "Ein paar Tage, nachdem ich das gelesen hatte, ging ich hier in einen Ein-Euro-Laden", erzählt Martin Aufmuth. Dort habe er sich gewundert, weshalb es im reichen Deutschland Lesebrillen für einen Euro gebe, offenkundig aber nicht in Afrika.

Aufmuth holt einen Holzkasten aus dem Keller. Das Reihenhaus, das der Zopfträger mit seiner Familie in einem Erlanger Vorort bewohnt, ist längst die Zentrale aller Aktivitäten und des Vereins Ein Dollar Brille e.V. Aufmuth klappt die seitlichen Metallverschläge des Kastens auf und nimmt den Deckel ab. Zum Vorschein kommt eine Apparatur, die aussieht wie die Teller eines alten, kleinen Plattenspielers. "Selbst konstruiert", sagt er und fädelt den dünnen Draht ein.

Nach wenigen Drehungen und Biegungen mit dem Plattenarm ist aus dem Draht ein Brillengestell geworden. Danach müssen nur noch die Kunststofflinsen aufgesteckt werden. Es gibt sie abgestuft in den Stärken zwischen minus sechs und plus sechs Dioptrien. Hebt man die Plattenteller-Apparatur hoch, kommen darunter eine Zange und andere, kleine Werkzeuge zum Vorschein. Es ist alles, was Brillenbastler fernab von Baumärkten oder Optikerläden so brauchen.

Der Holzkasten ist wie eine tragbare Optikermaschine. Sie funktioniert ohne Strom, weil der in abgelegenen Regionen des Erdballs ohnehin nur selten vorhanden ist. Entwickelt hat sie der Hausherr persönlich, im Keller des Erlanger Reihenhauses. Das Material für eine Aufmuth'sche Brille kostet in etwa einen Dollar. Gefertigt werden die Sehhilfen von Einheimischen in den Entwicklungsländern, die sich dadurch ihren Lebensunterhalt verdienen können. "Deutsche Wertarbeit, aber vor Ort produziert", sagt Aufmuth.

In Nicaragua, Bolivien, Malawi, Burkina Faso und Äthiopien werden unter der Regie des Erlanger Vereins bereits Ein-Dollar-Brillen hergestellt. In Brasilien, Bangladesch, Benin und Ruanda soll die Fertigung bald beginnen, dort stehen noch Genehmigungen aus. Als Ausbilder fungieren Ehrenamtliche des Erlanger Vereins. Sie reisen in die jeweiligen Länder, suchen sich dort geeignetes Personal und lernen es in mehrwöchigen Kursen an besagtem Holzwürfel an. Sie rekrutieren und schulen auch Vertriebsmitarbeiter, die mit fertigen Brillen übers Land ziehen und in den Dörfern das Produkt verkaufen. Jede Brille und jeder Käufer werden registriert, damit kein Schwarzmarkt mit den Produkten entstehen kann.

Der Verkaufspreis der Augengläser unterscheidet sich von Land zu Land. "Er liegt bei zwei, drei Tageslöhnen", sagt Aufmuth, abhängig von der Höhe des jeweiligen Mindestlohns. Vom Überschuss im Vergleich zu den Materialkosten werden die Mitarbeiter pro Ort bezahlt. "Mir ging es darum, ein echtes Geschäftsmodell zu entwerfen", sagt Aufmuth. Die Brillen zum Selbstkostenpreis abzugeben oder zu verschenken, sei der falsche Weg. Denn wie bei den meisten Menschen hierzulande gelte auch für viele Afrikaner oder Lateinamerikaner, dass was nichts kostet, auch nichts wert ist.

Produktion und Verkauf vor Ort haben in der Regel einen langen bürokratischen Vorlauf. Von Erlangen aus korrespondiert Martin Aufmuth Monate im Voraus mit den zuständigen Stellen in den einzelnen Ländern. Mit Ministerien oder Gesundheitsbehörden zum Beispiel, die überzeugt werden müssen, um ihre Zustimmung zu geben. Doch manchmal reicht die beste Genehmigung nicht aus, etwa wenn lokale Eliten etwas gegen den neuen Betrieb haben. Auch sie will Aufmuths Team erst überzeugen. "Wir warten lieber und starten erst, wenn wir sicher sind, dass unser Engagement langfristig funktioniert", sagt Aufmuth. Etwa 40 000 Euro kostet die Expansion pro Land, finanziert über Spenden. Das Geld geht vor allem für Reisekosten der Trainees und den Aufbau stabiler Strukturen drauf.

