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Für eine andere Entwicklungspolitik!

Beitrag vom 29.03.2023

NZZ

«Wir wollen eine neue Kolonialisierung verhindern» – wie ein chinesischer Supermarkt in Kenya beinahe eine diplomatische Krise auslöste

Ein chinesischer Geschäftsmann eröffnet in Nairobi eine Mall mit günstigen Produkten. Daraus wird ein Streit, der viel über die Präsenz Chinas in Afrika verrät.

Samuel Misteli

Die Bedrohung hat drei Etagen und unzählige Regale, vollgestopft mit allem, was in einen Haushalt passt. Tassen, Teller, Wischmopps, Spielzeug, Kühlschränke, Teppiche, Zimmerpflanzen. Vor den Kassen stauen sich die Kunden. Vor einigen Wochen las man in den Medien, eine junge Frau sei in der Schlange ohnmächtig geworden vor Erschöpfung. Ein Mann habe auf eine Frau eingeschlagen, weil sie ihn nicht vordrängeln liess.

Die Bedrohung für Kenyas Kleinhändler heisst China Square. Es ist ein Name, der nichts verbirgt: China Square ist ein Supermarkt in chinesischem Besitz mit chinesischen Importgütern, in dem es alles gibt und vieles günstiger ist als bei einheimischen Händlern. Deshalb ist China Square Stadtgespräch in Nairobi, Kenyas Hauptstadt und Ostafrikas Wirtschaftsmetropole. Doch damit nicht genug: Minister zerreissen sich den Mund über die Chinesen; Händler protestieren mit Vuvuzelas und Schildern, auf denen «Stop China Invasion» steht; Diplomaten versuchen, die Wogen zu glätten.

Um China Square tobt ein Streit, bei dem es um mehr geht als um günstige Wischmopps. Es geht um die Frage, was passiert, wenn Chinesen in Afrika nicht nur Flughäfen und Strassen finanzieren und afrikanische Händler mit Exportgütern beliefern. Sondern selber als Verkäufer auftreten und so in Konkurrenz treten zu den Afrikanern. In Nairobi behaupten einheimische Händler, sie würden gegen einen neuen Kolonialismus kämpfen. Und für die Zukunft ihres Landes.

Ein Chinese kämpft für Kenyas Konsumenten

Das Drama begann Ende Januar. China Square wurde in einem Gebäude eröffnet, das zuvor fast leer gestanden hatte. Auf die Eröffnung folgte die Aufregung. Kunden überrannten den Laden. Manche filmten sich dabei und stellten Videos ins Internet mit Titeln wie: «Im Innern der MEISTGEHYPTEN MALL in Kenya». Die Videos wurden Hunderttausende Male angeklickt. Schlagzeilen verkündeten: «China Square ist der neuste Lieblingsort für fast alle Nairobier.»

Auch der Besitzer von China Square trat auf, beschwingt durch den Run auf sein Geschäft. Bilder zeigten einen strahlenden jungen Mann im roten Polo-Shirt. Lei Cheng sagte, er beschäftige 130 Angestellte, an schlechten Tagen nehme er 10 Millionen kenyanische Shilling ein, das sind 70 000 Franken. Er erzählte eine Gründungslegende: Im Herbst sei er für eine Reise nach Kenya gekommen. Er habe sich in das Land verliebt, doch etwas habe ihn gestört: Die vielen chinesischen Importgüter in den Supermärkten seien überteuert gewesen. Er habe eine Geschäftsgelegenheit gesehen.

Nun war Lei Cheng zurück und präsentierte sich als Kämpfer für Kenyas Konsumenten: Er sei gekommen, um das «Monopol» zu brechen.

Damit schuf er sich Feinde.

China Square schliesst – und öffnet wieder

Unter den Kleinhändlern im Zentrum von Nairobi formierte sich Widerstand gegen den Chinesen am Stadtrand. Hunderte von Händlern zogen vor das Parlament, verlangten von den Politikern, sie vor der Konkurrenz zu schützen. Aus der Regierung kam Unterstützung: Handelsminister Moses Kuria liess verlauten, er habe dem Besitzer des Gebäudes, in dem China Square eingemietet ist, angeboten, den Vertrag zu übernehmen und die Räume kenyanischen Händlern zu überlassen. «Wir heissen chinesische Investoren in Kenya als Produzenten willkommen», teilte der Minister mit. «Aber nicht als Händler.»

Gleichzeitig beschlagnahmten die Behörden Waren im Wert von 350 000 Franken von China Square. Es hiess, es bestehe Verdacht auf Urheberrechtsverletzung.

