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Für eine andere Entwicklungspolitik!

Beitrag vom 23.03.2023

Zeit Online

Wir sind die Komplizen von Zyklon Freddy

Andrea Böhm

Im südlichen Afrika zerstört ein Zyklon Städte, in Deutschland streiten Politiker über das Ende des Verbrenners. Klimaschutz hat auch mit dem kolonialen Blick zu tun.

Stellen Sie sich vor, Ihre Familie lebt seit Generationen auf demselben Stück Land. Seit ewigen Zeiten sind Sie abhängig von einem Nachbarn, der sich über die Jahrhunderte die kostbarsten Ressourcen der Gegend gesichert und enormen Wohlstand erlangt hat. Lange Zeit mit Gewalt, eine böse Sache, aber lange her. Die Machtverhältnisse bestehen immer noch, doch heute steckt Ihnen dieser Nachbar regelmäßig Geld zu, damit Sie endlich mal Ihr Haus in Ordnung bringen. Sie haben sich damit arrangiert. Auch mit dem Umstand, dass der Dreck, den Ihr Nachbar bei seinem sagenhaften Aufstieg verursacht hat, größtenteils auf Ihrem Dach landet. Bis Ihnen dann eines Tages das ganze Haus zusammenbricht.

Die Hüttensiedlung – einfach weggeschwemmt

Das ist, kurz gesagt, die Geschichte, die Fadila Njolomole gerade erlebt. Und mit ihr mehrere Millionen Menschen in Malawi, Mosambik und Madagaskar. Njolomole ist 19 Jahre alt, wohnt in Blantyre, der mit rund 800.000 Einwohnern zweitgrößten Stadt Malawis. Wohnte – muss man sagen. Denn vor anderthalb Wochen brach über Blantyre eine Sintflut herein, verursacht durch Zyklon Freddy. Njolomoles Hüttensiedlung wurde einfach weggeschwemmt, wie sie den Reporterinnen des südafrikanischen Onlinemagazins The Continent erzählte.

Freddy – der Name klingt harmlos, fast zynisch für den längsten und wahrscheinlich schlimmsten tropischen Sturm seit Beginn der Wetteraufzeichnungen. Es war innerhalb der vergangenen 14 Monate der achte Zyklon in Madagaskar und der dritte in Malawi, wo er zerstörte, was immer nach den beiden vorangegangenen wiederaufgebaut worden war.

Tropische Stürme sind ein typisches Wetterphänomen in der Region. Die menschengemachte Erderwärmung verstärkt deren Wucht und die Mengen an Regen, die niedergehen, seit Jahren erheblich. In Malawi sind – Stand Mitte dieser Woche – mindestens 500 Menschen umgekommen, darunter auch Fadila Njolomoles beste Freundin. Hunderte weitere Opfer werden unter den Erdrutschen vermutet. "Zum Trauern haben wir keine Zeit, wir müssen die Toten begraben", sagte Njolomole, während sie mit Nachbarn in den Schlammmassen nach Leichen suchte.

Die Überschwemmungen haben Äcker, Saatgut und Viehherden vernichtet in einem Land, in dem ohnehin schon fast vier Millionen Menschen auf Nahrungshilfe angewiesen waren und die Mehrheit keinen Zugang zu sauberem Trinkwasser hat. Hilfsorganisationen befürchten Ausbrüche von Cholera. Kliniken und Krankenhäuser sind entweder zerstört, beschädigt oder völlig überlaufen.

"Verwundbare Bevölkerungsgruppen, die historisch am wenigsten zum gegenwärtigen Klimawandel beigetragen haben, sind disproportional von seinen Folgen betroffen", sagen dazu lakonisch die Autor:innen des jüngsten Lageberichts des Weltklimarats IPCC. Er wurde wenige Tage nach Freddy veröffentlicht. Diese Menschen leben vor allem im Afrika südlich der Sahara, in Asien, in Mittel- und Lateinamerika. Die Zahl der Todesopfer infolge von Überschwemmungen, Dürren und Stürmen in solchen Regionen ist nach Angaben des IPCC in den vergangenen zehn Jahren um das 15-Fache höher gewesen.

Jeder und jede weiß – oder kann es wissen, dass alle notwendigen Maßnahmen auf dem Tisch liegen, um die Erwärmung des Planeten bis 2100 auf 1,5 Grad zu begrenzen und damit Artensterben, den Anstieg des Meeresspiegels, Dürren, Fluten, Waldbrände, Hitzewellen wenigstens einigermaßen zu mindern. Für diese Weichenstellungen laut IPCC bleiben noch exakt sieben Jahre Zeit. Bis 2030 dürfen nur noch halb so viele CO?-Emissionen ausgestoßen werden, bis 2050 muss die Menschheit klimaneutral produzieren und konsumieren.

