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Beitrag vom 16.11.2019

FAZ
Kamerun

Kinder als Altersvorsorge

In Kamerun zeigt sich im Kleinen, weshalb Afrikas Bevölkerung so schnell wächst/Von Rainer Hermann, Douala

Derzeit lebt jeder sechste Erdbewohner in Afrika. Die Vereinten Nationen erwarten, dass 2050 jeder vierte in Afrika leben wird, zum Ende des Jahrhunderts werden es vier von zehn Menschen sein. Denn in ihrem jüngsten Bericht zur Entwicklung der Weltbevölkerung rechnen die Vereinten Nationen damit, dass Afrikas Bevölkerung von heute 1,3 Milliarden bis 2100 auf 4,4 Milliarden Menschen wachsen wird. Allein der Zuwachs um 3,1 Milliarden Menschen entspräche dem Fünffachen der 2100 erwarteten Bevölkerung Europas, einschließlich Russlands. Das größte Wachstum erwarten die Vereinten Nationen für Nigeria. Die Projektionen für das bevölkerungsreichste Land Afrikas sehen eine Verdopplung der Einwohnerzahl auf 400 Millionen bis 2050 vor und einen weiteren Anstieg auf 710 Millionen im Jahr 2100.

Da die meisten Länder Afrikas ihren Bürgern schon heute keine Arbeit und keine Zukunft geben können, werden die Konflikte und der Druck zur Auswanderung zunehmen. So fürchten die Nachbarn Nigerias, dass eine Migration in ihre Länder nicht friedlich verlaufen, sondern zu Konflikten führen werde. Ein Land, das davon betroffen sein wird, ist Kamerun. Bereits heute beherbergt es eine halbe Million Flüchtlinge aus Nachbarländern, die zu den 26 Millionen Einwohnern Kameruns hinzukommen.

Kamerun, das sich gerne als „Afrika im Kleinen“ bezeichnet, folgt der Entwicklung des Kontinents. Bis 2050 soll sich seine Bevölkerungszahl auf 52 Millionen verdoppeln, um danach bis zum Jahr 2100 auf 90 Millionen Einwohner weiter zu wachsen. Auch im Fall Kamerun zeigt sich, dass die Bevölkerungsentwicklung für die Staatengemeinschaft zwar dramatisch ist, deren Bewohner sich jedoch rational verhalten. Denn solange es keine funktionierende staatliche Altersvorsorge und keine ausreichende medizinische Versorgung gibt, welche die hohe Kindersterblichkeit senkt, werden junge Eltern unverändert Kinder als Sicherheit für ihre materielle Versorgung im Alter sehen. Ein Bewusstsein für die langfristigen Gefahren eines anhaltend hohen Bevölkerungswachstums ist nicht zu erkennen. Weder die Regierung noch gesellschaftliche Akteure wie die Kirchen – zwei Drittel der Bevölkerung Kameruns sind Christen – zeigen Verständnis für die Notwendigkeit von Familienplanung oder für Verhütung. Nur zur Eindämmung von Aids werden Verhütungsmittel propagiert.

Vor allem in wenig entwickelten ländlichen Regionen werden viele Geburten und Todesfälle erst gar nicht registriert. Fachleute schätzen daher, dass die tatsächliche Bevölkerungszahl in Kamerun schon über 30 Millionen liegt. Die Kindersterblichkeit ist zwar weiter hoch, sie geht aber zurück. Statistiken bleiben jedoch ohne Wirkung, solange jede einzelne Familie damit rechnen muss, dass gerade ihre Kinder nicht überleben. Dabei spielt auch eine Rolle, dass für viele der Zugang zu medizinischer Versorgung faktisch versperrt bleibt, da sie die Bestechungsgelder für die Ärzte nicht bezahlen können.

Das jährliche Pro-Kopf-Einkommen liegt in Kamerun nach Angaben der Weltbank bei 1500 Dollar und damit bei zwölf Prozent des weltweiten Durchschnitts. Einheimischen Gesprächspartnern zufolge geht es dem Land heute schlechter als noch vor 20 Jahren. Schlechter seien die Straßen und die Infrastruktur, ebenso die Schulen und das Gesundheitswesen.

Zu der Misere maßgeblich beigetragen hat das erstarrte politische System. Präsident Paul Biya ist seit 1982 im Amt. Es gibt keine Anzeichen dafür, dass der 86 Jahre alte Machthaber abtritt. Dabei hat die Opposition einen Hoffnungsträger: Maurice Kamtou. Erst jüngst wurde der Politiker wieder aus dem Gefängnis entlassen. Seit Biyas mutmaßlich manipulierter Wiederwahl im vergangenen Oktober nehmen zwar die Proteste von Kamerunern in der Diaspora zu, nicht aber im Land selbst, wo die Sicherheitskräfte regimekritische Demonstrationen verhindern.

Kritisiert wird von der Opposition, dass im stark zentralisierten Präsidialsystem Kameruns alles auf das Staatsoberhaupt zuläuft. Der Präsident trifft alle Entscheidungen, er kontrolliert die Justiz ebenso wie über seine verkrustete Regierungspartei das zahnlose Parlament. Kritisiert wird ebenfalls, dass Biya nur der Kopf eines Systems ist, in dem Pfründe auf einzelne Familien verteilt werden. Für Eigeninitiative und Wettbewerb bleibt da kein Raum. Wer nicht zum „System Biya“ gehöre und etwas werden wolle, dem bleibe nur die Migration – und zwar nach Europa. Der Aufstieg in die „Elite“ bleibe ihnen verwehrt.

Die Familien, die seit der Entlassung Kameruns in die Unabhängigkeit 1960 in führende Positionen aufgestiegen sind, haben von der Kolonialmacht das Verständnis von Herrschaft und Politik übernommen: das Land auszubeuten. Dazu gehört eine beispiellose Korruption, die auch die Schaffung von Arbeitsplätzen verhindert. Von einer „zweiten Kolonisierung“ ist im Zusammenhang mit den wirtschaftlichen Aktivitäten Chinas die Rede. China schaffe Rohstoffe außer Landes, beschäftige bei seinen Bauprojekten lediglich chinesische Arbeiter und trage nichts zu einer lokalen Wertschöpfung bei.

Ein weiterer Mühlstein sind zwei Kriege: Im Norden terrorisiert die islamistische Terrormiliz Boko Haram die Zivilbevölkerung, und im Nordwesten begehren bewaffnete Rebellen gegen die Zentralregierung auf. Bei dem Konflikt zwischen dem frankophonen Zentralstaat und den zwei anglophonen Rebellenprovinzen, die eine Dezentralisierung fordern, sind bereits mehr als 3000 Menschen getötet worden. Ein nationaler Dialog ist Anfang Oktober im Sande verlaufen. Schließlich wolle der Präsident alles in seiner Hand behalten, heißt es. Ohne eine grundlegende Änderung der politischen Ordnung wird Kamerun aber seine gewaltigen Probleme nicht lösen. Auch da gilt das Wort von Kamerun als dem „Afrika im Kleinen“.