Lei Cheng, der zuvor so gut gelaunte Geschäftsmann, verstummte. Und schliesslich stellte er am 26. Februar eine Mitteilung online. China Square schliesse auf unbestimmte Zeit.

Doch die Schliessung machte China Square erst recht zum Politikum. Nun mischte sich China ein. Die Botschaft in Kenya rief die kenyanische Regierung in einem Statement dazu auf, chinesische Firmen und Bürger zu schützen. Wu Peng, der höchste Afrika-Diplomat im chinesischen Aussenministerium, schrieb auf Twitter: Ein verlässliches Investitionsumfeld sei entscheidend für die gesunde Entwicklung bilateraler Beziehungen.

Hinter verschlossenen Türen fanden Gespräche statt. Und am 6. März war China Square wieder offen.

«Die Chinesen sind hier fürs Geschäft»

Wenige Tage nach der Wiedereröffnung ist der Parkplatz vor China Square überfüllt, beim Eingang schiessen grinsende Kunden Selfies. In den Gängen schieben sich die Menschen an langen Reihen identischer Produkte vorbei. Die Kassen piepen ohne Pause.

In der Papeterieabteilung dreht Annah Mutisya eine Packung Buntstifte in den Händen. Sie sei gekommen, um Preise zu vergleichen, sagt sie, sie handelt mit Papeteriewaren. Die Stifte seien ein paar Shilling günstiger als im Stadtzentrum. Doch der grössere Vorteil sei, dass sie hier alles an einem Ort finde. Anders als im Zentrum, wo sie durch zahllose Läden navigieren muss.

Eine Etage tiefer filmt Jerusha Momba mit ihrem Handy gerade ein Regal mit Trinkflaschen, später wird sie das Video auf ihren Youtube-Kanal laden. Sie hat wenig Verständnis für die Klagen der einheimischen Händler: «Es braucht Wettbewerb», sagt sie. «Und die Chinesen sind hier fürs Geschäft, nicht um uns auszubeuten.»

Das sieht man 18 Kilometer weiter südlich im Stadtzentrum anders. Dort sitzt David Njoroge im Restaurant eines billigen Hotels beim Mittagessen, man hört die Rufe von Händlern und das Knattern von Motorrädern draussen. Njoroge handelt mit Lampen und anderem Elektrogerät, einer seiner Läden liegt wenige Meter entfernt. Weil Njoroge sich von der Regierung und der Vereinigung der Händler im Stich gelassen fühlt, überlegt er, zusammen mit Verbündeten eine neue Organisation zu gründen.

Das Wort, das Njoroge am häufigsten verwendet, ist «Bedrohung». Er sagt: «Wir wollen verhindern, dass wir auf eine neue Weise kolonialisiert werden.» Das heisst durch chinesische Händler wie Lei Cheng, die einen Marktvorteil haben. Gegenüber von Njoroge sitzt Lilian Ngahu, sie handelt mit Haushaltwaren und ist eine der Verbündeten. Sie sagt: «Ich will nicht eines Tages aufwachen und Angestellte sein bei jemandem, der nicht aus meinem Land ist. Ich will unabhängig sein.»

Wenn man Njoroge und Ngahu zuhört, dann geht es bei China Square nicht um tiefe Preise. Es geht um die Souveränität des Landes.

Kenyas Präsident wollte Chinesen deportieren

Die beiden Händler sagen, wegen China Square sei den Händlern im Zentrum rund die Hälfte ihrer Einnahmen weggebrochen. Das mag übertrieben sein, aber Lei Cheng verfügt über Vorteile, die die Kenyaner schwer wettmachen können. Er dürfte direkten Zugang zu Fabriken in China haben, während die Kenyaner dieselben Güter über chinesische Zwischenhändler erhalten, die Profit abschöpfen. Anders als die Kenyaner muss Cheng als Chinese auch nicht Dollar kaufen, um Güter zu beschaffen. Das wiegt gerade besonders schwer, weil die kenyanische Währung laufend an Wert verliert – und Händler wie Njoroge und Ngahu Kaufkraft.

Deshalb verlangen die Kenyaner, dass ihre Regierung eingreift. «Wir brauchen ein Spielfeld, das für alle gleich ist», sagt Njoroge. Das heisst Gesetze, die lokale Händler schützen.

