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Für eine andere Entwicklungspolitik!

Beitrag vom 09.04.2019

FAZ

Entwicklungshilfe auf Rädern

„World Bicycle Relief“ verteilt Fahrräder in armen Weltregionen. Von Sarah Obertreis

FRANKFURT, im April. Was braucht ein zwölfjähriges Waisenmädchen in einer Holzhütte in der sambischen Steppe, fünf Kilometer von der nächsten Schule entfernt, am dringendsten? Brian Moonga würde antworten: ein Fahrrad.

Man muss um ein paar Ecken denken, um zu verstehen, dass der Ansatz von „World Bicycle Relief“ (WBR) als unkonventionelles Konzept der Entwicklungshilfe funktionieren könnte. Deswegen waren die Hilfsorganisationen auch etwas irritiert, als Moongas Vorgesetzter Frederick Day, Mitgründer eines Herstellers für Fahrrad-Bauteile und Gründer von WBR, ihnen nach den Zerstörungen durch den Tsunami 2004 in Indonesien und Sri Lanka keine Geldspenden, sondern Tausende Fahrräder anbot. Die Hilfsorganisationen in seiner Heimat Amerika lehnten ab, aber Day flog selbst nach Sri Lanka, um die Menschen zu fragen, ob sie nicht ein Fahrrad brauchen könnten.

Konnten sie. Denn Essen, Wasser und Medikamente sind zwar lebensnotwendig, aber zerstörte Gebiete können erst wieder aufgebaut werden, wenn sich die Menschen fortbewegen, zur Krankenstation und zum Markt fahren können. Day, ein kräftiger Mann mit Dreitagebart und viel Charisma, verteilte 24000 Fahrräder in Sri Lanka, die er erst an Ort und Stelle zusammensetzen ließ. Ein neues Entwicklungskonzept war geboren.

Das erste Land, in dem Day es testete, war Sambia. Mittlerweile hat WBR dort Zehntausende Fahrräder verteilt und noch mehr verkauft, denn WBR finanziert sich zu zwei Dritteln aus Spenden, den Rest der Einnahmen generiert das eigene gemeinnützige Unternehmen, „Buffalo Bicycles Ltd“. Sambia ist Brian Moongas Heimat, er leitet das WBR-Programm dort und ist eigentlich mit seinem Jeep im straßenlosen Hinterland unterwegs, um mit Dorfbewohnern zu sprechen, die jeden Tag kilometerweit zur nächsten Wasserstelle laufen müssen. Nun aber ist Moonga auf Deutschland-Tour – und präsentiert das „Buffalo Bike“.

WBR hat es extra für die ländlichen Gegenden Afrikas geschaffen, wo es oft nur Pfade gibt und die wenigen geteerten Straßen Schlaglöcher haben, „in denen drei Menschen problemlos Platz finden würden“, wie Moonga sagt. Es hat mehrere Jahre gedauert, um die richtige Form für das „Buffalo Bike“ zu finden, und die Entwicklung ist noch lange nicht zu Ende. Vor Moonga steht gerade die zehnte oder elfte Generation des Fahrrads. Der Rahmen, der Gepäckträger und die Felgen sind aus Stahl gefertigt. Es wiegt 23 Kilo, ist also schwer, aber eben auch stabil. Auf dem Gepäckträger können entweder Milchkannen und Getreide transportiert werden – oder auch mindestens zwei Kinder oder ein bis zwei Erwachsene. Denn wo es keine Straßen gibt, gibt es auch keine Sicherheitsbestimmungen und Verkehrsregeln. Der 26-Zoll-Rahmen ist hoch, damit er nicht so schnell brechen kann. Eine Gangschaltung gibt es nicht – zu wartungsintensiv. Alle Teile des Buffalo Bikes können mit örtlichen Komponenten ersetzt werden.

Als Day seine Arbeit in Sambia begann, dachte er noch, er könne mit indischen Fahrradherstellern zusammenarbeiten, deren Fabrikate im Osten Afrikas allgegenwärtig sind. Aber in der Schlagloch-Landschaft halten die 80 Dollar teuren Räder im Schnitt kaum länger als drei Monate. Das Team von WBR nennt die Modelle mittlerweile abfällig „BSOs“ für „Bicycle Shaped Objects“, fahrradförmige Objekte. Moonga lacht selbst über die neuen Stadträder, mit denen die Deutschen fahren. In Sambia würde man damit nicht weit kommen.