Bisweilen arbeitet der Ein-Dollar-Brillen-Verein mit Nichtregierungsorganisationen zusammen, welche die örtlichen Gegebenheiten kennen und entsprechende Erfahrungen aufweisen. Zum Beispiel der Verein Sahel aus Schleswig-Holstein, der sich schon seit Jahren in Burkina Faso erfolgreich für Jugendliche einsetzt. Nun produzieren in dem westafrikanischen Land viele beinbehinderte oder -amputierte Menschen die Brillen, für die es ansonsten in dem Land keine Arbeit gäbe.

Besonders wichtig ist Martin Aufmuth, die Qualität der Brillen zu kontrollieren. Deshalb laufen alle Bestellungen von Draht und Kunststofflinsen über das Erlanger Reihenhaus. Über den Materialverbrauch und die Registrierung jeder einzelnen Brille wird genau Buch geführt. "Wir wollen jederzeit lückenlos nachvollziehen können, wie viele Brillen produziert und an wen sie verkauft werden", sagt Aufmuth. Stichprobenartig wird bei Nutzern nachgefragt, ob diese mit ihren Sehhilfen auch zurechtkommen.

Die mobile Holzkastenmaschine, Anschaffungspreis 2500 Euro, wird an die jeweiligen Produzenten nur verliehen. So könne man, sagt Aufmuth, sie jederzeit zurückholen, wenn man mit der Arbeit der Brillenbauer vor Ort unzufrieden sei. Das Biegen einer Brille dauert mit der Apparatur nur wenige Minuten.

Wie kann man das nennen, was Martin Aufmuth tut? "Nachhaltig"? "Hilfe zur Selbsthilfe"? Er selbst hält von plakativen Begriffen wenig, wie er sagt. "Man muss da schon immer genau hinsehen." Offenkundig will er nicht dem Klischee des eifernden Gutmenschen entsprechen, der aus einem reichen Land heraus gönnerhaft soziale Wohltaten vollbringt. Entwicklungshilfe, so Aufmuth, beschäftige ihn als Thema seit vielen Jahren. "Ich hatte immer das diffuse Gefühl, man müsste etwas tun", sagt er. Bis seine Frau eines Tages meinte: Dann tu eben was. Woraus die Erkenntnis wuchs, "dass man mehr Möglichkeiten hat, als man selber oft glaubt".

Wer mit Martin Aufmuth spricht, erlebt einen sehr strukturierten Menschen. Im ersten Berufsleben war der gebürtige Allgäuer Fernsehtechniker. Er sagt, als Kind habe er Erfinder werden wollen. Die Idee von der Ein-Dollar-Brille entwickelt er ziemlich pragmatisch. Robust sollte sie sein, leicht und günstig herstellbar, hübsch aussehen, tauglich für die afrikanische Steppe ebenso wie für den mittelamerikanischen Slum. Ohne Schrauben, die verloren gehen könnten, und herstellbar ohne Strom. Er recherchiert über Brillentypen und mögliche Einsatzländer, studiert Patente, experimentiert mit Materialien.

Im März 2012 folgt der erste Praxistest. Mit mehreren Augenärzten, zu denen Aufmuth Kontakt aufgenommen hatte, fliegt er nach Uganda. Im Gepäck: eine seiner Biegemaschinen, Draht und Linsen. Zwei Wochen lang versorgt er ein Krankenhaus in Kasana unweit der Hauptstadt Kampala mit den ersten Brillen und leitet zugleich die ersten Trainees an. "Danach wusste ich, dass meine Idee funktioniert", sagt er.

Zurück in Deutschland fragt Aufmuth in der Schule kurzerhand einige Kollegen, ob sie mit ihm nicht einen Ein-Dollar-Brillen-Verein gründen möchten. Am selben Nachmittag schreiten sie zur Tat. Heute zählt der Verein knapp 30 Mitglieder und zahlreiche ehrenamtliche Helfer.

Im April 2014 schließlich fährt Martin Aufmuth nach Genf. Die Vereinten Nationen hatten ihn eingeladen, um bei einer entwicklungspolitischen Konferenz sein Projekt vorzustellen. Dort hätten Experten aus mehreren Ländern die Ein-Dollar-Brille als wegweisend gelobt, erzählt er stolz.