Für die kenyanische Regierung sind solche Forderungen unangenehm. Sie steht wie die meisten afrikanischen Regierungen in Chinas Schuld. Sie hat sich unter anderem mit chinesischen Krediten über 5 Milliarden Dollar eine Eisenbahnlinie finanzieren lassen, die die Hafenstadt Mombasa mit Nairobi verbindet.

Der chinesische Einfluss weckt Antipathie. Der seit September 2022 amtierende Präsident William Ruto hatte sich das im Wahlkampf zunutze gemacht. Er kündigte an, Chinesen, die Kenyanern Jobs wegnähmen, in Flugzeuge zu packen und auszuschaffen. Die Grossmäuligkeit hat ihn nun rasch eingeholt. Zu China Square schweigt der Präsident.

David Njoroge sagt: «Wenn du China so viel Geld schuldest wie unsere Regierung, bist du wie ein Sklave.»

Als China Square geschlossen war, fanden Gespräche statt, an denen unter anderem die chinesische Handelskammer in Nairobi teilnahm. Njoroge und Ngahu sagen, seit der Wiedereröffnung seien die Preise in China Square leicht höher. Es müsse einen Deal gegeben haben. Die Chinesen haben kein Interesse daran, als gefrässige Neokolonialisten angeprangert zu werden. Doch zu den Gesprächen äussert sich niemand. Lei Cheng sagt am Telefon, er halte sich künftig heraus aus der Öffentlichkeit. Er habe genug Publizität gehabt.

David Njoroge und Lilian Ngahu dagegen wollen ihre Botschaft an die Leute bringen. Er sagt: «Wir sollten über günstige Preise hinausdenken. Wer billig einkauft, sorgt dafür, dass einheimische Händler verdrängt werden. Leute werden arbeitslos. Fabriken müssen schliessen. Und dann sind wir abhängig von diesen Kerlen.»

Ngahu sagt: «Wir kämpfen für unsere Zukunft.»
Kopieren statt bekämpfen?

Doch vielleicht ist dieser Kampf schon entschieden. China ist der grösste Handelspartner Afrikas, das Handelsvolumen ist fünfmal so gross wie jenes mit den USA. 2022 war ein neues Rekordjahr. Doch der Handel ist einseitig, Kenya zum Beispiel importierte im Jahr 2020 25 Mal so viel aus China, wie es exportierte. Mit dem Handelsvolumen wuchs auch die Zahl der Chinesinnen und Chinesen auf dem Kontinent. Niemand weiss genau, wie viele es sind. Die Schätzungen liegen zwischen einer halben und 2 Millionen.

Afrikanische Regierungen arbeiteten in den letzten drei Jahrzehnten gerne mit Chinesen zusammen, weil diese oft grosszügiger und unkomplizierter finanzierten als die westlichen Geldgeber. China schleppte auch nicht den kolonialen Ballast der Europäer mit, sondern war ein Land, das selber daran war, weite Teile seiner Bevölkerung aus der Armut zu hieven.

In vielen afrikanischen Ländern ist die Euphorie verschwunden. Die Schuldenlast hat zugenommen und oft auch die Zahl der chinesischen Migranten. Manche afrikanische Regierungen fragen sich, ob die Chinesen inzwischen so stark sind, dass sie Einheimische in die Armut stossen, statt sie daraus zu befreien.

Wie damit umgehen? In Kenya versucht die Regierung die Frage gerade wegzuschweigen. Nur Handelsminister Moses Kuria poltert weiter. China Square sei eine «Verschwörung der Mittelklasse» gegen die kleinen Leute, sagte er nach der Wiedereröffnung.

Es ist an David Njoroge, Lilian Ngahu und den anderen Händlern, einen Umgang zu finden mit der chinesischen Konkurrenz. Nach dem Gespräch stehen die beiden in der Strasse vor dem Hotel; Händler rollen Schubkarren vorbei, darauf gestapelt sind Kartons mit der Aufschrift «Made in China». Njoroge und Ngahu waren schon in China, sie kamen beeindruckt zurück. Njoroge sagt, das Land sei eine Supermacht.

Und weil Supermächte schwer zu besiegen sind, haben die Händler eine Idee, wie sie bestehen können. David Njoroge sagt, sie würden gerade prüfen, ob sich das Modell China Square auch im Stadtzentrum realisieren liesse: alle möglichen Produkte unter einem Dach, sauber sortiert. Ein Kenya Square.

Vielleicht ist das die Lösung. Zu tun, was die Chinesen selber erfolgreich taten, als sie begannen, sich aus der Armut zu stemmen: die Erfolgreichen kopieren.