Das Buffalo Bike hält die Schlaglöcher aus, aber es kostet mit 174 Dollar in Sambia auch mehr als doppelt so viel wie die „BSOs“. 2017 betrug das Pro-Kopf-Einkommen im Land 1290 Dollar. Ein Buffalo Bike können sich die meisten nicht leisten. Mehr als 500 Millionen Menschen im ländlichen Afrika gehen jeden Tag stundenlang zu Fuß. Auch deswegen hat WBRein Bildungsprogramm ins Leben gerufen: Bicycles for Educational Empowerment (BEEP). Es ist mittlerweile in 19 Ländern aktiv. Bei BEEP werden Schülern Fahrräder zur Verfügung gestellt. Sie gehen nach zwei Jahren in den Besitz der Kinder über. „Wenn wir den Schülern die Fahrräder aushändigen, sind sie immer schockiert“, erzählt Moonga. „Sie können nicht glauben, dass jemand ihnen einfach so ein Fahrrad schenkt.“

So simpel ist es natürlich nicht. Die Empfänger der Räder werden vor allem nach den Distanzen ausgewählt, die sie jeden Tag zurücklegen müssen. Das fängt bei drei Kilometern an. Manche Kinder – wie Moongas ehemaliger Schulfreund Joseph – müssen jeden Tag elf Kilometer zum Unterricht gehen. Dann wird geschaut, ob die Kinder Waisen sind, ob ihre Eltern Arbeit haben, ob eine Schwester oder ein Bruder vielleicht schon ein Fahrrad besitzt. Das alles macht nicht WBR, sondern ein „Bicycle Supervisory Committee“ im Ort. So will Days Organisation gewährleisten, dass die Einheimischen ihre Selbständigkeit behalten.

70 Prozent der Fahrräder gehen an Mädchen. „Dabei verlangen die Dorfbewohner fast immer, dass 70 Prozent der Räder an Jungs gehen sollen“, sagt Moonga seufzend. Für die Einheimischen ist es eine logische Rechnung: Jungs sind stärker, sie können weitere Strecken fahren, mehr transportieren, und in Sambia gehen sie meistens länger zur Schule als die Mädchen. Die bekommen oft Kinder, bevor sie ihre Ausbildung abschließen können. „In Deutschland ist es schlecht, wenn Mädchen jung schwanger werden“, sagt Moonga. „In Sambia reibt sich die Familie die Hände, wenn das passiert.“ Denn Schwangerschaft bedeutet Heirat – und Heirat bedeutet Mitgift für die Familien der Braut.

Das Rad ist für die Eltern ein Grund, ihre Töchter trotzdem in der Schule zu halten. Denn die ganze Familie kann es mitbenutzen. WBR hat festgestellt, dass Geburtenraten sowie Mütter- und Kindersterblichkeit sinken, wenn Schülerinnen ein Fahrrad zur Verfügung haben. Dass er nie alle zufriedenstellen kann, bereitet Moonga Kopfschmerzen: „Es kommt oft vor, dass wir nur 120 Fahrräder ausgeben können, aber es 900 Schüler gibt.“ Laut der Organisation verbessert sich die akademische Leistung eines Schülers mit Fahrrad um bis zu 59 Prozent. Auch die Anwesenheitsquote steigt. Und die Kinder sind sicherer unterwegs. Schlangenbisse und Hyänenangriffe sind in Sambia eine reale Gefahr. Mädchen leben besonders gefährlich, weil bei ihnen das Risiko von sexueller Belästigung hinzukommt.

Moonga selbst ist 160 Kilometer entfernt von der nächsten Stadt aufgewachsen. Weil sein Vater Lehrer war, hatte er eine vergleichsweise bequeme Kindheit. Aber seine Freunde, die jeden Tag stundenlang zur Schule laufen mussten, sah Moonga nach und nach sitzenbleiben oder die Schule abbrechen. Manche seiner Klassenkameraden sind nun HIV-positiv, einige sind gestorben – dabei ist Moonga erst Mitte vierzig. Bei WBR ist er einer von 123 Mitarbeitern. Bis Dezember 2018 hat die Organisation und ihr gemeinnütziges Unternehmen mehr als 447000 Fahrräder ausgeliefert.
Aber auch mit Fahrrad muss nicht alles rundlaufen. Mit 100 Kilo auf dem Gepäckträger über Schlaglöcher zu radeln ist eine Tortur. Einigen Jugendlichen wird das Fahrrad geklaut, und manche Vierzehnjährige wird doch schwanger. Aber insgesamt bringen die Räder Sambia voran.