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Beitrag vom 30.12.2014

Neue Zürcher Zeitung

Rwanda-Tribunal

Gemischte Bilanz nach 20 Jahren Rechtsprechung

Markus M. Haefliger, Nairobi

Das Internationale Strafgericht, das 1994 nach dem Völkermord in Rwanda gegründet worden ist, stellt die Arbeiten Ende Jahr ein. Das Tribunal leistete Pionierarbeit, aber abgeurteilt wurde nur eine Seite des Konflikts.

Das Internationale Tribunal zur Bestrafung der Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit, die während des Völkermords in Rwanda begangen worden sind, stellt seine Verfahren Ende Jahr offiziell ein. Der Uno-Sicherheitsrat hatte das Tribunal mit Sitz in der tansanischen Stadt Arusha im November 1994 gegründet, sieben Monate nach Beginn der Massaker. Zwischen April und Juni jenes Jahres waren Hunderttausende von Rwandern ermordet worden - sicher mehr als 500 000, möglicherweise bis zu 800 000. Die meisten Opfer gehörten der ethnischen Minderheit der Tutsi an und wurden mit Macheten und anderen einfachen Waffen getötet.

Auftrag nur halb erfüllt

Der Völkermord war der Höhepunkt eines Guerillakriegs zwischen dem Front Patriotique Rwandais (FPR), einer von Tutsi angeführten Rebellenbewegung, und der Regierung des damaligen Präsidenten Juvénal Habyarimana, einem Hutu. Tutsi waren nicht die einzigen Opfer der Massenmorde. Hutu-Hardliner hatten paramilitärische Einheiten gebildet, die auch auf politische Gegner in den Reihen der Hutu Jagd machten. Dazu kam, dass sich der FPR unter Paul Kagame, dem heutigen Präsidenten, zahlreiche Rachemorde zuschulden kommen liess. Ihnen fielen abermals Zehntausende von Menschen zum Opfer, und sie gingen weiter, nachdem der FPR im Juni 1994 die vollständige Macht im Staat errungen hatte. Folgerichtig ermächtigte der Uno-Sicherheitsrat im November 1994 das International Criminal Tribunal for Rwanda (ICTR), alle Menschenrechtsverbrechen zu ahnden, die im Kalenderjahr 1994 begangen wurden.

Es ist nötig, sich das präzise Uno-Mandat in Erinnerung zu rufen, wenn man Bilanz ziehen will. Das Tribunal führte 93 Anklageverfahren durch und verurteilte 61 Beschuldigte, die ihre Strafen in verschiedenen Ländern, vor allem in Westafrika, absassen oder noch absitzen. Das ICTR beschäftigte zeitweise bis zu 1300 Ermittler, Juristen und Hilfskräfte. Es wird für den hohen Aufwand von 2 Milliarden Dollar kritisiert. Auf der Ertragsseite stehen aber nicht nur verhältnismässig wenige Verurteilungen, sondern auch 10 000 Videodokumente von Zeugenaussagen, die der Nachwelt ein detailreiches Bild der Ereignisse vermitteln. Sie zeigen auf, wie sich Extremisten unter den Hutu-Chauvinisten des Staatsapparats bemächtigten, wer sie finanzierte, wie ihre Hass-Ideologie verbreitet wurde, welche Rolle die Armee, paramilitärische Milizen, Geschäftsleute, Kirchen und Medien spielten.

Auch Heldentaten von Hutu, die Tutsi unter ihren Nachbarn und Freunden Schutz gewährten, gingen in die Annalen des Gerichts ein. Das Arusha-Tribunal leistete häufig Pionierarbeit bei der Strafverfolgung von Menschenrechtsverbrechen in einem afrikanischen Umfeld, in dem Befehlsketten informell verlaufen und die Verantwortlichkeiten schwer zu beweisen sind. Die Bilanz wird jedoch dadurch getrübt, dass das ICTR entgegen dem genannten Mandat ausschliesslich Verbrechen untersuchte, die von April bis Juli begangen wurden und den Völkermord an den Tutsi betrafen. Den Auftrag, zur Versöhnung in Rwanda beizutragen, konnte das Tribunal so nicht erfüllen.

Mit der engen Mandatsauslegung verpasste das ICTR die Gelegenheit, eine noch einseitigere Rechtsprechung in Rwanda selber zu korrigieren. Die neuen Machthaber in Kigali wiederbelebten Ende der 1990er Jahre die traditionellen Dorfältesten-Gerichte, sogenannte Gacaca-(«Grasplatz»-)Gerichte, um der schieren Masse von 130 000 gefangengenommenen Völkermord-Verdächtigten Herr zu werden. Zwischen 2005 und 2012 fällten 12 000 Gacaca-Tribunale fast 2 Millionen Urteile; 1,5 Millionen Hutu wurden wegen Völkermords angeklagt, die Übrigen wegen Plünderung. Praktisch jeder erwachsene männliche Hutu musste vor Gericht erscheinen; mehr als zwei Drittel wurden schuldig gesprochen.

Vorwurf der Siegerjustiz

Die Gacaca-Verfahren waren Schauprozesse, bei denen allenfalls Gnade erfuhr, wer sich für schuldig bekannte. Hutu empfanden sie als Siegerjustiz, auch wenn sie dies nicht auszusprechen wagten. Menschenrechtsverbrechen des FPR durften nicht erwähnt werden. Die Regierung hatte für Rachemorde eine zehnjährige Verjährungsfrist angeordnet und den Beginn der Gacaca-Prozesse so lange hinausgeschoben, bis entsprechende Anschuldigungen ohnehin gegenstandslos geworden waren.