Fadila Njolomole wäre dann 46 Jahre alt, vorausgesetzt, sie hat die Serie von Dürren, Zyklonen und Hungersnöten überlebt, die bis dahin in Malawi wohl der Normalzustand wäre. Denn wer es wissen will, weiß auch, dass die Weltgemeinschaft derzeit deutlich an diesem Ziel vorbei- und auf eine Erwärmung von über drei Grad zusteuert. In diesem Fall werden zahlreiche Inselstaaten unbewohnbar, das Leben in ohnehin trockenen und heißen Regionen wird unmöglich.

Eine neue Form des Kolonialismus – nur grüner

Schalten wir kurz um von Blantyre nach Berlin: Hier wird gerade über das Ende des Verbrennermotors und den Austausch alter Öl- und Gasheizkessel gestritten, während die Bundesregierung weltweit nach Flüssiggasquellen sucht. Kommentatoren, denen soziale Gerechtigkeit bislang eher selten am Herzen lag, warnen vor hohen Heizungsrechnungen für ärmere Familien und vor Panikmache beim Klimaschutz, weil die ewige Ankündigung des Weltuntergangs durch die Erderwärmung doch niemanden weiterbringe.

Diese Debatten muss man zweifellos führen. Aber man kann sie nicht führen, ohne sich tagtäglich klarzumachen, dass durch die Erderwärmung seit Jahrzehnten bereits Welten untergehen. Nur liegen die Welten mehrheitlich nicht in den Ländern, die die Klimakrise maßgeblich verursacht haben. Sondern in den Ländern jener Menschen, deren Leben als weniger wertvoll, als entbehrlich betrachtet wird.

Deshalb ist die Rede von "der" Menschheit oder "der" Weltgemeinschaft eine Nebelkerze. Wir sitzen nicht im selben Boot. Der afrikanische Kontinent ist seit Beginn der Industrialisierung für weniger als drei Prozent der Treibhausgase verantwortlich. Die reichsten zehn Prozent der US-Bevölkerung produzieren jedes Jahr 56,5 Tonnen CO? pro Person, gefolgt von den reichsten zehn Prozent in China mit knapp 30 Tonnen und der EU mit rund 24 Tonnen. Selbst die Ärmsten in den USA, China oder Europa verursachen um ein Vielfaches mehr an Emissionen, vor allem CO2, als ein Mensch in Malawi. Dessen Fußabdruck liegt bei 0,09 Tonnen pro Jahr. Aber sein Risiko, an den Folgen der Erderwärmung zu sterben, ist um ein Vielfaches höher als das eines Menschen in Deutschland.

Diese Zusammenhänge sind nicht neu. Und natürlich ist beim Klimaschutz gerade in den reichen Ländern einiges passiert. Aber alle Vorhaben – vom Elektroauto bis zum Kohleausstieg – stehen unter der politischen Maßgabe, der eigenen Bevölkerung möglichst wenig wehzutun. Also möglichst keine einschneidenden Veränderungen unserer Lebens- und Konsumweise zu verlangen. Die Sicherung des eigenen Wohlstands, nunmehr möglichst CO2-arm, hat nach wie vor Priorität.

Forscher:innen, Aktivist:innen, Intellektuelle und NGOs aus dem Globalen Süden haben diese Politik in einem jüngst veröffentlichten Manifest als "Dekarbonisierung der Reichen" auf Kosten der Armen bezeichnet. Mit dem Griff nach Rohstoffen für die Energiewende in Europa, den USA oder auch China, so die Unterzeichner:innen, setze sich das alte Modell der Ressourcenausbeutung fort. Mit der Corona-Pandemie und unter dem Eindruck des russischen Angriffskrieges in der Ukraine habe sich "eine neue Normalität" herausgebildet: "die Sicherung globaler Lieferketten". Sei es für Impfstoffe, um den Schutz der eigenen Bevölkerung auf Kosten anderer zu garantieren. Sei es für Erdgas und Erdöl, um die Energiesicherheit zu gewährleisten. Sei es für Wasserstoff, Kobalt und Lithium aus Namibia, dem Kongo oder Chile, um in Europa, China und Nordamerika sauberen Strom und E-Autos zu produzieren. Die Unterzeichner:innen bezeichnen das als neue Form des Kolonialismus, nur eben grüner – und oft mitgetragen von politischen Eliten im Globalen Süden.
Man kann sich über einiges in diesem Manifest streiten. Aber es kommt einer planetaren Ethik, die für die Bewältigung der globalen Krisen (und der Umsetzung der Empfehlungen des Weltklimarats) nötig wäre, sehr viel näher als die aktuelle Politik und die aktuellen Debatten in Washington, Brüssel oder Berlin.

Wann fangen wir an, solche Kritik hier ernsthaft zu diskutieren? Wohl erst dann, wenn wir anerkennen, dass die Opfer von Zyklonen in Madagaskar oder Malawi auch auf unser Konto gehen. Dass wir Komplizen von Freddy waren.