Kagames Regime stellt den alleinigen Vertretungsanspruch für die Opfer des Genozids und setzt die Doktrin gegen innen und aussen in den Dienst des eigenen Machterhalts. So setzte Kigali in der Uno durch, dass der Völkermord in offiziellen Bezeichnungen auf den «Genozid an den Tutsi» eingeschränkt wurde. Im abgelaufenen Gedenkjahr 20 Jahre nach den Massakern lancierte die Regierung «Ndi Umunyurwanda» («Ich bin Rwander») eine Serie von Veranstaltungen, bei denen Hutu Gelegenheit erhielten, für die an den Tutsi begangenen Verbrechen symbolisch Verzeihung zu erbitten. Laut dem französischen Soziologen André Guichaoua, der am ICTR wiederholt als Experte in den Zeugenstand getreten war, bildeten die «Verbrüderungen» den bisherigen Höhepunkt einer Staatsideologie, nach der Tutsi und Hutu kollektiv als Opfer beziehungsweise Täter gebrandmarkt werden.

Polemiken aus Kigali

Kigali setzt Kritik an dieser Doktrin mit der Holocaust-Leugnung gleich und nahm entsprechende Strafnormen ins Gesetz auf. Es ist jedoch historisch ungenau, die Shoah und den rwandischen Genozid über einen Kamm zu scheren. Der rwandischen Tragödie ging ein grausamer, vierjähriger Guerillakrieg voraus, in dem der von Uganda eingefallene FPR in wiederholten Angriffswellen Hunderttausende von Bauern vor sich her und in Massenlager trieb. Die Tutsi-Rebellen vertraten nach aussen eine aufgeklärte Politik, aber sie waren nie an einer demokratischen Lösung interessiert, sondern immer nur an einem militärischen Sieg. Die lange anhaltende Eskalation wurde zum Nährboden der völkermörderischen Ideologie von Hutu-Extremisten.

Das Tribunal beugte sich dem Willen Kigalis, wenn es darum gegangen wäre, Vertreter des FPR anzuklagen. In einer Anfangsphase wurde unter anderem auch das Attentat gegen Präsident Habyarimana vom 6. April 1994, das den Völkermord ausgelöst hatte, untersucht. Als der Verdacht auf Kagames Tutsi-Rebellen fiel, liess die Chefanklägerin Louise Arbour die Ermittlungen fallen wie eine heisse Kartoffel (siehe Zusatzartikel). Auch die Ermittlungen wegen Rachemorden des FPR wurden kaum verfolgt. Der Uno-Sicherheitsrat seinerseits unterliess es, auf die Erfüllung seines Mandats zu pochen.

Den Richtern ist immerhin zugutezuhalten, dass sie die Dimension des Guerillakriegs berücksichtigten. In den Berufungsurteilen sprachen sie oft mildere Strafen aus, weil die Anklage zwar Völkermord, nicht aber dessen langfristige Planung hatte nachweisen können. Mit der Begründung wurde 2011 etwa die lebenslängliche Strafe gegen Oberst Bagosora, den militärischen Drahtzieher des Genozids an den Tutsi, auf 35 Jahre Haft herabgesetzt.

Die milderen Urteile sind Rwanda ein Dorn im Auge. Laut der Staatsdoktrin Kigalis war der Völkermord an den Tutsi seit der Hutu-Revolution von 1959 angelegt und wurde nach 1990 als konkreter Plan in Gang gesetzt. Es verwundert nicht, dass die Regierung ihre anfängliche Zustimmung, die geflüchteten Drahtzieher des Völkermords durch ein Tribunal der Vereinten Nationen aburteilen zu lassen, bald aufgab. Am Ende hatte Kigali für den ICTR nur noch negative Polemiken übrig. Ein weiterer Zankapfel ist das Bestreben Kigalis, in den Besitz der Archive des Tribunals zu gelangen. Der Uno-Sicherheitsrat lehnte die Bestrebungen bisher mit guten Gründen ab.

WG der Unfreiwilligen

Ganz zu Ende sind die Verfahren nicht. Eine letzte Berufung soll durch den sogenannten Mechanismus für übrig gebliebene Fälle vor August 2015 abgeschlossen werden. Sie betrifft Pauline Nyiramasuhuko, die einzige in Arusha angeklagte Frau , und Komplizen. Die lebenslänglich verurteilte ehemalige Familienministerin war gegen Ende des Genozids in die Universitätsstadt Butare abkommandiert worden, um den Tötungsapparat in Gang zu setzen, nachdem sich die örtlichen Behörden wochenlang der extremistischen Hutu-Regierung widersetzt hatten.

Neun Angeklagte sind weiterhin flüchtig. Ein sonderbares Überbleibsel bildet das Los von elf ehemaligen Angeklagten, die mittellos in einer Art Wohngemeinschaft in einer Villa in Arusha leben, die zu ihrem Schutz bewacht wird. Acht der WG-Angehörigen wurden freigesprochen, drei sassen ihre Strafen während der Untersuchung ab. Keiner wagt sich in die rwandische Heimat, und kein Drittland will sie aufnehmen. Sie bleiben wohl bis an ihr Ende auf die Gastfreundschaft der tansanischen Regierung angewiesen.